Die Seefestspiele in Eutin haben eine neue Tribüne und zeigen einen eindringlichen Freischütz. Besonders beeindruckt der Max von Marius Pallesen.
Manche Opernorte entdeckt man eher durch Zufall: Ein Sommer in Schleswig-Holstein, ein Abstecher nach Eutin. Am 230 Hektar-See wird gerade die neue Naturbühne eingeweiht. Stilvoll in Holz, 1.945 Sitzplätze, der Gastro-Bereich ist unter den Rängen angeordnet – mit Blick auf den See. Die Bühne wird vom Wald im Schlosspark eingerahmt. Nicht nur das passt zum Freischütz.
Carl Maria von Weber lebte die ersten 10 Jahre in Eutin. Sein Vater war Hofkapellmeister, dann Eutiner Stadtmusikus. Seit 1951 wird am See seine wohl bekannteste Oper aufgeführt: Der Freischütz.
Und klar, Eutin ist kein Bregenz. Aber das macht es auch so charmant. Bereits der Eingangsbereich unter den Platanen an der alten Scheune lädt zum Picknick ein. Hier werden die Weine Agathe, Ännchen und Kaspar gereicht, Käse und Trauben. Das Publikum kommt gut gekleidet, aber auch gut für die empfindlichen See-Winde am Abend gerüstet.
In Eutin wird wahrhaftige Oper gegeben. Echt vor allen Dingen in akustischer Hinsicht. Unsere europäischen Festspiel-Sommer-Ohren haben sich inzwischen ja längst an aufgeblasene Orchester-Sounds und übermäßig verstärkte (und verzerrte) Stimmen gewöhnt. Nichts davon gibt es in Eutin. Hier ist so ziemlich alles echt – nur das Wolfsschlucht-Gewitter kommt aus der Konserve.
Man muss sich in den etwas dünnen Klang erst einige Minuten einhören, um genau diesen Sound auf der Naturbühne dann zu schätzen. Im soundechten, aber regenfest abgedeckten Orchestergraben (mit Fußbodenheizung!) sitzt die erweiterte Kammerphilharmonie Lübeck. Und auf der Bühne steht in diesem Sommer: Marius Pallesen. Er ist eines der größten Highlight dieses Freischütz.
Regisseur Anthony Pilavachi und Dirigent Leslie Suganandarahja haben ein feines Ebsemble zusammengestellt. Pallesen singt den Max – und wie! Sein Tenor verfügt über heldische Kraft und gestaltet gleichzeitig klangschöne Linien, kann dämonisch und wahnsinnig klingen, aber auch stählern und kämpferisch oder sehnsuchtsvoll lyrisch. Vor allen Dingen hat Pallesen langen Atem, in allen großen Arien und Szenen bis zum Finale bereitet nichts seiner Stimme Probleme: Weder die kleinen Windstöße noch die Kälte vom See oder die Größe der Freiluftbühne – und schon gar nicht Carl Maria von Webers Partitur.
Sommer-Festspiele bei BackstageClassical
- Der Idiot in Salzburg hier.
- Kritik zum Freischütz in Bregenz hier.
- Tristan und Isolde in Bayreuth hier.
Pallesen wurde in Lübeck ausgebildet und ist Ensemblemitglied des Mecklenburgischen Staatstheaters. Er und seine Interpretation von Webers verlorenem Liebhaber sind die Reise nach Eutin bereits wert – auf jeden Fall für jeden Castingdirektor, der Nachwuchs im heldischen Tenorfach sucht.
Und mit Ann-Kathrin Niemczyk als Agathe ist dieser Freischütz auch in der zweiten Hauptrolle vortrefflich besetzt. Die Sopranistin, die letzte Saison im Zürcher Opernstudio sang, dringt ebenfalls bestens durch, gibt Agathe lyrischen Schmelz und vor allen Dingen eine eigene, psychologisch spannende Stimmgestaltung. Sie hadert nicht im Warten, sondern klingt selbstbewusst, ist reif und (stimm)stark.
Wie gesagt: All das open air und weitgehend unverstärkt. Und unter dem durchaus ambitionierten Dirigat des Musikdirektors des Salzburger Landestheaters, Leslie Suganandarahja, der zuweilen sehr dramatische (und schleppende) Tempi wählt, die nicht immer sängerfreundlich daherkommen. Der Kaspar von Thomas Weinhappel und das Ännchen von Océane Paredes (sie stellt mit ihren roten Haaren eine Verbindung zu Samiel her) bekommen das zuweilen zu spüren. Herausragend aus dem Sängerensemble ist noch Lukasz Konieczny als Erimit.
Doch Suganandarahja findet trotz der XXL-Bühne durchaus kammermusikalische Momente in der Partitur und zeigt, was der Freischütz neben der Chor-Oper (hier wackelt es in Eutin ein wenig) eben auch ist: Ein schlankes Konversationsstück.
Regisseur Anthony Pilavachi legt ein Gegenmodell zu Philipp Stölzls cineastischem Umgang mit dem Freischütz in Bregenz hin. Statt auf Verkürzungen und Leinwand-Effekte setzt Pilavachi auf eine klassisch dramaturgische Annäherung. Am besten ist das im Jägerchor zu sehen: Zwei leicht bekleidete Frauen in Häschen-Kostümen tänzeln auf die Bühne und spreizen ihre Beine vor den singenden Jägern, die zum »Jo ho! Tralalalalalala!« und zu »männlich Verlangen«, das »Glieder erstarket« mit Flinten zwischen ihre Beine zielen.
Pilavachi hat offensichtlich keine Angst, die auch auf Tourismus ausgerichtete Seebühne mit der Brutalität der Romantik zu konfrontieren, mit holzschnittartigen Figuren und brachialen Dialogen. Ein Horrormärchen, in dem weniger die vielen Spinnen und Spinnweben, die Jürg Brombacher auf die Bühne bringt, für Beklemmung sorgen als die uniformierte Einheitsgesellschaft, die der Regisseur da ins schwarzen Klamotten, mit roten Handschuhen und zum Teil weiß gefärbten Gesichtern erbarmungslos in Szene setzt. Sein Freischütz ist in der dunklen Romantik der Wolfsschlucht geboren: mit allerhand Blut, Tod und der allgegenwärtigen Abwesenheit Gottes.
Manchmal erinnert Pilavachis Handwerk ein wenig zu sehr an die Wekzeugkiste des deutschen Stadttheaters (etwa wenn der Damenchor an Regenschirmen drehen muss oder die Chöre immer auch rhythmisch in Bewegung sein müssen). Und auch die Rolle des erzählenden Samiel (Nina Maria Zorn) ist nicht wirklich stringent aufgelöst. Ihr Teufel spielt den Teufel statt ihn zu verkörpern – und so gräbt er sich selten unter unsere Gänsehaut.
Und dennoch: Was in Bregenz vor lauter Kino-Päng-Poff-Bumm zu kurz kommt, wird in Eutin ganz selbstverständlich serviert: ein wahrhaftiger Freischütz, eine »romantische Oper«, der man auf all ihren erzählerischen Ebenen folgen kann. Die neue Seebühne in Eutin ist eben das Bregenz des Nordens: schlanker, bodenständiger, vielleicht auch: ehrlicher.
Letzte Aufführung: 15.8.2024 bei den Eutiner Festspielen