Regie-Legende: »Straße ist die neue Bühne«

März 30, 2024
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Christoph Schlingensief mit einem Megaphon
Still aus dem Film »Chance 2000“ mit Christoph Schlingensief (Foto: YouTube)

Regie-Legende Roberto Ciulli hat in der Süddeutschen Zeitung Zweifel angemeldet, ob die Bühne noch immer die Kunst der Zukunft ist. Gedanken zur Bedeutung der Kunst in einer Welt des Wandels.

Regie-Legende Roberto Ciulli hat in der Süddeutschen Zeitung Zweifel angemeldet, ob die Bühne noch immer die Kunst der Zukunft ist: »Der Kampf um Veränderung geht weg von der Bühne«, sagt er, »weg vom Bereich der Kunst, hinaus auf die Straße. (…)  Es gibt die Zeit der Literatur, des Romans – und es gibt die Zeit der Manifeste und der Kampfansagen.«

Tatsächlich beschäftigt das Thema, wie die Kunst in der Gesellschaft wirkt, viele Kunstschaffende. Christoph Schlingensief war vielleicht einer der ersten Künstler, die mit der Gründung der Partei »Chance 2000« zum ersten Mal Kultur als reale Politik verankert hat. Ein Spiel, das inzwischen selbstverständlich geworden ist, egal ob in der Satire-Partei »Die Partei« oder im »Zentrum für politische Schönheit«, in dem Kunst und Wirklichkeit längst identisch sind. Und auch die Aktionen der »Letzten Generation« können sowohl als Polit-Aktion als auch als Kunstaktion gelesen werden.

Ich habe mir in meinem Buch »Die Zwei-Klassik-Gesellschaft« Gedanken über diesem Paradigmawechsel gemacht. Hier ein kleiner Auszug:

Erhaben oder Politisch – aus »Die Zwei-Kassik-Gesellschaft«

Viele Künstlerinnen und Künstler scheinen heute ebenfalls das Vertrauen in die Bühne als geeigneten Raum verloren zu haben, in dem politische Debatten ausgetragen werden. Wiebel erklärte bereits damals, dass der politische Kampf jenseits des kulturellen Raumes für ihn nicht denkbar sei: „Die Zukunft des Theaters liegt nicht auf der Straße in der Prügelei mit der Polizei und auch nicht im Rückzug in den Underground.“ 

Man könnte diese Worte als prophetische Absage an Bewegungen wie die „Letzte Generation“ verstehen, die heute losgelöst vom Theater die Inszenierung als politische Aktion betreiben. „Die Prügelei mit den Polizisten auf der Bühne abzubilden“, hielt Wiebel übrigens für die „schlimmste Anbiederei“, denn „das Theater kann nie die Realität einholen, indem oder weil es sie abbildet“. So gesehen, wurde das Theater heute zum Teil von der Realität des politischen Aktivismus überholt. 

Dabei hat auch diese Bewegung durchaus kulturelle Vorbilder. Joseph Beuys, Mitbegründer der Grünen, hat schon früh das Museum profaniert und das Profane zur Kunst erhoben. Als Aktionskünstler hat er versucht, einen dritten Weg jenseits von Bühne und Museum einzuschlagen, die Kunst im Alltag zu etablieren. Einer seiner Slogans lautete „Jeder Mensch ist ein Künstler, ob er nun bei der Müllabfuhr ist, Krankenpfleger, Arzt, Ingenieur oder Landwirt.“ 

»Näher an die reale Politik, als Schlingensief es mit dieser Aktion tat, kann man Kunst kaum bringen.«

Auszug aus »Die Zwei-Klassik-Gesellschaft«

Beuys hatte die Umkehr des profanen Raumes in einen Kunstraum vorangetrieben, Christoph Schlingensief ging einen Schritt weiter. Er löste die Grenzen zwischen Kunst und Politik vollkommen auf, legte seine Inszenierungen direkt in der Wirklichkeit an, um die Politik durch Kunst konkret zu verändern. Schlingensief lud Arbeitslose zum Baden im Wolfgangsee ein, um die Ferienresidenz von Kanzler Helmut Kohl zu überschwemmen (unter dem Motto „Tötet Helmut Kohl“), stellte Container mit Asylbewerbern in der Wiener Innenstadt auf, die per Abstimmung abgeschoben werden konnten, und vollendete mit der Gründung der realen Kunstpartei Chance 2000 die vollkommene Verschmelzung von Kunst und Politik. 1998 trat Chance 2000 bei der Bundestagswahl an und holte 0,007 Prozent der Erststimmen. Näher an die reale Politik, als Schlingensief es mit dieser Aktion tat, kann man Kunst kaum bringen. Bis heute ruft seine Politkunst Nachfolger hervor, etwa die Gründung der Partei Die Partei aus den Reihen der Titanic-Redaktion 2004 oder die Aktionskünstler vom Zentrum für Politische Schönheit, deren größter Coup der Bau eines Holocaust-Mahnmals im Garten des Nachbarhauses von AfD-Politiker Björn Höcke war. 

Was Christoph Schlingensief von seinen Nachfolgern unterscheidet, ist, dass er neben aller Aktionskunst nie den Glauben an die Bühne als eigenständigen, politischen Raum aufgegeben hat. Seine Hasen-Parsifal-Inszenierung bei den Bayreuther Festspielen war kompromisslos theatral gedacht, seine Krebskrankheit führte er auch auf seine Arbeit bei den Bayreuther Festspielen zurück und versuchte, sie mit dem Stück Kirche der Angst auf offener Bühne zu behandeln. Schlingensief gründete ein Operndorf in Burkina Faso, das mit Oper allerdings nur wenig zu tun hatte. Es ist ein Sozialprojekt, das die Kunst haupt- sächlich als Behauptung im Namen trägt. Kunst wurde von Schlingensief in fast all seinen Aktionen im Politischen aufgelöst oder das Politische in der Kunst – man könnte auch sagen: Beide Sphären, die Kultur wie die Politik, waren in seinen Aktionen allgegenwärtig oder eben gleichzeitig aufgelöst. 

Film-Cover »Chance 2000« von Christoph Schlingensief

Wollte man die Positionen von Politik und Kultur aus heutiger Perspektive bestimmen, müsste man sich diesem Unterfangen wohl von zwei Seiten nähern. Auf der einen Seite stehen jene Künstlerinnen und Künstler, die auch weiterhin an die Bühne als Raum der politischen Ordnung und Provokation glauben, die Erben Peymanns, Neuenfels’ oder Castorfs. Sie erreichen mit ihrer Arbeit allerdings kaum noch einen Aufregungsgrad, der über die Mauern der Kultur hinausweist. Theaterprovokati- on bedeutet heute in erster Linie die Provokation jenes Publikums, das bereits im Theater sitzt, also jener „sterbenden Generation“, die vom Theater den Konsum der eigenen Erwartung verlangt (und dieser kann eben auch der Konsum politischer Provokation sein). Das von Martin Wiebel bereits 1968 beschriebene Dilemma haben die Bühnen noch immer nicht aufgelöst. Da wirkt es fast tragisch, dass ausgerechnet Claus Peymann, der die andauernde Provokation als Ritual totgeritten hat, die radikale Innovation eines Schlingensief bis zu dessen viel zu frühem Tod im Jahre 2010 nie erkannt hat und ihn lediglich als „genialen Dilettanten“ akzeptierte, als „großen Entertainer“, dessen „Verständnis von Theater“ Peymann nicht teilen wollte. Es ist wohl auch dieser ignorante Blick auf die Entstehung neuer, moderner, ja postmoderner Kunst- räume, der die tiefe Krise des altbewährten, hermetischen Theaters offenbart. 

Auf der anderen Seite beobachten wir jene Entwicklung, die sich konkret auf Beuys und Schlingensief bezieht: die politische Aktionskunst. Sie hat die Bühne als Raum des Diskurses weitgehend aufgegeben. Ihre Kunstform ist bis zur Unkenntlichkeit mit der Realpolitik verschmolzen, im Glauben, so besser auf die Welt wirken zu können. Das Zentrum für Politische Schönheit nennt seine Aktionen noch Kunst, die Protagonisten der „Letzten Generation“ verstehen sich dagegen nicht als Künstlerinnen und Künstler, sondern als reine politische Aktivisten. Dabei ist die in der Kunst gelernte Inszenierung des Spektakels für sie nur Mittel zum Zweck geworden, die Kultur ist zur Requisite geschrumpft, um Aufmerksamkeit zu generieren. 

Titel: »Die Zwei-Klassik-Gesellschaft«

Verlag: FAZ Buch

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Axel Brüggemann

Axel Brüggemann arbeitet als Autor, Regisseur und Moderator. Er war als Kulturredakteur und Textchef bei der Welt am Sonntag tätig und schrieb danach für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. Heute veröffentlicht er u.a. im Tagesspiegel, im Freitag, der Jüdischen Allgemeinen oder in der Luzerner Zeitung. Er arbeitet für Radiosender wie den Deutschlandfunk, den WDR oder den HR. Seine Fernsehsendungen und Dokumentationen (für ARD, ZDF, arte oder SKY) wurden für den Grimmepreis nominiert und mit dem Bayerischen Fernsehpreis ausgezeichnet. Brüggemann schrieb zahlreiche Bücher u.a. für Bärenreiter, Rowohlt, Beltz & Gelberg oder FAZ Buch.

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