Das Bergen Festival sucht in der Geschichte nach Antworten für unsere Zeit: Was haben Flüchtlinge vor den Nazis und die Stimme von Kirsten Flagstad uns heute noch zu sagen?
English summary: At the 73rd Bergen Festival, art becomes a vessel for confronting colonial trauma, fascism, and gender boundaries. Inspired by voices like soprano Kirsten Flagstad and artists fleeing the Nazis, the festival reimagines history through bold performances, surrealism, and revived archives. It champions empathy, resistance, and creativity as foundations of democracy in uncertain times.
Ein kräftiger Wind fegt an diesem sonnigen Mittag über den großen Marktplatz, den Torgallmenningen, in Bergen. Er verfängt sich in den steifen Mützen der Matrosen-Figuren, die das wuchtige Bronze-Denkmal stützen, vor dem die Open Air-Bühne aufgebaut ist. Quadratisch angeordnete Reliefs fassen Norwegens Geschichte als Seefahrer-Nation zusammen, zeigen Walfang- und Handelsfahrten, erzählen von der Entdeckung Amerikas durch die Wikinger im Frühmittelalter und von der Wiederentdeckung Grönlands im 18. Jahrhundert. Der Missionar Hans Egede steht mit erhobenem Zeigefinger vor den Ureinwohnern, um ihnen das christliche Evangelium zu predigen.
Auf Höhe seines Zeigefingers haben sich Solisten aus Grete Peddersens Vokalensemble aufgestellt. Gegen den missionarischen Eifer setzen sie auf den Schmelz ihrer Stimmen. Sie sind die Ouvertüre zu einem Festival, das in seiner 73. Ausgabe besonders den Traumata der Kolonialisierung mit neuen Blickwinkeln und Ideen begegnen will. Dabei lassen die Festspiele längst verklungene Stimmen in überraschender Begleitung auferstehen, überspringen nicht nur Genre- sondern auch Gender-Grenzen.
Kunst als Garant der Demokratie
In einer emotionalen Ansprache betont die Bürgermeisterin Marit Warncke die Vielfalt von Kunst als Garant der Demokratie – gewichtige Worte. Gerade, nachdem der konservative Bergener Stadtrat im vergangenen Jahr plante, die Kulturzuschüsse um 2,7 Millionen Kronen zu kürzen und einzelne Veranstaltungen ins Kreuzfeuer von Rechtspopulisten gerieten.
Gegenwind erhält das Festival zudem wegen seiner Subventionierung durch den halbstaatlichen Ölkonzern Equinor. In diesem Jahr protestiert die Gruppe Menschen gegen fossile Energien. Die Demonstranten entrollen ihr Banner, auf dem sie fordern, die Kunst vom Öl zu befreien. All das tun sie aber höflicherweise erst in der zweiten Vorstellung der Eröffnungsproduktion.
Bei der Premiere am Abend zuvor erhebt sich das Publikum stattdessen in der großen Grieghalle zu Ehren des norwegischen Königpaars, während sich der schwarze Kapitän auf der Bühne einen riesigen Lautsprecher ans Auge presst. So, als ob er durch all die Parolen des alten Europas auch die Zielküste seines Schiffs ausmachen könnte. »A helping hand to all the undiserables: Gypsies, jews communists, free-thinkers, surrealists«, ruft er ins Publikum.

Flucht vor den Nazis
Historische Vorlage für William Kentridges Stück The Great Yes, The Great No ist die Fahrt auf einem verrotteten Frachtschiff, das im März 1941 rund 200 Künstler und Intellektuelle auf ihrer Flucht vor den Nazis von Marseille nach Martinique brachte. Unter ihnen der Surrealist André Breton, die Schriftstellerin Anna Seghers und der Ethnologe Levi Strauss. Doch Kentridges Bühnenschiff segelt rasch über die geschichtlichen Fakten. Hinter sieben hinreissend singenden Sängerinnen flimmern animierte Kaffeekannen und Schraubstöcke, die mit kopflosen Anzügen Charleston auf Schubert tanzen. Eine poetische Satire auf die Borniertheit der weißen Europäer, die mit Trippel-Schrittchen Kolonialismus und Faschismus als die tiefen Abgründe ihrer eigenen Geschichte markieren.
Papiermasken mit den Konterfeis von Stalin, Trotzki, Lenin, Josephine Baker, Aimé Césaire und Frantz Fannon schmieden vor den Gesichtern der Darstellerinnen neue Allianzen zwischen Surrealismus, Négritude-Bewegung und sozialistischen Ideen, während sich ihre Schatten ins Groteske verzerren.
Das Vergangene schippert in unsere Zeit
Für Intendant Lars Petter Hagen steht Kentridge wie kein anderer für die komplexe, ja widersprüchliche Auseinandersetzung mit der Geschichte »Gerade in diesen Zeiten, in denen die Politik immer mit Ja und Nein argumentiert, sucht er die Wahrheit in der Peripherie, im Ungewissen«, sagt Hagen. Kentridge wolle die unterschiedlichsten Botschaften der Denker, die auf seinem Schiff segeln, nicht vereinfachen. Im Gegenteil, er erfindet neue hinzu, verknüpft historische mit fiktiven Begegnungen zu einer traumähnlichen Erzählung mit unendlich vielen Strängen.
Petter deutet auf das Programmheft. Das Cover zeigt ein bekanntes romantisches Motiv, die Brautfahrt auf dem Hadangerfjord , ein Gemeinschaftswerk der norwegischen Maler Adolph Tidemand und Hans Frederik Gude, das 1848 als Auftragswerk in Düsseldorf entstand und zu Beginn des 20. Jahrhunderts so populär wurde, dass sich viele Familien eine Kopie davon in ihr Wohnzimmer hängten«, erklärt Peter. Für das Festspiel-Cover wurden Repliken auf dem Flohmarkt aufgekauft, zerschnitten und neu zusammengesetzt. Ein Kunstwerk als Plädoyer für den kreativen Umgang mit den Relikten der Vergangenheit – Fakten, die in anderer Zusammensetzung überraschende Lösungen und Geheimnisse freigeben und neue Erzählungen ermöglichen. »Dieses Bild sagt viel darüber aus, wie wir mit diesem großen Mehrspartenfestival der Vergangenheit begegnen wollen«
Adagio der Innerlichkeit
Beinahe ungehobelt stürzen sich die Mitglieder des Novo-Quartetts am nächsten Morgen auf Debussys sehnsüchtigen ersten Satz aus dessen einzigem Streichquartett. Der nimmt nicht nur die Melancholie Edvard Griegs auf-, sondern auch die sperrige Expressivität in Schostakowitschs ES-Dur Quartett vorweg. In Troldsalen, dem hellen Kammermusiksaal, der in den Felsen unterhalb von Griegs Geburtsvilla eingelassen wurde, ist diese Seelenverwandtschaft förmlich zu greifen.

Besonders im Adagio verbündet sich Schostakowitsch mit Debussys impressionistischen Duktus. Hier beeindruckt nun das Saphir Quartett mit sattem Klang, der trotzdem jede einzelne Stimme klar hervortreten lässt. Traumverloren setzt die erste Geige ihre melodischen Einsprengsel aus weiter Ferne an. Inmitten ihres Solos bricht die Sonne durch den bewölkten Himmel und verwandelt die Musikerinnen und Musiker im Gegenlicht in ein Schattenkabinett. Figuren wie aus William Kentridges Bühnensetting, die als scharfe Scherenschnitte vor der idyllischen Fjordlandschaft hervortreten. Griegs Kompositionshütte am Wasser wirkt plötzlich wie ein rotes Puppenhäuschen.
Am Ende verschmelzen die beiden Quartette zu einer Formation für Mendelssohns Oktett – das zu einer großen Verbeugung vor Schostakowitschs 50. Todesjahr wird. Dabei erweckt die Virtuosität der jungen Streicherinnen den Pionier-Geist vergangener Epochen: Debussys impressionistische Neuerungen der Quartett-Form, ebenso wie Mendelssohns romantische Avantgarde-Leistung eines Oktetts.
Ein Fest für Kirsten Flagstad
Der Surrealismus aus Kentridges Eröffnungsproduktion legt sich auch über das Konzert zu Ehren der norwegischen Sopran-Diva Kirsten Flagstad. Ehrfürchtig hat sich das Edvard Grieg Ensemble in der 750 Jahre alten Håkonshalle um einen riesigen Lautsprecher gestellt. Flagstad war die erste Sopranistin, deren später internationaler Durchbruch mit einer Radioübertragung (aus der Metropolitan Opera) im Februar 1935 startete. Bis heute gilt sie als eine der größten Wagner-Interpretinnen überhaupt, obwohl sie in ihren Anfängen hauptsächlich Operetten und alte Musik sang und erst 1933 zum ersten Mal nach Bayreuth eingeladen wurde.
Das a capella- Ensemble unter der Leitung von Stephen Higgins hat in den Archiven gestöbert, Flagstadts Rundfunkaufnahmen und Live-Mitschnitte digital entkernt und neue Arrangements ersonnen. Es liefert dabei aber weit mehr als eine überdrehte Karaoke-Hommage an eine tote Diva, der in der Nachkriegszeit eine Kollaboration mit den Nationalsozialisten unterstellt wurde. Vielmehr eröffnet dieses Konzert die Möglichkeit, historische Phrasierungen im wahrsten Sinne des Wortes zu verstehen, und sie in einen lebendigen Dialog zu übersetzen. In Purcells Dido-Arie erreicht das flehentliche »Remember me« auf diese Art eine neue Aussagedimension.

Unendlich zart bettet sich Flagstads Stimme in den live fein austarierten Ensemble-Klang, verwandelt die tatsächlichen Raum-und Zeit-Dimensionen in eine berührende Intensivierung ihres Lamentos. Allerdings reibt sich in Isoldes Liebestod das Arrangement an der historischen Phrasierung, verliert den für Wagner so wichtigen großen Bogen, und das ausgerechnet, nachdem direkt davor ein unterhaltsames Interview mit Flagstadt eingespielt wurde wo sie mit großem Nachdruck jungen Sängerinnen rät, von Wagner die Finger zu lassen: »Leave Wagner alone!«
Fürchte nicht die Liebe
An Edvard Griegs einzigem Liedzyklus Haugtussa haben sich alle norwegischen Primadonnen abgearbeitet. Als eine der ersten natürlich Kirsten Flagstad, jüngst auch Lise Davidsen. Doch in der Interpretation des samischen Mezzosopranisten Adrian Angelico entfaltet »das Mädchen aus den Bergen« wie der Titel übersetzt heißt, ungeahnte Expressivität.
Grieg hatte mit den Versen aus Arne Garborgs gleichnamigem Gedichtband zum ersten Mal Texte in Nynorsk vertont, sich aber auch thematisch Neuland erobert. Denn während in vergleichbaren Liedzyklen dieser Zeit der weibliche Radius auf heimisches Glück beschränkt bleibt, bricht Haugtussa in die Wildnis auf, um sich selbst zu finden.

»Du sollst die Liebe nicht fürchten, die sündigt und weint und vergisst« heißt es gleich im ersten Lied. In Adrain Angelicos Stimme perlt nicht nur Haugtussas Necken als sie sich zum ersten Mal verliebt und ausgelassen über Klippen und Bäche springt. Wenig später ergreift die Zuhörer in Angelicos dunklem Mezzo-Timbre die alles verzehrende Eifersucht und tiefe Verzweiflung einer Verlassenen. Grieg entwirft das Bild selbstbewusster, weiblicher Erotik, die trotz ihrer Widersprüche und ihres Scheiterns niemals dämonisiert wird.
In Angelicos Interpretation lösen sich die Gender-Grenzen auf, sie verwandelt Garborgs Zeilen zur Liebes-Erklärung an das Andersartige – womit sie die perfekte Überleitung zu zu einen Joik auf die eigene Schwester schafft. Dem Grundverständnis nach entsteht ein Joik, der gutturale, dem Jodeln verwandte a capella Gesang der Samen unmittelbar aus dem Leben mit der Natur: »Man Joikt nicht über etwas, sondern etwas«, erklärt Angelico im glitzernden Tüllrock, über den er das traditionelle Fibelhemd der Sami trägt. Joiken gilt als eine der ältesten Volksmusiktraditionen Europas. Vom 18. bis 20. Jahrhundert war sie in Norwegen als ritueller Schamanen-Gesang verboten. Noch 2014 sprach sich eine norwegische Kirche gegen seine Verwendung im Gottesdienst aus. Angelico verbindet das übersinnlich begabte Mädchen aus Griegs Melodien ganz selbstverständlich mit dem Joik und eröffnet Griegs berühmtem Zyklus damit einen neuen Horizont.

Da wir nicht wirklich alle im selben Boot sitzen, brauchen wir die Kunst und ihre vielschichtigen Angebote, um Empathie füreinander, Verständnis oder Liebe zu entwickeln. Wenn sie so wie hier in Bergen zu einer wilden Fahrt inspiriert. Zu einem Narrenschiff, oder gar zu einer großen Arche, die den widersprüchlichsten Standpunkten und Perspektiven Zuflucht bietet, wird sie zur echten Ressource – zu einer die das Öl, das sie bislang noch finanziert, überdauern wird.
Transparenzhinweis: Antonia Munding ist auf Einladung des Bergen-Festivals nach Norwegen gereist.