Sebastian Baumgarten inszeniert Berlioz‘ »La damnation de Faust« in Kassel und erklärt seine Ideen zum Glück im Programmheft.
English summary: Sebastian Baumgarten stages Berlioz’s La damnation de Faust in Kassel, now titled Faust. Musiktheater, blending war imagery, capitalism critique, and ideological themes. The production features electronic sounds and skeletal musical reductions. While musically rich, its abundance of ideas risks overwhelming.
Das Staatstheater Kassel hat sich an La damnation de Faust, das musikdramaturgische Sorgenkind von Hector Berlioz, gewagt. Das Ganze heißt nun Faust. Musiktheater nach der Oper La damnation de Faust von Hector Berlioz. Regie führte ein »verlorener Sohn« des Hauses am Friedrichsplatz. Sebastian Baumgarten war hier von 1999 bis 2002 am Beginn einer steilen Karriere Oberspielleiter und stellvertretender Operndirektor und hatte unter dem Intendant von Christoph Nix die Lizenz, das Tafelsilber des Opernrepertoires ordentlich scheppern zu lassen. Auch heute noch hört man manchmal in der Stadt von dem legendären Rosenkavalier raunen, der im April 2000 zu dem größten Aufruhr geführt hat, den das an sich friedliche Kasseler Publikum in den letzten Jahrzehnten bot. Die Meinungen waren sehr geteilt, aber man diskutierte heftig über Theater. Ist ja nicht verkehrt.
Die Berlioz-Premiere ging gesittet zu Ende, im Publikum war man wohl überwiegend beeindruckt davon, wie das Team die handlungsarmen Faust-Szenen bebildert hat. Aus Reihe 12 und 13 – direkt vor dem Kritiker – erscholl mit dem Schlussakkord Jubel wie im Fußballstadion. Das gab es auch schon bei Otello in der letzten Spielzeit. Merkwürdig. Bestellte Claquere?
Saftige Kost
Musikalisch war der knapp zweistündige Abend durchaus attraktiv. Kiril Stankow, derzeit – nach dem Verzicht von GMD Francesco Angelico auf Operndirigate und dem Weggang von Kapellmeister Mario Hartmuth ans Staatstheater Hannover – quasi ein Chef ohne Titel, bot mit seinem Orchester saftige Kost, arbeitete oft mit dicken Pinsel, und das ist bei dieser Partitur durchaus angemessen, wenn nicht obligat.

Gewinner des Abends war Filippo Bettoschi als Méphistofélès. Er gab der diabolischen Rolle Kontur und Abgrund und spielte zudem überzeugend. Eric Laporte als Faust sang tadellos, wenngleich sein heller, schöner Tenor wenig Brüche und Tiefe zu geben imstande ist. Ilseyar Khayrullova hat die Rolle der Marguerite belcantoartig angelegt. Ihre Wunschkonzertarie D‘amour, l‘ardent flamme gelang zusammen mit dem herrlichen Englischhornsolo bewegend. Don Lee als Einheizer Brander in Auerbachs Keller sorgte schließlich für einen hörenswerten Farbtupfer.
Die Chöre machten weitgehend Freude, trugen dick auf und füllten den großen Raum mühelos. Wenn man sie teilt und zudem weit vom Orchester platziert, kann man freilich nicht erwarten, dass alles stets deckungsgleich ankommt.
Um eine eigene Marke zu setzen, hatte man zum Urtext-Berlioz zwei weitere musikalische Schichten hinzugenommen. Stefan Schneider steuerte elektronische Klänge bei, die nicht weiter störten, aber auch keinen neuen Raum öffneten, und Felix Linsmeier hatte einige Stellen, wie im Programmheft erläutert, auf ihren »archaischen Kern skelettiert«. So im ungarischen Marsch und in Gretchens Thule-Lied. Das war überraschend, schlug aber interessante Pflöcke ein.
Überfülle an Ideen
Sebastian Baumgarten hatte sich viel vorgenommen. Es herrscht Krieg, überdeutlich vorgeführt an Videos auf den Galerien der Raumbühne Antipolis. Subtiler die von der Schauspielerin Annett Kruschke (»Ordonnanz«) eindrucksvoll von oben gelesenen Texte von Nikolaus Lenau, Wolfgang Borchert und Alexander Kluge. »Europa« ist ein Kernwort.
Ansonsten ist die Lektüre der Programmhefttextes vor dem ersten Takt Pflicht. Man hat ziemlich viel hineinpacken wollen. Faust wird als »Prototyp eines von der Moderne paralysierten romantischen Sinnsuchers« gedacht, »benutzbar für faschistische Ideologie«. Und sonst: »Entfremdete Subjekte in einer Zwischenzeit«, die Banalität des Bösen, Manchester-Kapitalismus, romantische Naturverklärung und Militarisierung, alle sind verrückt geworden und – versteht sich – die Kirche bekommt auch ihr Fett weg.
Das Geschehen spielt sich in einem Hof zwischen tristen Plattenbauten ab (Bühne: Barbara Steiner, Kostüme: Ines Burisch). Eine große Jurte auf der Drehbühne kann als Auerbachs Keller genutzt werden (gut gelungen die Amen-Fuge der aus ihrem Tableau vivant erwachten Trinkgesellschaft) oder als Gretchens Stube. Mephisto spielt den Zupfbass zum Rendez-vous. Witzig! Ansonsten viel Schwarz: Die Hölle trumpft prächtig auf. Faust als Verdammter hat einen Koffer. Ist er nun Herrscher über die Atombombe?
Gretchens Apotheose fällt aus, damit konnte die Regie nun wirklich nichts anfangen. Hingucker gab es nicht wenige: die opulente Osterliturgie, ein Ballett der Körperteile oder Gretchen als Tänzerin mit zwei Köpfen. Die gewisse Langatmigkeit der Légende dramatique wurde mit diesen geballten Mitteln gemildert.
Ein durchaus ernsthaftes Regie-Unterfangen, jedoch mit einer Vielzahl von Ideen und Idées fixes hart an der Überforderungsschwelle.
★★★☆☆