Die Debatte um den Dirigenten François-Xavier Roth ist entgleist, findet Stephan Knies. Ein Zwischenruf.
Vorneweg: Ich habe selber anzügliche Bilder, ungewollte Küsse und Grapschereien und Aufforderungen zum Sex von Vorgesetzten im Theater bekommen. Auch verknüpft mit Versprechungen, dass sich da sicher neue Möglichkeiten auftun für die Karriere. Und da war ich nicht geschützt durch einen Orchester-Kollektivvertrag, sondern konnte jederzeit zur nächsten Spielzeit rausfliegen. Und: Ich erwarte keineswegs, erst recht nicht heute, dass jeder oder jede reagiert wie ich in meiner damaligen Unbekümmertheit und sich kopfschüttelnd und/oder grinsend an die Stirne fasst und als Standardantwort »vergiss es!« schickt, akustisch oder schriftlich.
Anzügliche Bilder an Untergebene sind heute nicht tolerierbar und hätten es noch nie sein dürfen. Die Debatte um Machtmissbrauch ist wichtig und richtig, und auch der öffentliche Diskurs über jeden Einzelfall ist es – wenn er ohne Schaum vor dem Mund geführt wird. Und genau hier habe ich ein Problem mit der Causa François-Xavier Roth, in der der Diskurs in meinen Augen entgleist ist, auch hier auf Backstage Classical. Damit fühle ich mich nicht wohl, denn das hier ist ja nicht Facebook, wo Entgleisungen in den Kommentaren der Standard sind. Mein Kritikpunkt: Die Argumente sind zu einseitig, zu ungenau, zu polemisch, teilweise falsch adressiert – oder schlicht falsch.
Der Fall Roth bei BackstageClassical: Vor einigen Tagen hatte die Pianistin Shoko Kuroe den Fall François-Xavier Roth kommentiert. Für sie ist es ein Fall von Täter-Migration. Axel Brüggemann fragte bereits vor einiger Zeit in seinem Essay danach, ob Kulturinstitutionen überhaupt in der Lage sind, mit Verfehlungen umzugehen. Auch der Dozent der Musikwissenschaft an der TU Dortmund, Alexander Gurdon, kritisierte das Festhalten an Roth als falsche Bestätigung seiner Macht.
Unstrittig ist, dass sich Roth einen schwerwiegenden Fehltritt in Form sexueller Belästigung offenbar mehrfach geleistet hat. Dies hat er eingeräumt, sich dafür öffentlich entschuldigt, zahlreiche Dirigate (freiwillig oder nicht) abgesagt, sich therapeutische Hilfe geholt und erklärt, dass es derlei Fehltritte nicht mehr vorkommen werden – und ist über Jahre gebrandmarkt. Was soll er denn nun noch tun nach Ansicht derer, denen all das nicht reicht? Sich selbst anzeigen? Das Material liegt ja vor, das würde die Staatsanwaltschaft schon tun, falls es justiziabel ist. Nie wieder auftreten? Das ist meiner Meinung nach nun wirklich nicht verhältnismäßig für Kuss-Emojis und Dickpics, so ätzend die sein mögen. Was dann?
Schiefe Argumentationen
Die Kollegen Shoko Kuroe und Alexander Gurdon benutzen beide statt des korrekten Begriffes »sexuelle Belästigung« den Begriff des »sexuellen Machtmissbrauchs«. Davon – also von der Verknüpfung der Anmache mit beruflichen Versprechungen oder Drohungen – ist aber hier jedenfalls öffentlich nichts bekannt und wird auch nichts belegt oder weiter ausgeführt. Shoko Kuroe nimmt dieses Schlagwort nun gleich weiter als Grundlage für die Erklärung des Begriffs »Tätermigration«. Ein Täter wechsele »unauffällig« zu einer anderen Institution, um einer Aufklärung zu entgehen. Davon kann ja hier nun wirklich nicht die Rede sein. Das Beweismaterial liegt vor, der Wechsel der Institution war ja keine Reaktion zur Vertuschung, sondern lange vor Bekanntwerden der Belästigungen beschlossene Sache. Dass es in Köln nach Beendigung des Vertrages nun keine Prüfung geben könnte, stimmt ja nicht für Roth, sondern nur für die Institution. Damit ist aber die ganze Argumentation hinfällig, denn alleine das Wort »Tätermigration« wie auch seine Erklärung zielen ja auf einen einzelnen Schuldigen, nicht auf die fehlende Prüfung von mutmaßlichen Verfehlungen einer Institution. Dass es Tätermigration gab und gibt, wird niemand bezweifeln. Hier aber wird ein Schlagwort samt der Umstände schief auf diesen Fall aufgeklebt, und zwar auf Kosten der Fakten. Das hilft niemandem.
Alexander Gurdons Fazit »erst kommt der Missbrauch, dann die Macht« bringt bei mir die gleiche Frage auf: Kann oder will er nicht unterscheiden zwischen Belästigung und sexuellem Machtmissbrauch, wie ich ihn erlebt habe? Worin soll denn die»Macht« bestehen, die ihren Ausdruck im bereits vor der Öffentlichwerdung der Belästigungen feststehenden Wechsel finden soll?
Auf seine Frage »wie sehr möchte man die Entschuldigung eines Vermeintlich-Übergriffigen glauben?« (weil Roth sich durch einen sicher diskutablen Anwalt vertreten lässt) lautet meine Gegenfrage: Wieso möchte man ihm nicht glauben? (Und, warum nun plötzlich nur »vermeintlich« übergriffig?) Zu seinem Einwurf »Wenn aber das Orchester anscheinend mit so viel Papier vor Roth geschützt werden muss…« zwei weitere Gegenfragen: Glaubt wirklich noch irgendjemand, dass Roth noch jemals eine anzügliche Nachricht an eine Orchestermusikerin verschicken wird? Und: Wer ist gemeint mit »das Orchester«?
Falsche Adressaten
Denn hier kommt erneut die Sache mit den falschen Adressaten ins Spiel: Ein Orchester wird vertreten vom aus den Reihen der und durch die Mitglieder gewählten Orchestervorstand, auch beim SWR. Und dieser hat, man kann es in der Verlautbarung des Senders zum Festhalten an Roth nachlesen, diesem Festhalten zugestimmt. Hat also die demokratisch gewählte Vertretung des Orchesters einen Beschluss mitgetragen, in der „das Orchester“ mit viel Papier »geschützt« werden muss? Und falls ja: Was kann Roth dafür?
Um das Stichwort gleich aufzugreifen: Gibt es in Köln tatsächlich »das jahrelange Netzwerk, das ihn wohl (sic!) geschützt hat« (Gurdon), dann muss die Forderung einer Aufarbeitung an die Adresse der Institution und deren Strukturen gehen – so wird sie auch gestellt, das aber gehört nicht in die Debatte um einen Folgevertrag an anderer Stelle.
Von der Institution nochmal zur Person und der nochmaligen Feststellung: Ein Dickpic ist nicht tolerierbar. Dass aber hier offenkundig falsche Begriffe, Übertreibungen und schlicht Unwahrheiten Teil der Debatte geworden sind, hilft vielleicht den Klickzahlen, nicht aber einem Diskurs, der doch dabei helfen soll, faule Strukturen im Kulturbetrieb zu verbessern. Was justiziabel ist, muss juristisch aufgearbeitet werden, das schein aber bisher hier nicht der Fall zu sein. Was moralisch verwerflich ist (und darum drehen sich die meisten Kommentare), muss, besonders wenn es von einer Führungsperson kommt, benannt und die Führungsperson damit konfrontiert werden. Ist das – wie in diesem Fall – passiert, und gibt es glaubhafte Anzeichen, dass diese Konfrontation zu Reue und einer Änderung des Verhaltens geführt hat, ist es wirklich Zeit, die Phase der erregten und mit falschen Begriffen und Behauptungen geführten Debatte zu verlassen. Noch dazu, wenn jedem klar ist, dass vermutlich schon ein unerwünschtes Kuss-Emoji (!), sicher aber ein einziges weiteres Dickpic das sofortige Ende der Karriere von Roth bedeuten würde. Und wohl, nach dieser Debatte, auch das anderer Dickpic-Versender in Kultur-Leitungsfunktionen. Und alleine das widerlegt die vielen wütenden Wortmeldungen, dass die Anzeige der Vorfälle durch die Betroffenen nun überhaupt keine Wirkung gezeigt haben soll.
Ich werde im kommenden Februar das Konzert anhören, in dem Roth die Berliner Philharmoniker dirigiert. Und ich freue mich darauf.