Die SS hat das norwegische Dorf Telavåg dem Boden gleich gemacht. Nun stellt das Bergen International Festival die Geschichte ins Zentrum. Eine Reportage von Antonia Munding.
Erst hinter der letzten Biegung des schmalen Pfads, der von der Steilküste zum Wasser führt, entdeckt man die blassgrünen Häuschen. Wie brütende Seevögel ducken sie sich in die felsige Bucht. Innen stehen verrostete Köderdosen, auf einer alten Porzellantasse reckt Neptun seinen Dreispitz in die Höhe – Fundstücke, auf einem morschen Fensterbrett. Die Steinplatten auf den Dächern fügen sich nahtlos in das Graugrün der zerklüfteten Landschaft. Eine perfekte Tarnung – und der Grund, warum die Fischerhütten auch heute noch stehen – als stille Zeugen eines der größten Massaker auf norwegischem Boden.
Denn am 30. April 1942 wurde das Dorf Telavåg im Südwesten der Insel Sotra, 39 Kilometer von Bergen entfernt, als Rache-Aktion der SS dem Erdboden gleichgemacht. Heute verbindet eine Brücke Telavåg mit dem Festland. Anderthalb Stunden dauert die Fahrt von Bergen mit dem Bus.
Dass man als Besucherin des Bergen International Festival eine Route abseits der Touristenströme kennenlernt, dazu das Schicksal eines Dorfes, das symptomatisch für die traumatische Verknüpfung Deutschlands und Norwegens steht (auf beiden Seiten immer noch weitgehend unbekannt), ist das Verdienst von Lars Petter Hagen, der das Festival seit 2022 leitet und nun für die 72. Ausgabe zum ersten Mal eigenständig künstlerisch verantwortet. Die Geschichte des Dorfes steht auch im Zentrum einer der bewegendsten Aufführungen des Festivals – einer Komposition von Håkon Berge. Aber davon gleich mehr.
Noch vor einigen Jahren wurde dem größten Mehrspartenfestival des Nordens, das 1953 nach dem Vorbild Salzburgs gegründet wurde, elitäre Abgehobenheit vorgeworfen. Das hat sich gewaltig geädert: Zu Eröffnung mit dem norwegischen Staatsminister Jonas Gahr Støre haben Besucher und Bergener nun in einem bunten Chor Solveigs Lied geschmettert. Das Lied der geduldig Wartenden aus Edvard Griegs berühmter Peer Gynt-Sinfonie ist längst nicht mehr ganz so berühmt, und allgemeines Kulturgut erst Recht nicht. Nun lernen es Schülerinnen mit und ohne Migrationsgeschichte und Festival-Besucher aus aller Welt neu kennen – mit Textzetteln in der Hand, aber vor allem mit ansteckendem Enthusiasmus.
Lars Petter Hagen will das Festival zum kosmopoliten Treffpunkt ausbauen: Lokale und internationalen Stimmen, Stars und junge Talente sollen hier Raum bekommen, um Fragen nach nationaler und künstlerischer Identität in möglichst vielen Facetten zu stellen, vielleicht auch zu beantworten.
Dazu gehören nicht nur Experimente mit klassischen Formen und neue Wege des Zuhörens wie in Øyvind Torvunds Uraufführung, in der sich die riesige, mehrstöckige Grieg-Halle in eine sinfonische Skulptur verwandelt, und die Schritte des Publikums selbst zum Teil der Komposition werden. Es findet auch eine Befragung der politischen Haltung statt und eine Debatte um die Freiheit der Kunst, etwa wenn Griegs berühmtes a-Moll Konzert – das Signatur-Stück des Festivals seit sieben Jahrzehnten – von der erst 16jährigen Russin Alexandra Dovgan und dem israelischen Dirigenten Ilan Volkov aufgeführt wird.
Zurück zur Tragödie Telavågs, die Komponist Håkon Berge als zweiten Teil einer Trilogie komponiert hat. Sie nimmt einen zentralen Platz beim Festivals ein, denn die musikalische Erinnerungsarbeit ist Festspiel-Intendant Hagen ein wichtiges persönliches Anliegen und Teil seiner eigenen Arbeit als Komponist.
Nachdem das neutrale Norwegen im Frühjahr 1940 von den Nazis besetzt worden war (unter anderem, um den Zugang zu kriegswichtigen Rohstoffen wie Eisenerz zu sichern), formierte sich Gegenwehr. Die Abgeschiedenheit Telavågs auf der langgestreckten Insel Sotra schien ideal, und so entwickelte sich das Dörfchen zum Knotenpunkt des Widerstands. Von hier wurden norwegische Nazi-Gegner über die Shetland-Inseln zur Ausbildung nach England geschleust. Als Widerstandskämpfer kehrten sie in Booten voller Waffen zurück. Im Haus des Fischers Lauritz Telle und seines Sohnes Lars vermutete die Gestapo eine geheime Funkstation und Fluchthelfer, sie entdeckten dabei zwei norwegische Untergrundkämpfer, die gerade aus England angekommen waren.
Bei einem Schusswechsel wurden einer der Kämpfer, aber auch der Gestapo-Chef für den Bereich Bergen, getötet. Wenige Tage später umzingelten SS-Soldaten das Dorf, trieben die Bewohner auf eine Anhöhe und zwangen sie zuzusehen, wie ihre Häuser gesprengt wurden. Männer und Jungen ab 16 Jahren wurden ins KZ Sachsenhausen deportiert, knapp die Hälfte von ihnen kehrte niemals zurück. Frauen und Kinder brachte man in ein Internierungslager nach Framnes in Hardanger. Zeitweise wurden die Kinder von ihren Müttern getrennt. Viele von ihnen hätten dieses Trauma später nicht verarbeitet, erklärt Tone Kolsrud Schulstock, die die Besucher im Museum empfängt. Überhaupt sei über die Tragödie lange geschwiegen worden. Denn nicht jeder sympathisierte mit den Widerstandskämpfern.
Von der Aussichtsplattform des Museum überblickt man den Hauptteil des Dorfes, das idyllisch an einem Fjord liegt und 1946 wieder aufgebaut wurde. Darin sind die wenigen Dinge, die vor der Vernichtung gerettet werden konnten, ausgestellt: zwei Boote, die die Kämpfer von der norwegischen Küste nach England brachten, eine goldene Hochzeitskrone von 1881, ein alter Radio-Transmitter und das Neue Testament von Lars Telle, in das er seiner Familie letzte Abschiedsworte vor der Hinrichtung hinterließ.
Die Ereignisse in Telavåg berühren auch die Kindheit des Komponisten Hakon Berge, der die Tragödie des Dorfes als zweiten Teil einer Trilogie für die Festspiele vertont hat. Unmittelbar vor der Uraufführung in der 750 Jahre alten Hakon Halle erzählt er, wie einer seiner Onkels als junger Mann mit dem Shetland-Bus nach England gebracht wurde, einen anderen Onkel schossen SS-Soldaten an. Auch Berges Mutter beteiligte sich am Widerstand gegen die Deutschen, sie arbeitete als Waffenkurierin im Osloer Untergrund.
Im Publikum sitzen nicht nur die Museumsmitarbeiterin Tona, sondern auch ein Mann mit weißem Haar, der Hakon Berge nach der Premiere umarmt. Er habe als Kind die Sprengung des Dorfes mitansehen müssen, sagt er, Tränen in den Augen. Endlich erzähle jemand seine Geschichte.
Berge hat die Telavåg Tragedy der Militärkapelle der norwegischen Seestreitkräfte gewidmet. Eine musikalische Stärkung der Opfer? Berge nickt zögerlich. Ja, vielleicht. Zumindest unterstütze sie die Perspektive der Dorfbewohner in allen musikalischen Facetten. Fahle Flötentöne und scharfe Blech-Akzente untermalen historische Radio-Aufzeichnungen, die von den Aktivitäten der Widerstandskämpfer berichten. Ein Kammerchor leiht sowohl den Nazi-Schergen – auf Deutsch – als auch den verzweifelten Dorfbewohnern in Nynorsk seine Stimmen.
Sieben Solisten, zwei Paare, ein Arzt, zwei Kinder stehen an der Rampe. Berge geht es nicht um dokumentarische Genauigkeit, sondern um exemplarische Schicksale und deren Schmerz, erklärt er. Sein Stück ist ein düsteres Oratorium, dessen spröde Deklamatorik manchmal dramatisch ausbricht und von den Zuhörern verlangt, in der scheinbaren Gleichförmigkeit die feinen Änderungen der Motive wahrzunehmen – die Dorfnachbarn zu Helden, Mitläufern oder Verrätern machen. Dann plötzlich fegt die Klanggewalt der Militärkapelle das Publikum von den Stühlen, erzählt in dumpfen Trommelwirbeln und kreischenden Posaunen von der Sprengung des Dorfes.
Im alten Gemäuer der Hakonshalle entfaltet Berges Musik eine bezwingende Wirkung. Denn sie bringt Verbindungen zum Klingen, die an das nationale auch künstlerische Selbstverständnis Norwegens rühren. Die von König Håkon um 1250 errichtete Festhalle verfiel im Laufe der Jahrhunderte, sie diente als Kornspeicher, bis sie 1873 vom norwegischen Landschaftsmaler Johan Christian Clausen Dahl als Kulturgut wieder entdeckt wurde.
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Dahl war ein enger Freund Caspar David Friedrichs und wie dieser Mitglied der Dresdner Kunstakademie. Die norwegische Idee der Nationalromantik orientierte sich also früh am deutschen Vorbild. Eine Nähe, die es durchaus zu befragen gilt. Viele norwegische Komponisten seien Mitglieder der Nationalsozialistischen Partei gewesen, sagt Lars Petter Hagen, aus Gründen, die man rückwirkend auch mit Edvard Grieg erklären muss. Denn wie Grieg (zu dessen Lebzeiten es keine akademische musikalische Ausbildung in Norwegen gab) studierten auch spätere norwegische Komponisten-Generationen in Deutschland und wurden Teil der deutschen Kultur.
Es ist ein wichtiges künstlerisches Zeichen, der musikalischen Aufarbeitung des norwegischen NS-Traumas nun einen prominenten Platz im Festivalprogramm einzuräumen. Gerade in Zeiten neuer globaler Konflikte und Grenzziehungen. Ein geflügeltes Wort der Militärkapellen-Musiker lautet: »Was sollen wir in einem Land ohne Kunst schützen?«
Am Ende von Håkon Berges Telavåg Tragedy fragt die Mezzosopranistin Tora Augestad nach Frieden: »Wenn man vergisst? Wenn man mit der Angst lebt? Mit dem Schmerz? Finden Erinnerungen jemals ihren Frieden?« Sie singt ihre Fragen a capella, in wehmütig dunklem Pianissimo.
Hier entfaltet die Tragödie ihr unermessliches Ausmaß – denn sie verklingen und bleiben ohne Antwort.
Transparenzhinweis: BackstageClassical war auf Einladung des Bergen Musikfestivals in Norwegen