Willkommen in der neuen Klassik-Woche,
heute mit zwei Whistleblower-Geschichten aus der Musik, mit Bewegung in Salzburg, Zensur in China, der digitalen Zukunft der Oper – und einer Entschuldigung.
Der Erfolg der Whistleblower in Linz
Spannend ist, warum es eigentlich so lange gedauert hat, bis Brucknerhaus-Intendant Dietmar Kerschbaum letzte Woche freigestellt wurde. Die offensichtlichen Gründe wurden von der österreichischen Wochenzeitung Der Falter gewissenhaft aufgeschrieben: Schon bei seiner Wahl zum Intendanten sollen Kerschbaum Informationen zugespielt worden sein; er genehmigte sich stattliche Gagen (5.000 Euro für den »Aventskalender« statt 200 Euro wie bei anderen Beteiligten), und er lagerte die dramaturgische Arbeit des Brucknerhauses an eine internationale Agentur aus, die so Einblick in die Arbeit anderer Agenturen bekam. Einigen Journalisten (auch mir) wurde letzte Woche bereits der Vertrag zwischen dem Brucknerhaus und dem Dramaturgen Daniel-Frédéric Lebon zugespielt – von einer anonymen E-Mail-Adresse. Offensichtlich waren derartige Whistleblower-Methoden nötig, um ein typisch österreichisches Selbstbedienungsgeschäft aufzudecken. Ebenfalls freigestellt wurde auch der Kaufmännische Vorstand Rainer Stadler, hier habe das Vier-Augen-System offensichtlich versagt. Es bleibt nun allerdings auch die Rolle von Bürgermeister Klaus Luger (er war gerade auf New York-Reise mit Kerschbaum) aufzuklären. Offensichtlich wusste er sowohl von den Ungereimtheiten bei Kerschbaums Bestellung, als auch vom Outsourcing der Programmplanung und Dramaturgie. Dass nun ein Whistleblower nötig war, um die Debatte öffentlich zu machen, spricht nicht für die kulturpolitische Verantwortung in Linz. Und das scheint in Oberösterreich Tradition zu haben. Auch Kerschbaums Vorgänger, Hans-Joachim Frey, der heute Intendant im russischen Sotschi ist, verstand das Haus in Linz mehr oder weniger als Spielplatz seiner eigenen Russland-Netzwerke. Eine weitere Recherche sollte vielleicht noch einmal genau den vergangenen Reisen (besonders nach Russland) des Wirtschaftsforums nachgehen, das Frey und Christoph Leitl (ehemaliger Präsident der Österreichischen Wirtschaftskammer und Vorsitzender des Sotschi-Dialogs) für das Brucknerhaus gegründete haben.
Anonyme Vorwürfe wegen sexuellen Missbrauchs
Eine andere Art Whistleblowing ist auch die breit angelegte Aktion eines Netzwerkes gegen Machtmissbrauch an Musikhochschulen. Eine Gruppe hat einigen von uns Journalistinnen und Journalisten eine Liste mit 414 Vorfällen von 108 Studierenden im Zeitraum von Juni bis Oktober 2023 in Deutschland, Österreich und der Schweiz zugeschickt. Darunter einige durchaus erschütternde Erfahrungen, andere – trotz Anonymität – eher allgemein gehalten. Für Journalistinnen und Journalisten ist es schwer, mit derartigen Informationen umzugehen, die keine Täter und Opfer benennen – und deshalb auch nicht nachvollziehbar sind. Bestenfalls dienen sie als Sittenbild. Und das sieht nicht sonderlich gut aus: Es gibt einen Teil von Studierenden, die nach wie vor sexistische Übergriffe an deutschen Hochschulen wahrnehmen. Die taz hat sich entschlossen, eine der Betroffenen (ebenfalls anonym) zu Worte kommen zu lassen. Sie stellt dabei weitgehend bekannte Forderungen auf und fasst die Studie am Ende so zusammen: »Uns erreichten Beschreibungen von Studierenden, deren Lehrende sie vor anderen anschreien, rassistische Sprüche machen bis zu unpassenden Berührungen. Eine Lehrperson kann mir auf einer engen Klavierbank sehr nahekommen, ihre Hände beim Spiel auf meine legen oder Ähnliches. Es gab auch den Fall einer Musikstudentin, die mit verbundenen Augen spielen sollte. Das kann alles künstlerisch sinnvoll sein – manchmal ist es ein Vorwand. Es sind diese Grauzonen, die zeigen, wie undeutlich die Machtbeziehung definiert ist. Und es gibt noch mehr.« Da ist viel Grauzone, viel Befindlichkeit, viel Unkonkretes, und es wäre wünschenswert, die Debatte auf einem dialogischen und konkreten Niveau mit den Musikhochschulen fortzusetzen.
Bewegung in Salzburg
Letzte Woche hatte ich an dieser Stelle die Überlegung angestellt, dass es Münchens amtierenden Intendanten Serge Dorny eventuell nach Salzburg ziehen könnte. Kollege Robert Braunmüller von der Abendzeitung wollte es genau wissen: „Der gewöhnlich gut informierte Newsletter von Axel Brüggemann (Crescendo) nannte vor ein paar Tagen die Bewerber für die Nachfolge von Markus Hinterhäuser um die Intendanz der Salzburger Festspiele, darunter auch Serge Dorny“, hieß es in seinem Text (danke für die Blumen!). Und weiter: „Dorny hat seine Bewerbung inzwischen bestätigt. Er sei von der Findungskommission dazu aufgefordert worden.“ Für Braunmüller ist die Bewerbung vor allen Dingen eine Ohrfeige für Bayerns Kulturminiser Markus Blume: „Es war ein Fehler, mit der Verlängerung von Dornys Vertrag so lange zu warten, bis dieser Lust auf Veränderung bekommt.“ Ein Wink auch in Richtung Bayreuth, wo die Bayerische Kulturpolitik ebenfalls unnötig zögerlich ist: „Blume ist gerade dabei, den Fehler ein zweites Mal zu machen: Auch der bereits 2025 auslaufende Vertrag von Katharina Wagner in Bayreuth ist noch nicht verlängert. Auch sie plant bereits Festspiele, von denen nicht sicher ist, ob sie sie auch verantworten darf“, kommentiert Braunmüller. Auch Osterfestspiele-Intendant Nikolaus Bachler wurde als Sommer-Kandidat gehandelt, hat inzwischen allerdings erklärt, dass er sich nicht beworben hat. Am hartnäckigsten hält sich derzeit allerdings noch das Gerücht von letzter Woche, dass Salzburg die Handbremse zieht und Markus Hinterhäuser eventuell um drei weitere Jahre verlängern will – wenn man da Mal nicht den Anschluss verliert.
Chinas Zensur und Beethovens Freiheit
Chinas Behörden scheinen die Zensur etwas anzuziehen. Basels Musikmanager Christoph Müller konnte es jedenfalls kaum glauben: für ein Konzert im Juli mit dem Kammerorchester Basel in Shanghai musste das Programm der Zensurbehörde vorgelegt werden, und auch für eine Tournee 2027 wollte die Agentur Genaueres wissen. Das war in den Zeitungen von CH Media zu lesen. Auf dem Programm soll Beethovens «Chorfantasie» stehen, mit dem bekannten Text «Schmeichelnd hold und lieblich klingen / unsers Lebens Harmonien, / und dem Schönheitssinn entschwingen / Blumen sich, die ewig blüh’n». Die Agentur ließ sich den Text im Vorfeld vorlegen. «Für das Orchester und mich ist es bereits skurril, ja erschreckend, dass man ein rein sinfonisches Programm der Zensurbehörde vorlegen musste. Aber dass man nun auch noch den Text der Chorfantasie speziell untersuchen lassen muss, irritiert mich», sagt Müller.
Die digitale Zukunft der Oper
Das Theater der Zukunft muss nicht unbedingt in einem Opernhaus spielen. Für die neue Ausgabe von Alles klar, Klassik? besuche ich die Digital-Sparte am Staatstheater Augsburg. Wie sieht die Zukunft der Oper aus? Was kann AI schon jetzt? Wie werden Bühnenräume erweitert, und welche Möglichkeiten bietet das Multimedium Oper? Intendant André Bücker kommt ebenso zu Wort wie Gloria Schulz vom Studio Unendliche Möglichkeiten, Benjamin Seuffert und Lukas Joshua Baueregger, die die Digital-Sparte des Theaters leiten und die Sängerin Priya Pariyachart. Unbedingt Mal reinhören. (Hier für alle Player, unten für Spotify).
Amerikanische Vakanzen
Zoff in San Francisco: Esa-Pekka Salonen wird das San Francisco Symphony Orchestra verlassen. Der Grund ist Streit mit der Orchesterführung. »In Bezug auf die zukünftigen Ziele der Institution teile ich nicht dieselben Ansichten wie der Vorstand«, sagte Salonen in einer Erklärung. Der Vorstand selber schweigt. Salonen, der im Juni 66 Jahre alt wird, trat seinen Job im Dezember 2018 an und folgte auf Michael Tilson Thomas. Trotz Kritik am Management lobte Salonen das Orchester, er sei »stolz darauf, weiterhin mit den Weltklasse-Musikern zu arbeiten.« Auch in Chicago ist der Job von Riccardo Muti noch immer vakant. Hier gilt Klaus Mäkelä als hoffnungsvollster Kandidat. Das Los Angeles Philharmonic Orchestra sucht einen Nachfolger für Gustavo Dudamel, und Franz Welser-Möst wird nach der Saison 2026-27 das Cleveland Orchestra verlassen. In dieser Woche gab außerdem James Conlon bekannt, dass er nach der Saison 2025-26 als musikalischer Leiter der Los Angeles Opera zurücktreten werde. Viel Bewegung also in den USA. Immerhin: Dirigent Enrique Mazzola wurde an der Chicago Lyric Opera verlängert.
Optimismus in Großbritannien
Eine groß angelegte Umfrage in Großbritannien blickt optimistisch in die Zukunft von Kulturveranstaltungen. Die Ticket-Verkäufe von 2023 waren im Vergleich zu 2019 (also vor der Corona-Pandemie) auf 101 Prozent gestiegen. Außerdem hat die Hälfte des Publikums 2023 zum ersten Mal ein Kultur-Ticket gebucht. 54 Prozent hatte vorher noch nie in eine Kulturveranstaltung besucht. Eine Quote, die lediglich 2013 mit 55 Prozent höher war. Die ganze Studie hier.
Personalien der Woche
Rückschlag für Italiens Rechts-Regierung: Giorgia Melonis Kulturpolitiker wollten La Fenice-Intendant Fortunato Ortombina als Nachfolger von Dominique Meyer an der Mailänder Scala installieren. Aber der Italiener erklärte nun in einem Interview, dass er kein Interesse hätte und nie um diesen Job gebeten habe. Meyer soll sich derweil in Salzburg um die Festspielleitung beworben haben. Die Scala steht bedröppelt da. So demolieren Nationalisten ihre nationalen Kulturtempel. +++ Antonio Pappano hat Markus Thiel vom Merkur ein spannendes Interview gegeben: »Wir müssen die Oper besser verkaufen«, sagte der Dirigent: Es gibt viele Menschen, die keine Erfahrungen mit klassischer Musik haben. Die Schulen bieten immer weniger Gelegenheit, sich mit dieser Kunst auseinanderzusetzen. »Also müssen wir die Dinge erklären. Und das nicht auf eine hochtechnische Art, sondern mit Herz. Und auch mit Elementen des Entertainments. Ich bin sehr für so etwas zu begeistern, auch auf Social Media. Die Gefahr ist nur, dass dort zu wenig Information vermittelt wird. Ein TikTok-Beitrag zum Beispiel liefert zu wenige Antworten.« +++ »Stell Dir vor …« ist das Motto der ersten Spielzeit von Nora Schmid an der Semperoper Dresden mit 14 Premieren: Darunter die Dresdner Erstaufführung von Arrigo Boitos Mefistofele mit der Schauspielerin Martina Gedeck, Richard Strauss’ Intermezzo und eine konzertante Neuproduktion von Leonard Bernsteins Candide. +++ Sein grüner Bleistift war stets gespitzt, die Musik sein eigentlicher Lebensraum – und die Stimme sein Ausdrucksmittel. «Ohne das Komponieren wüsste ich gar nicht, warum ich hier auf dieser Welt bin», sagte Aribert Reimann einmal. Nun ist er gestorben, mit 88 Jahren. Ich habe versucht meine Gedanken zu Aribert Reimanns Lebenswerk hier zusammenzufassen.
Und wo bleibt das Positive, Herr Brüggemann?
Ja, wo zum Teufel bleibt es denn, vielleicht ja hier? Asmik Grigorian hat die „Vier letzten Lieder“ von Richard Strauss aufgenommen. Grigorian sucht den Seelenabgrund in den Liedern um Liebe, Hoffnung und Tod, ihr dunkles, erdiges Timbre sorgt für mystische Morbidität, die Allgegenwärtigkeit des Sterbens und das andauernde Durchblicken silber funkelnden Lebens. In den großen Legatobögen könnte sich Grigorian etwas mehr Zeit nehmen, gelassener bleiben. Aber ihre Interpretation klingt immer nah am Text, klug, ohne die Sinnlichkeit intellektuell zu verstellen. Das Besondere: Grigorian hat den Zyklus gleich zwei Mal aufgenommen, mit dem Orchestre Philharmonique de Radio France unter der atmenden Leitung von Mikko Franck und in der Klavierfassung mit einem klug und lustvoll illustrierend aufspielenden Markus Hinterhäuser am Flügel. Man mag diese Doppelung merkwürdig finden, kann sie aber auch als Erkenntnisgewinn verbuchen in der Frage um den Kontext einer Stimme in Zeit und Raum. Unbedingt Mal reinhören.
In diesem Sinne: halten Sie die Ohren steif.
Ihr
Axel Brüggemann