Kulturlobbyisten versuchen mit aller Macht, alte Privilegien zu behaupten – und riskieren damit das brutale Ende von Orchestern und Theatern. Ein Kommentar.
English summary: Cultural lobbyists are fiercely defending old privileges, risking the collapse of orchestras and theaters. While some argue for more state funding due to audience turnout, the debate should focus on adapting to modern times. Public funding can’t rely solely on full houses, and the high costs of cultural institutions aren’t sustainable in today’s economic climate. Institutions must embrace flexibility, restructure, and innovate to survive. Culture, especially classical arts, is shrinking, but those who refuse change risk being left behind in a time of radical transformation.
Man hört in diesen Tagen oft, das Publikum kehre in die Konzerte und Opern zurück – allein die Politik habe das noch nicht begriffen und stelle die Finanzierung von Kulturinstitutionen fahrlässig in Frage. So ähnlich formulierte es letzte Woche UNISONO-Chef Gerald Mertens, und so hörte sich auch eine Meldung der österreichischen Bundestheater an, die auf der einen Seite großen Publikums-Zuspruch vermeldete, auf der anderen um politische Planungssicherheit bat.
Damit wir uns nicht missverstehen: Ich bin leidenschaftlicher Verfechter eines Kultursystems, das von der öffentlichen Hand getragen wird, das mutige Experimente ebenso erlaubt wie kreatives Scheitern. Doch diese neue Argumentation irritiert mich. Legitimieren volle Häuser automatisch staatliche Förderungen? Oder ist dieser Rückschluss nur ein Vorwand, um sich der eigenen Veränderung zu entziehen?
Stimmt die Grundannahme?
Ja, stimmen die Behauptungen der vollen Häuser überhaupt? Oft wird da aus dem hohlen Bauch argumentiert, oder wie bei UNISONO mit »Stichproben« hantiert, die besonders gern an erfolgreichen Prestige-Häusern genommen werden, etwa an der Elbphilharmonie oder an Großstadt-Bühnen, wo die Musik zum Event wird oder zum Teil eines Städtetrips.
Aber die Metropolen sind eben nicht »Die Kulturlandschaft«. Ich könnte hier ebenfalls »aus dem Bauch heraus« berichten und erklären, dass ich in Theatern – etwa in Bremen – gesehen habe, dass hier gähnend wenig los war. Ich habe leere Konzerte und leere Opernaufführungen in ganz Deutschland erlebt. Aber weder die eine »Stichprobe« noch die andere kann als Legitimation staatlicher Förderung dienen. Publikumszuspruch kann kein Hauptkriterium für staatliche Förderung sein – sonst müssten wir auch Musicaltheater staatlich fördern!
Vielleicht wäre es ratsam, zur Kenntnis zu nehmen, dass dort, wo Sparmaßnahmen im Kulturbereich greifen, breiter Protest derzeit ausbleibt. Bestes Beispiel ist Berlin: Die Gießkannen-Kürzungen von über 10 Prozent bei den Institutionen haben zwar einige Kulturschaffende auf die Straße gelockt, aber im Grunde hat Joe Chialo vorexerziert, dass massive Einschnitte nicht für einen Imageschaden sorgen. Im Gegenteil: Berlins Kultursenator ist Top-Anwärter auf das Amt des Bundesbeauftragten für die Kultur.
Kein Protest beim Sparen
Einem großen Teil der Bevölkerung scheinen die hohen Kosten für die Hochkultur nicht mehr unbedingt plausibel zu erscheinen: In den sozialen Medien fragen sich selbst Leute innerhalb der Kulturblase, wie Theaterumbauten in Milliardenhöhe (!) zu legitimieren sind, wie die Ausgaben für große Orchester- oder Theaterensembles? Natürlich geht es schnell um die Privilegien von Orchestermusikerinnen und Orchestermusikern, darum, ob dieStrukturen noch zeitgemäß sind, und wie es sein kann, dass ein System, das so teuer wie unsere Stadttheater ist, gleichzeitig auf prekäre Arbeitsverhältnisse setzt.
In einer Zeit, in der Schlüsselindustrien gerade zehntausende Stellen abbauen, sind Argumentationen wie jene von Gerald Mertens nur schwer im gesamtgesellschaftlichen Kontext vermittelbar. Zumal jede bezahlte Karte bei Theatern oder Orchestern in Deutschland, je nach Ort, mit 70 bis 200 Euro bezuschusst wird.

Wer liberale oder gar libertäre Sparorgien wie von Joe Chialo verhindern will, ist schlecht beraten, wenn seine einzige Antwort das unflexible Pochen auf alte Privilegien ist. Wandel ist nötig!
Noch einmal: Ich plädiere nicht dafür, Förderungen zu streichen. Und erst recht nicht dafür, so wie Joe Chialo, die Kulturschaffenden in die Verantwortung zu nehmen, jetzt mehr »Drittmittel« zu akquirieren (auch das ist in der aktuellen Wirtschaftslage ein Hohn!). Mir geht es darum, dass die Kulturinstitutionen sich durch ihre eigene Wandlungsfähigkeit behaupten.
Wir brauchen neue Narrative
Ich stelle fest, dass unsere alten Narrative nicht mehr funktionieren. Slogans wie »Kultur ist ein Lebensmittel«, »Kultur ist wesentlich für die Demokratie« oder »Kultur ist unverzichtbar für den Wirtschaftsstandort« sind allesamt irgendwie richtig – aber sie verfangen nicht mehr in der öffentlichen Debatte. Auf jeden Fall haben sie es nicht geschafft, den Berliner Kulturabbau zu verhindern.
Fakt ist, dass es derzeit in vielen Städten und Gemeinden auch gar nicht mehr darum geht, wie man an einer Institution noch mehr sparen kann. Die meisten Institutionen sind nämlich schon bis an den Rand ausgepresst. Inzwischen geht es um die pure Existenz. Die kommunalen Kassen sind derart klamm, dass es zur Gretchenfrage wird, ob man sich Orchester, Theaterensembles oder andere Kulturinstitutionen überhaupt noch leisten kann. Und es ist fahrlässig, diesen Zustand (gerade, wenn man als Lobby für Künstlerinnen und Künstler auftritt) zu ignorieren.
Niemand hat Spaß am Sparen. Es sind die äußeren Umstände, die Kommunen dazu zwingen. Es geht um realpolitische Fragen wie: Schule oder Schauspiel? Kita oder Konzert? Und Kultur gehört nicht zu den »Muss-Aufgaben«, sondern zu den »freiwilligen Leistungen«.
Wer in derartigen Situationen an tradierten Privilegien festhält, handelt ähnlich fahrlässig wie jene Kommentatoren, welche die Situation der Stunde nutzen und das staatlich geförderte Kultursystem in Bausch und Bogen abschaffen wollen. Statt eisern auf gestrige Strukturen zu beharren oder den Total-Kahlschlag zu fordern, wäre es gerade jetzt wichtig, sich auf das zu besinnen, was eigentlich die Heimat der Kultur sein sollte: ihre Kreativität.
Kultur wird schrumpfen
Es ist absehbar, dass Kultur, besonders aber die klassische Kultur, schrumpfen wird. Die Gründe dafür sind vielfältig: Mangelnde Bildung, neue Formen der Unterhaltung, multimediale Angebote oder ein grundlegender kultureller Wandel. An Musikhochschulen wie in München hat man sich längst auf diese Veränderungen eingestellt. Dort geht man nicht mehr davon aus, dass alle Absolventinnen oder Absolventen nach ihrem Studium eine volle Stelle in einem deutschen Orchester antreten. Musikerinnen und Musiker werden in Zukunft flexibel sein müssen: Vielleicht eine halbe feste Stelle, die Entwicklung eigener Kammermusik-Programme, die Gründung eines freien Ensembles, oder dazu einen Teilzeitjob in der Lehre.
Viele Kulturinstitutionen haben all das längst verstanden, wissen, dass die Zukunft anders aussehen muss als die Vergangenheit. Sie reorganisieren sich, restrukturieren ihre Arbeitsabläufe und ihr Personal, sie entwickeln neue Formate und gehen auf die Menschen zu.
Das Neudenken hat längst begonnen. Aber ist auf Ensembles angewiesen, die bereit sind, sich ebenfalls zu bewegen. Wir befinden uns – nicht nur in der Kultur – in einer Zeit des radikalen Wandels. Wer in solch bewegten Phasen die Augen schließt und im Gestern stehenbleiben will, verhindert eine Entwicklung und provoziert damit seine eigene Abschaffung.