»Es war verdächtig, Englisch zu lernen«

Mai 5, 2024
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Der Dirigent Jakub Hrůša
Der Dirigent Jakub Hrůša kommt auf Deutschlandtour (Foto: Salzburger Festspiele, Lenhard)

Die Anhäufung von Ämtern im Musikbetrieb, die Rolle des modernen Dirigenten und seine Erinnerungen an eine Kindheit im Kalten Krieg – der Dirigent Jakub Hrůša im intensiven Gespräch mit Georg Rudiger.

Jakub Hrůša ist designierter musikalische Direktor des Londoner Royal Opera House, Chefdirigent der Bamberger Symphoniker und Principal Conductor des Orchestra dell‘ Accademia Nazionale di Santa Cecilia in Rom. Mit ihm und dem Solisten Daniil Trifonov kommt er nun auf Deutschlandtournee. 

Herr Hrůša, in einem kurzen Videoporträt über Sie im Jahr 2016, als Sie als Chefdirigent der Bamberger Symphoniker angefangen haben, ist zu sehen, wie Sie nach dem Konzert hinter der Bühne stehen und jedem Orchestermitglied die Hand geben. Machen Sie das immer so?

Das habe ich vorgestern wieder so gemacht. Normalerweise beim letzten Konzert einer Reihe. Es sind allerdings nicht alle, weil die Orchestermitglieder die Bühne in verschiedenen Richtungen verlassen. Denen, die bei mir vorbeikommen, gebe ich gerne die Hand. Das gehört zu meinen Gewohnheiten wie auch der, bei einer Solistenzugabe vor der Pause auf der Bühne zuzuhören. Da plaudere ich auch ein wenig mit den Orchestermusikern und kann die Musik genießen. Bei dem Kontakt hinter der Bühne entstehen ebenfalls kurze Gespräche – wir tauschen auch kritische Bemerkungen aus. 

Wie nah ist grundsätzlich Ihr Verhältnis zu den Orchestermitgliedern?

Wie kann man Nähe messen? Als ich jung war, hatte ich jedenfalls noch mehr Freundschaften zu Orchestermitgliedern. Wir haben auch außerhalb der Dienste viel Zeit verbracht in Gaststätten oder auf Partys, sogar auch in meiner Freizeit. Das mache ich mittlerweile nicht mehr so häufig, weil ich Kinder habe. Meine Orchestermusikerinnen und -musiker sind mir wichtig als Menschen, natürlich kenne ich alle mit Namen. Ein Orchester ist keine Maschine, sondern ein lebendiger Organismus. Die Orchestermitglieder sollten nie das Gefühl bekommen, benutzt zu werden. 

Als Dirigent müssen Sie aber schon sagen, wo es lang geht, oder?

In der Probe selbst ist Diskussion bei mir nicht willkommen, das wäre für meine Probenarbeit problematisch. Außerhalb der Proben gibt es aber immer Raum zum Diskutieren. 

Ihr wichtigster Lehrer war Mentor Jiří Bělohlávek. Was haben Sie von ihm gelernt?

In jeder Phase unserer Begegnung etwas anderes. Ganz am Anfang war ich fasziniert von seinem perfekten Dirigat. Er wusste genau, was er mit seinen Armen und Händen macht. Das klingt ein wenig komisch, aber es gibt sehr viele Dirigenten, die nicht wissen, was sie machen, sondern intuitiv vorgehen. Das funktioniert auch manchmal sehr gut, weil die Musikalität und natürlich die Autorität das Wichtigste sind. Bělohlávek stach heraus mit seiner hervorragenden Schlagtechnik –dieses Handwerk konnte alle Studenten gut bei ihm lernen. Später wusste ich andere Dinge zu schätzen: seine präzise Vorbereitung, seine Großzügigkeit gegenüber jungen Orchestermusikern und Dirigenten – und seine Authentizität. Das ist für mich das Wichtigste. Als Dirigent so sein, wie man von Natur aus ist. 

Sie kommen aus einem Land, das unter der Sowjetunion gelitten hat. Im Prager Frühling 1968 wurden friedliche Proteste von russischen Panzern beendet. Es gab mindestens hundert Tote. Wie blicken Sie auf den aktuellen russischen Angriffskrieg in der Ukraine?

Dieser Krieg ist schrecklich. Ich bin froh, als Tscheche nicht mehr im unmittelbaren Einflussbereich von Russland zu sein. Aber ich bin auch nervös, weil wir diese geschichtliche Erfahrung machen mussten, die Sie angesprochen haben und die von vielen Menschen vergessen wird. Die vierzig Jahre im sowjetischen Einfluss waren auch nicht nur schlecht. Die Wirklichkeit ist komplexer. Aber der Freiheitswille des tschechischen Volkes wurde nie von der Sowjetunion akzeptiert. 

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Wie haben Sie Ihre Kindheit in der Tschechoslowakei erlebt? 

Ich war acht Jahre alt, als der Ostblock kollabierte. Die 80er-Jahre waren in der Tschechoslowakei zwar nicht einfach, aber nicht zu vergleichen mit der Repression in den 50-Jahren oder im Russland von heute. Trotzdem erinnere ich mich daran, dass mir meine Eltern zuhause sagten, dass ich über manche Themen wie Kunst, Politik oder Religion in der Schule nicht sprechen dürfe, weil ich damit die ganze Familie in Gefahr bringen könnte. Oder sie haben zuhause selbst Themen vermieden, um mich zu schützen. Es war schon verdächtig, Englisch zu lernen. Die westliche Gesellschaft hat heute aber auch Probleme. Auch wir können nicht alles sagen, was wir sagen möchten – die political correctness provoziert mich manches Mal, gerade wegen dieser Erfahrung aus meiner Kindheit. Aber die Motivation dahinter ist schon eine andere. 

Sie haben auf Ihrer kommenden Tournee mit der Accademia die Santa Cecilia mit Sergej Rachmaninow nicht nur einen russischen Komponisten im Programm, sondern mit Daniil Trifonov auch einen russischen Pianisten, der zu Kriegsbeginn über Instagram mitteilte, dass jeder Krieg eine Tragödie sei. Ist für Sie die politische Haltung eines Künstlers wichtig, mit dem Sie musizieren? 

Das ist mir schon wichtig, sonst wäre ich blockiert beim gemeinsamen Musizieren. Auf der anderen Seite respektiere ich andere politische Meinungen. Mir ist es sehr fremd, wenn jemand sagt, weil wir Krieg haben, dürfen wir keine russische Musik spielen. Gerade Menschen wie Sergej Rachmaninow und Daniil Trifonov repräsentieren das Gesicht der russischen Kultur, das ich mag und bewundere. Deshalb ist es mir wichtig, mich mit diesen Menschen – tote oder lebendige Künstler – zu verbinden. Und weiterhin die Beziehungen zu pflegen. 

Sie sind seit 2016 Chefdirigent der Bamberger Symphoniker und seit 2022 erster Gastdirigent bei Santa Cecilia. Wie würden Sie im Vergleich zu den Bambergern das römische Orchester beschreiben?

Die Mitglieder von Santa Cecilia zeigen ein wenig mehr körperliches Engagement auf der Bühne. Und sind weniger beeinflusst von einer konkreten Interpretationstradition als die deutschen Orchester insgesamt. Das kann eine größere Flexibilität bedeuten. Die römischen Musikerinnen und Musiker sind spontan auf der Bühne und auch in der Probe. Wenn sie etwas mögen, zeigen sie es ganz offen. Wenn sie etwas nicht mögen, merkt man das auch. Sie sind sehr feinfühlig – fast so, wie die besten Jugend- oder Studentenorchester. Überhaupt haben sie etwas Jugendliches in ihrer Einstellung zur Musik. Man merkt, dass sie sehr gerne miteinander spielen und zusammenhalten – wie eine Familie. Menschlich ist es neben dem Beruflichen sehr angenehm, mit ihnen zu arbeiten. Wir hatten ja gerade eine Residenz bei den Salzburger Osterfestspielen zusammen mit dem früheren Chefdirigenten Antonio Pappano. Das Engagement und der Wille, das Beste in jedem einzigen Konzert und jeder Opernvorstellung zu geben, war atemberaubend.

Hier dirigiert Hrůša Smetanas Má vlast

Sie werden in der Nachfolge von Pappano in London 2025 die musikalische Leitung des Royal Opera House Covent Garden übernehmen und treten auch in Rom in seine Fußspuren als erster Gastdirigent mit drei Produktionen im Jahr. Ist er Ihr Förderer? 

Ja, es scheint, als habe er das alles organisiert! Im Ernst: Bevor diese Entscheidungen völlig unabhängig voneinander getroffen wurden, kannten wir uns fast gar nicht. Als ich in London mit Carmen im Jahr 2018 debütierte, haben wir uns einmal backstage getroffen und ein paar Worte gewechselt. Als ich später Lohengrin dirigierte, hat er uns mit seiner Frau Pamela in London, wo ich mit meiner Familie lebe, besucht; sichtlich erfreut darüber, wie die Premiere gelaufen ist. Es ist sehr schwer, Toni nicht zu mögen. Ich spüre auch, dass er mich mag. Wir haben eine schöne menschliche Verbindung, wissen aber auch, dass wir sehr unterschiedlich sind – als Dirigententypen und auch, was das Repertoire angeht. Das ist wahrscheinlich das, was Santa Cecilia und Covent Garden mit meiner Verpflichtung gewollt haben: keine Variante von Toni, sondern neue Impulse. 

Antonio Pappano hat Sie also nicht empfohlen. 

Nein, weder in Rom noch in London. Das hat er auch in Interviews gesagt. 

Zusätzlich sind Sie noch erster Gastdirigent der Tschechischen Philharmonie und machen viele zusätzliche Gastdirigate. Ämterhäufung ist inzwischen normal im Musikbetrieb. Yannick Nézet-Séguin hat drei Chefpositionen inne, in New York, Montreal und Philadelphia. Der junge Dirigent Klaus Mäkelä leitet ab 2027 sowohl das Chicago Symphony Orchestra als auch das Royal Concertgebouw Orchestra Amsterdam. Muss man heutzutage so viele Engagements eingehen, um erfolgreich zu sein?

Das kann man nicht mit meinen Engagements vergleichen. Ein erster Gastdirigent hat keine Chefdirigentenpflichten. Man gibt damit nur Vertragsfreunden eine Priorität im Terminkalender. Ich muss nicht am inneren Leben des Orchesters teilnehmen, auch nicht an den Probespielen, an Gremiensitzungen oder an der dramaturgischen Gesamtplanung. Der Unterschied zwischen diesen beiden Rollen ist groß. Ich könnte mir kaum vorstellen, zwei Orchester als Chefdirigent zu leiten. 

Aber ab nächstes Jahr haben Sie auch zwei Chefpositionen: in Bamberg und in London. 

Mit der Oper ist es etwas anderes – das Repertoire ist total verschieden. Das Orchester des Royal Opera House fokussiert sich auf den Opernbetrieb und muss keine regelmäßige Konzertreihe bedienen. Das ist in Wien, München oder Berlin anders. Erleichternd kommt noch hinzu, dass ich in London lebe – dort bin ich zu Hause. Die Kombination mit den Bamberger Symphonikern, bei denen ich bis 2029 als Chefdirigent verlängert habe, finde ich zurzeit machbar. Wir hatten auch schon viele Projekte langfristig geplant. Bamberg ist für mich ganz vertraut. Die Neuigkeit in meinem künstlerischen Leben ist London – auch das halte ich für eine gute Kombination. 

Sie kommen im Mai auf Deutschlandtournee mit der Accademia Nazionale di Santa Cecilia. Das Programm ist zumindest im ersten Teil recht ungewöhnlich mit dem Klavierkonzert in F und der Cuban Overture von George Gershwin. Haben Sie das Programm zusammengestellt?

Daniil Trifonov wollte das Gershwin-Konzert spielen. Die Kubanische Ouvertüre passt sehr gut dazu. 

Und die sinfonischen Tänze von Rachmaninow im zweiten Teil? 

Zum einen ist der Amerika-Bezug aller gespielten Stücke offensichtlich. Zum anderen ist es schön, Werke dieser Komponisten zu präsentieren, die nicht so bekannt wie etwa Gershwins Rhapsody in blue oder Rachmaninows zweites Klavierkonzert. Das Konzertprogramm ist auch eher untypisch für ein italienisches Orchester. Gerade das ist für mich reizvoll. 

Beide Werke von Gershwin sind sehr jazzig gehalten. Bei der Ouvertüre kommen noch kubanische Rhythmen dazu. Hat das Orchester viel Erfahrung mit Jazz?

Das müssen Sie das Orchester fragen, ich weiß es nicht. Da bin ich frei von allen Vorurteilen. Ich habe gerade in Tokio mit dem NHK Symphony Orchestra die Sinfonische Tänze aus Leonard Bernsteins „West Side Story“ gemacht. Und ich fragte mich im Vorhinein schon, ob den Japanern dieses Jazzidiom vertraut ist. Aber die Blechbläser waren absolut in ihrem Element. Da dachte ich mir wieder: keine Vorurteile. Auch Daniil Trifonov ist kein amerikanischer Pianist. Unser Programm erfüllt also überhaupt keine Erwartungen. 

Deutschlandtournee des Orchestra dell’Accademia Nazionale di Santa Cecilia: 13. Mai, 20 Uhr, Hamburg, Elbphilharmonie, 14. Mai, 20 Uhr, Berlin, Philharmonie, 15. Mai, 20 Uhr, Köln, Philharmonie, 16. Mai, 20 Uhr, München, Isarphilharmoie.

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Georg Rudiger

Georg Rudiger hat Musikwissenschaft, Geschichte und Germanistik in Freiburg und Wien studiert. Er beobachtet von Freiburg aus das Musikleben im Südwesten Deutschlands, der Schweiz und dem Elsass - als fester Freier für die Badische Zeitung, überregional u.a. für die Neue Zürcher Zeitung, neue musikzeitung und Der Tagesspiegel. Er ist bei wichtigen Musikfestivals und Opernpremieren (Jurymitglied der Opernwelt), gelegentlich auch Rock- und Jazzkonzerten.

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