»Der Westen darf keine Angst vor Putin haben«

Juli 15, 2024
5 mins read
Der russische Pianist Jewgeni Kissin in Luzern (Fischli/Lucerne Festival)

Der Pianist Jewgeni Kissin hat früh gegen Putins Krieg gekämpft. Im Interview mit BackstageClassical fordert er nun mehr Hilfe aus Europa und den USA.

Jewgeni Kissin gehört zu den russischen Künstlern, die sich am deutlichsten gegen den Ukraine-Krieg positioniert haben. Nun tritt er in Luzern auf und warnt im Gespräch mit Georg Rudiger vor zu viel Zurückhaltung. 

Herr Kissin, Sie spielen weiterhin russische Musik – wie nun auch in Luzern. Da steht zum Beispiel die zweite Klaviersonate von Sergej Prokofjew auf dem Programm …

Russische Musik sollte gespielt werden. Wenn wir sie nicht spielen würden, dann würde dies nur Wladimir Putin nützen, weil wir damit suggerierten, dass ihm die Musik gehöre. Aber diese Musik hat absolut nichts mit Putin und seinesgleichen zu tun. Russische Musik gehört der ganzen Welt.

Spielen Sie russische Musik auf eine andere Weise als vor dem Krieg? Sie erwähnten in einem Interview, dass sie zum Beispiel Probleme hätten mit dem Siegespathos von Rachmaninows 3. Klavierkonzert.

Es gibt sicherlich einige Werke, die ich gegenwärtig nicht spielen würde, zum Beispiel Mussorgskys „Bilder einer Ausstellung“. Das letzte Bild dieses wunderbaren Zyklus heißt „Das große Tor von Kiew“. Kiew wird in diesem Kontext als Hauptstadt Russlands angesehen. Auch Tschaikowskys „Ouvertüre 1812“ op. 49, die von Russlands Sieg über Napoleon erzählt, halte ich gegenwärtig für problematisch. Man sollte auf alle die Werke verzichten, die russische Siege feiern. Aber alle anderen spielen.

Anzeige

Kurz nach Russlands Angriff auf die Ukraine haben Sie sich mit einer Videobotschaft an die Öffentlichkeit gewandt.

Am gleichen Tag.

»Selenskyi und die Ukrainer bieten dem Aggressor die Stirn«

Jewgeni Kissin

Darin bezeichnen Sie die russischen Angreifer als bluthungrige Kriminelle und ziehen eine Parallele zu den Nazis, denen letztendlich in Nürnberg der Prozess gemacht wurde. Bisher galten Sie im Westen  nicht als besonders politischer Künstler. Warum dieses klare Statement?

Ich wende mich schon lange an die Öffentlichkeit, auch um für den Schutz Israels einzutreten. Nach den manipulierten Präsidentschaftswahlen in Russland im Jahr 2012 habe ich vergeblich gehofft, dass die russische Bevölkerung die Regierung stürzen wird – es gab viele Proteste. Auch damals habe ich mich in Russland politisch geäußert. Das Statement beim Kriegsausbruch 2022 war mir wichtig, weil ich das Gefühl hatte, dass der Westen die Lage verkennt. Der amerikanische Präsident hat dem ukrainischen am Tag der Invasion Asyl angeboten – was bedeutet hätte, die Ukraine Putin zu geben. Das hat mich sehr besorgt. Selenskyi und die Ukrainer bieten dem Aggressor die Stirn, müssen aber immer wieder den Westen um Waffen bitten, die oft zu spät kommen. Die westlichen Länder definieren rote Linien, weil sie Angst haben vor Eskalation.

Porträt des Pianisten Jewgeni Kissin (Foto: Sergievskaia)

Diese Angst ist nicht unbegründet. Schließlich ist Russland eine Atommacht.

Das ist aber die falsche Strategie. Putin ist ein Kind der Sowjetunion. Bereits als Teenager wollte er Teil des KGBs sein – des Geheimdienstes, der auch in der Sowjetunion wegen seiner Brutalität gefürchtet war.

Er arbeitete später in Dresden für den KGB.

Genau. Den Verfall der Sowjetunion empfand er als persönliche Kränkung. Und als er schließlich Präsident wurde, war es sein Ziel, diesen Verlust wieder rückgängig zu machen. Putin wird sich nicht mit der Ukraine zufriedengeben – so wie sich Adolf Hitler nicht mit der Tschechoslowakei, die er 1938 besetzte, zufriedengab. Auch damals wollte man mit der Appeasement-Politik nicht eskalieren. Wozu das geführt hat, haben wir leider sehen müssen. Putin wird nur stoppen, wenn er gestoppt wird. Das ist Psychologie. Ein Straßenschläger sucht sich immer das schwächste Opfer heraus. Das, welches besänftigt, welches keinen Streit möchte. Wenn Putin Angst spürt, wird ihn das noch aggressiver machen. Deshalb muss der Westen stark auftreten. Angst vor Eskalation ist ein schlechter Ratgeber. Übrigens gilt die Schweiz in Russland nicht mehr als neutraler Staat, weil sie die Sanktionen unterstützt. Jeder muss sich klar positionieren in diesem Konflikt.

Fühlen Sie sich noch verbunden mit der russischen Gesellschaft? Werden sie von russischen Nationalisten nicht als Verräter angesehen?

Als Jude habe ich und Millionen von anderen Juden in der Sowjetunion gelitten. Ich möchte nicht von denen akzeptiert werden, die Putin unterstützen. Das wäre eine Schande für mich. Es gibt viele Russen, die in den Westen geflohen sind. Es gibt auch viele, die im Land geblieben sind und Putin nicht unterstützen. Sie bleiben wegen ihrer Familie, weil sie Kinder haben oder ihre Eltern pflegen müssen. Mit diesen allen fühle ich mich verbunden.

In Luzern wurde gerade ein Konzert mit Anna Netrebko abgesagt. Man befürchtete in der Stadt zu viel Unruhe. Wie beurteilen Sie diesen politisch umstrittenen russischen Weltstar?

Für mich ist das eine komplexe Frage. Anna Netrebko ist nicht bekannt als Künstlerin, die jahrelang eine besondere Nähe zu Putin aufgewiesen hat. Es gibt kein Schwarz-Weiß, sondern viele Grautöne.

»Sie verteidigen nicht nur sich, sondern auch uns im Westen.«

Jewgeni Kissin

Mit welchem Gefühl schauen Sie in die Zukunft?

Um ehrlich zu sein – mit einem sehr mulmigen Gefühl. Was Israel angeht, Taiwan ebenfalls und auch bezüglich der Ukraine. Der Westen hat sich wirtschaftlich von Diktaturen in Russland, China und in arabischen Staaten abhängig gemacht und dabei seine Ideale von Freiheit, Demokratie und Gerechtigkeit verraten. Ich weiß nicht, wie er sich aus diesem Dilemma befreien kann. Ich sehe auch keine starken Politiker wie in der Vergangenheit etwa Winston Churchill oder Charles de Gaulle. Aber wir wissen aus der Geschichte, dass die Menschen handeln, wenn sie in direkter Gefahr sind. Leider wird diese Erkenntnis spät kommen, was viele weitere Opfer fordern wird. Die Ukrainer haben sich sofort gewehrt, obwohl sie viel schwächer sind. Sie verteidigen nicht nur sich, sondern auch uns im Westen.

Bei dieser pessimistischen Sicht – welche Rolle spielt für Sie die Musik?

Musik kann missbraucht werden, aber auch auf eine positive Weise wirken. Ich versuche, Musik in einem guten Sinne zu verwenden, in dem ich versuche, als Pianist mein Publikum im Innersten zu berühren. Vor zwei Jahren habe ich ein Klaviertrio komponiert, das im G. Henle Verlag erschienen ist. Es setzt sich direkt mit dem Krieg in der Ukraine auseinander, thematisiert die russische Aggression, das Leid der ukrainischen Bevölkerung und im Finale den ukrainischen Sieg, der wirklich auch stattfinden muss. Andernfalls sehe ich schwarz für Europa.  

Ihr Klavierabend am 25. Juni im KKL Luzern findet im Rahmen des Odessa Classics Festival statt. Es wurde 2015, ein Jahr nach Russlands Annexion der Krim gegründet und findet dieses Jahr zum zehnten Mal statt. Warum machen Sie bei diesem Festival mit?

Weil ich dieses Festival liebe und seinen Organisator, den ukrainischen Pianisten Alexey Botvinov, sehr schätze. Was in den letzten zwei Jahren in der ganzen Ukraine und in Odessa im Speziellen passiert, ist furchtbar. Seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022 unterstütze ich das Land und seine Menschen auf unterschiedliche Weise. Meine Teilnahme an diesem Festival ist eine davon.  

Sie spielen in Luzern Werke von Beethoven, Brahms, Chopins und Prokofiew. Hat ihr Konzertprogramm etwas zu tun mit der speziellen Situation in Odessa?

Nein. Ich wähle meine Konzertprogramme nicht für bestimmte Anlässe aus, sondern für eine ganze Saison. Aber wenn ich wie in dem bevorstehenden Luzerner Konzert das tragische Nocturne op. 48 Nr. 2 in fis-Moll von Chopin spiele, dann werde ich dabei natürlich an die Tragödie denken, die sich gegenwärtig in der Ukraine abspielt.

Für den Festivaldirektor Alexey Botvinov, ist es wichtig, dass auch Musik russischer Komponisten beim Odessa Classics Festival gespielt wird. Aus dem ukrainischen Musikleben ist russische Musik seit Kriegsausbruch verbannt. Haben Sie Verständnis dafür?

Die Ukrainer verbinden diese Musik gegenwärtig mit denen, die sie töten. Das kann ich verstehen.

Klavierrezital Jewgeni Kissin im Rahmen von Odessa Classics, Werke von Beethoven, Chopin, Brahms und Prokofjew. Dienstag, 25. Juni 2024, 19.30 Uhr, KKL Luzern.

Georg Rudiger

Georg Rudiger hat Musikwissenschaft, Geschichte und Germanistik in Freiburg und Wien studiert. Er beobachtet von Freiburg aus das Musikleben im Südwesten Deutschlands, der Schweiz und dem Elsass - als fester Freier für die Badische Zeitung, überregional u.a. für die Neue Zürcher Zeitung, neue musikzeitung und Der Tagesspiegel. Er ist bei wichtigen Musikfestivals und Opernpremieren (Jurymitglied der Opernwelt), gelegentlich auch Rock- und Jazzkonzerten.

Fördern

Artikel auf BackstageClassical sind kostenlos. Wir freuen uns, wenn Sie unabhängigen Klassik-Journalismus fördern.

Mehr aktuelle Artikel

Die emanzipierte Muse

Regisseurin und Volksopern-Intendantin Lotte de Beer liefert in Straßburg eine poetische Lesart von Les Contes d’Hoffmann. 

Die Klassik-Zukunft entscheidet sich jetzt

Heute geht es um die Frage, wie die Bundestagswahl unsere Klassik-Szene verändern kann, wie Komponisten die GEMA kritisieren und wie sich Musik auch in der Krise wirtschaftlich organisieren lässt.  

Klassik-Komponisten wütend auf GEMA

Die GEMA plant neue Kriterien für die Ausschüttung ihrer Gelder. Prominente Klassik-Künstler befürchten, dass die Neuordnung auf ihre Kosten geht. BackstageClassical berichtet Exklusiv über ihre Protestbriefe.

Don't Miss