Oppositioneller Komponist in deutscher Bürokratie-Zwickmühle

August 30, 2024
3 mins read
Der Komponist Vladimir Tarnipolski (Foto: Orlova)

Deutsche Behörden erwarten vom russischen Komponisten Vladimir Tarnipolski, nach Russland zu reisen, um sein Visum zu verlängern – das würde für den oppositionellen Künstler aber gefährlich. Ein offener Brief verlangt Hilfe von der deutschen Politik.

Der russische Komponist Vladimir Tarnopolski hat als Reaktion auf den Ukraine-Überfall Russlands sein Heimatland verlassen und ist nach Deutschland geflohen. Nun droht ihm am 10. September die Abschiebung nach Russland – oder ein Berufsverbot. Der Grund: Deutsche Behörden erwarten von Tarnopolski, nach Russland zurückzukehren, um ein weiteres Visum für seinen Aufenthalt in Deutschland zu beantragen oder ein Asylverfahren mit ungewissen Ausgang anzustreben. In diesem Fall würde er zunächst einmal mit einem Beschäftigungsverbot konfrontiert sein.

Nun hat die ehemalige Russland-Korrespondentin und jetzige Feuilleton-Redakteurin der FAZ, Kerstin Holm, einen offenen Brief geschrieben und an das Bundesamt für Kultur, das Außen- und das Innenministerium geschrieben sowie an die zuständigen Behörden des Landes Bayern. Aus tiefer Solidarität mit Vladimir Tarnipolski dokumentiert BackstageClassical (ebenso wie zuvor bereits die NMZ) diesen Brief.

Sehr geehrte Damen und Herren,

Wir bringen unsere tiefe Besorgnis über die drohende Abschiebung aus Deutschland oder eine mögliche Umsiedlung unseres Kollegen, des Komponisten Vladimir Tarnopolski, und seiner Familienangehörigen in ein Flüchtlingslager zum Ausdruck. Tarnopolski, seine Frau und sein Sohn hatten Russland im März 2022 kurz nach dem Beginn des Angriffskrieges auf die Ukraine und der internen Repression verlassen.

Vladimir Tarnopolski ist einer der bedeutendsten zeitgenössischen russischen Komponisten, dessen Werke von bekannten Musikern und Orchestern auf den größten Konzert- und Opernbühnen in Deutschland, in anderen europäischen Ländern sowie in den USA aufgeführt werden.

Als Professor für Komposition am Moskauer Tschaikowsky-Konservatorium hatte er entscheidenden Einfluss auf den Entstehungsprozess einer neuen Kompositionsschule in Russland. Er initiierte die Schaffung grundlegender Institutionen für zeitgenössische Musik in Russland: das erste Zentrum für zeitgenössische Musik im Land, das Ensemble „Studio für Neue Musik“ und das internationale Festival „Moscow Forum“.

Mit seinem Ziel, neue russische Musik in den europäischen Kulturkontext zu integrieren, war er fast 30 Jahre lang eine Schlüsselfigur bei der Entwicklung künstlerischer Kontakte in der Sphäre der zeitgenössischen Musik zwischen Russland und europäischen Ländern, vor allem zwischen Russland und Deutschland. Dank seiner langjährigen Bemühungen traten viele berühmte deutsche Musiker und zeitgenössische Musikensembles bei den von ihm geleiteten unabhängigen Festivals in Russland zum ersten Mal auf, fanden Hunderte russische Erstaufführungen von Werken deutscher Komponisten sowie zahlreiche Vorträge und Meisterkurse statt.

Vladimir Tarnopolski ist seit vielen Jahren tief in das künstlerische und gesellschaftliche Leben Deutschlands integriert. Er ist Mitglied des Deutschen Komponistenverbandes, Fellow des Wissenschaftskollegs zu Berlin, Mitglied der Sächsischen Akademie der Künste, Träger des Paul-Hindemith-Komponistenpreises sowie anderer internationaler Auszeichnungen. 2023 wurde ihm der Preis der Christoph und Stephan Kaske Stiftung verliehen.

Nur vier Tage nach Beginn des Angriffs auf die Ukraine gab Tarnopolski ein Antikriegskonzert im Boulez-Saal in Berlin. In den zwei Jahren seines Aufenthalts in Deutschland schrieb er fünf große, leidenschaftlich gegen den Krieg gerichtete Musikstücke, die in den bekanntesten Konzertsälen von München (Prinzregententheater), Hamburg (Elbphilharmonie), Frankfurt (Alte Oper), Wien (Konzerthaus), wie auch Berlin, Freiburg, Dresden sowie in österreichischen, norwegischen, italienischen und amerikanischen Städten aufgeführt wurden. In mehreren Städten Deutschlands nahm er an der Tagungsreihe „Kunst und Verantwortung“ teil; auf Einladung der Musikhochschulen München und Dresden leitete er Zyklen von Kompositionsseminaren.

Im Moment wird Herrn Tarnopolski vorgeschlagen, nach Russland zurückzugehen, um ein anderes Visum zu beantragen – wo ihm und seinen Familienmitgliedern nur aufgrund seiner antikriegerischen Gesinnung Strafverfolgung droht – oder ein Asylverfahren mit einem ungewissen Ausgang anzustreben – wobei ihm die Möglichkeit zum künstlerischen Schaffen geraubt wird, da in dem Fall ein Beschäftigungsverbot besteht und somit unmöglich ist, als Musiker zu arbeiten. Paradoxerweise wird einem Komponisten, der Russland aufgrund der Unmöglichkeit künstlerischer FREIHEIT verlassen hat, in Deutschland nahegelegt, das künstlerische Schaffen ganz aufzugeben. So wird einer der bedeutendsten Stimmen russischer Musik aufgefordert, zu schweigen.

Es fällt auf, dass Hunderte Vertreter der russischen Kultur verschiedener Generationen und mit unterschiedlichsten künstlerischen Erfahrungen in Deutschland Aufenthaltstitel erhalten und ihre berufliche Tätigkeit in Deutschland fortsetzen. Und es kommt uns seltsam vor, dass Vladimir Tarnopolski nicht darunter ist. 

Wir wenden uns mit der Bitte an die zuständigen Behörden des Freistaates Bayern und die Bundesbehörden:

Unter Berücksichtigung der großen sozialen und künstlerischen Bedeutung der schöpferischen Tätigkeit von Vladimir Tarnopolski, seines bedeutenden persönlichen Beitrags zur Entwicklung der kulturellen Zusammenarbeit zwischen Russland und Deutschland, und in Anbetracht der in seinen Werken und öffentlichen Äußerungen zum Ausdruck gebrachten Antikriegshaltung, ihm und seinen Familienangehörigen als Sonderfall einen Rechtsstatus zu verleihen, der es ihm ermöglicht, seine bürgerlichen Grundrechte – den Aufenthalt in Deutschland ohne Beschränkungen seiner beruflichen schöpferischen Tätigkeit und Bewegungsfreiheit – wahrzunehmen und auch die Gefahr einer Abschiebung ausschließt.

BackstageClassical

BackstageClassical bringt Ihnen Debatten und Nachrichten aus der klassischen Musik. Die Seite ist kostenfrei. Bestellen Sie unseren Newsletter oder unterstützen Sie unseren unabhängigen Musikjournalismus durch Ihre Spende.

Fördern

Artikel auf BackstageClassical sind kostenlos. Wir freuen uns, wenn Sie unabhängigen Klassik-Journalismus fördern.

Mehr aktuelle Artikel

Malkovich gibt Celibidache

Der Film »Die gelbe Krawatte« über den Dirigenten Sergiu Celibidache mit John Malkovich ist abgedreht – noch ist nicht klar, wann er erscheint.

Gheorghius neuer Tosca-Skandal

Angela Gheorghiu unterbrach die Zugabe eines Tenors in Korea. Nun entschuldigt sie sich beim Publikum. Ein Video zeigt den Buhsturm für die Sängerin.

Kassel feuert Verwaltungsdirektor

Kassels Verwaltungsdirektor Dieter Ripberger war erst im Februar aus Tübingen gekommen – nun wehrt er sich gegen seien Rauswurf. Er bekommt Rückendeckung von Intendant Florian Lutz und dem Ensemble.

Kaufmanns Erl kuschelt mit Currentzis

Teodor Currentzis wird in Erl sein neues UTOPIA-Programm erarbeiten, dafür lädt das Festspielhaus »ausgewählte Gäste« zu einem »nicht öffentlichen Konzert«.

Happy Birthday, Arnold!

Heute feiert Arnold Schönberg 150. Geburtstag. BackstageClassical blickt auf seine jüdischen Einflüsse und thematisiert sein Leben in einem Podcast.

Don't Miss