Kirill Petrenko und die Berliner Philharmoniker haben bei den Osterfestspielen in Baden-Baden Elektra aufgeführt.
»Die Zeit, sie dehnt sich wie ein finst’rer Schlund« – so heißt es bei »Elektra«, und so steht es am Ende auch blutrot auf den düsteren Treppen am Hofe des Agamemnon. Seit der alte Herrscher gemeuchelt wurde und seine Frau Klytämnestra ihren Liebhaber Aegisth geehelicht hat, regieren die puren Egoismen: blutige Macht, dekadenter Rausch, perverse Knechtschaft, ungeliebte Lebenssucht und ungebändigte Rachewut.
Richard Strauss hat diese Familien-Dystopie in düsterste Musik gehüllt. Ein schriller, atemloser Rausch, der vor nichts Halt macht – nicht einmal vor der Atonalität. Wenn Kirill Petrenko und die Berliner Philharmoniker sich bei den Osterfestspielen in Baden-Baden nun durch die Partitur spielen, klingt das Dunkel metallen silber, tödlich dumpf das Schlagwerk und die Streicher treiben das Ganze peitschend voran. Petrenkos Hofstaat ist ein perfekt geölter Abgrund, in dem sich die individuelle Exzentrik in musikalischer Perfektion Bahnen bricht.
In großen Bögen und mit großem Atem legt sie sich auf den Klangteppich aus Stacheldraht, den die Berliner Philharmoniker ihr liebevoll ausbreiten.
Dafür steht ihm ein fulminantes Vokalensemble zur Seite. Es ist vor allen Dingen der Abend der Nina Stemme. Mit feuerrotem Haar (und ganz ohne Beil) wütet sie knappe zwei Stunden über die sich andauernd verschiebenden Treppenschluchten, die Regisseur und Bühnenbildner Philipp Stölzl gemeinsam mit Regisseur Philipp M. Krenn aufgebaut hat. Stemme wirkt in diesem Parforceritt nie strapaziert, ihre Wut ist perfekt kalkulierte Emotion, ihr Hoffen, ihr Erkennen, ihr archaischer Wunsch nach Rache wird fast schon lyrisch getragen. In großen Bögen und mit großem Atem legt sie sich auf den Klangteppich aus Stacheldraht, den die Berliner Philharmoniker ihr liebevoll ausbreiten.
Die lebendig lyrische Sehnsucht nach Leben, nach Kindern, nach Normalität und dem kleinen, spießigen Eheglück ihrer Schwester Chrysothemis ist dieser Elektra fremd. Elza van den Heever singt die Rolle mit kluger Naivität, mit innbrünstigem Glauben in der Stimme, dass alles gut werden könnte – irgendwie und irgendwann.
Dass diese Möglichkeit nicht besteht, machen Michaela Schusters Klytämnestra und Wolfgang Ablinger-Sperrhackes Aegisth als fast schon buffohaftes Herrscherpaar in jeder Phrase deutlich. Und auch der im Krieg versehrte, mit steifem Bein und Krücken zurückkehrende Bruder Orest kann und will die Familien-Endzeit nicht stoppen und schreitet zum Doppelmord.
Der volle Bariton von Johan Reuter legt die Grundlage dafür, dass sich selbst Petrenkos stählerne Disziplin in der Erkennungsszene ein bisschen erweichen lässt. Für einen Moment scheint ein wenig Sonnenlicht in den dunklen Schlund der Zeit zu fallen.
Dass diese musikalische Weltklasse am Ende dann doch nicht ihre volle Wirkung entfaltet, liegt an einer Inszenierungs-Idee, die sich in Baden-Baden hoffentlich ein für alle Mal als Sackgasse entpuppt hat: Stölzl projiziert das gesamte Elektra-Libretto auf seine Stufen-Bühne, andauernd, ohne Unterlass, in Giga-Lettern und unterschiedlichen Schrift-Typos. Es ist erschreckend, wie das andauernd abgelenkte Auge das Hören so verhindert. Ganz abgesehen davon, dass Stemmes Artikulationsschwierigkeiten so erst offensichtlich werden. Und vor allen Dingen: dass sich alles doppelt, denn der Text wird auch in der Übertitelung angezeigt. Das ist, als würde in dieser Kritik noch einmal erklärt werden, dass die Texte doppelt gezeigt werden, da sie auch in der Übertitelung angezeigt werden (Sie sehen das Problem?!?). Warum hat die Regie hier nicht genug darin gefunden, die Worte in Szene zu setzen, statt sie in die Szene zu schreiben?
Am Ende wird natürlich gar nichts gut. Alle liegen tot im Treppen-Mausoleum, das Licht geht aus. Allein Chrysothemis beweint noch, dass ihr das echte Leben geraubt wurde, bevor auch sie ihr Dasein aushaucht und der finstere Schlund endgültig die Zeit verschlingt.
★★★☆☆