Das alte Bild der Hochkultur verschwindet aus unserer Gesellschaft – auch deshalb könnte die Kulturpolitik nun für den Kulturkampf von Ideologen gekapert werden. Das wäre fatal. Eine Bestandsaufnahme.
English summary: The traditional concept of high culture is vanishing, opening the door for ideologues to politicize cultural policy. Ulf Poschardt, editor of Welt, harshly attacks cultural elites and places hope in Wolfram Weimer’s authoritarian leadership. This reflects a broader trend: the depoliticized space of culture is being filled with political ideology. Formerly unifying cultural values have eroded, replaced by spectacle, instant commentary, and ideological battles. Critics fear Weimer will politicize his role as Culture Secretary, further undermining cultural autonomy rather than safeguarding its freedom.
Einen der brutalsten Kommentare zur Ernennung von Wolfram Weimer als Kulturstaatssekretär verfasste der Herausgeber der Welt, Ulf Poschardt, als er gegen die »Klima-Angsthasen, die Migrations-Verherrlicher und die Lockdown-Fetischisten« wetterte, die »in Redaktionen, Literaturhäusern und Theatern weite Teile der Gesellschaft tief entfremdet haben von den Eliten.« Für Poschardt sind sie ein Haufen »eitler, feiger und dummer« Menschen, die unfähig seien »aufzuräumen«. Seine ganzen Hoffnungen setzt er deshalb auf die harte Hand von Wolfram Weimer: »Lieben werden sie ihn eh nicht mehr«, glaubt Poschardt, »fürchten könnten sie ihn am Ende wohl.«
Was sich anhört wie aus dem Lehrbuch des Stalinismus, muss man erst einmal sacken lassen. Poschardt macht seine politischen Feinde vor allen Dingen in den Theatern, Kunsthallen und Literaturhäusern aus. Damit stößt er ins gleiche Horn wie AfD-Kultur-Demagoge Marc Jongen, der die Ideologisierung innerhalb der staatlich geförderten Kultur schon lange kritisiert und mehr »Volks-Kultur« statt »System-Kultur« fordert, mehr Rammstein statt Rattle.
Wer ist hier eigentlich die Elite?
Es mutet absurd an, dass ausgerechnet Porschefahrer Poschardt plötzlich die plebiszitäre Argumentation aufnimmt, und dass der Rollkragen-Libertäre nun gegen die von ihm markierten »Eliten« wettert. Um all das besser einordnen zu können, ist ein Rückblick hilfreich.
Anfang der 2000er Jahre, Poschardt hatte gerade den Skandal beim Süddeutschen Magazin hinter sich, wollte er die Kulturredaktion der Welt am Sonntag aufmischen (damals gemeinsam mit Chefredakteur Thomas Garms). Bei Springer wurde noch ein reaktionäres und verstaubtes Bildungsbürgertum gepflegt. Poschardt wollte eine eher liberale und postmodernere Redaktion. Dafür holte er Leute wie Adriano Sack, Volker Corsten – und mich. Tatsächlich hielt die Popkultur schnell Einzug im Feuilleton, und wir debattierten darüber, ob eine neue Generation nicht auch einen vollkommen neuen Kultur-Kanon brauche: Soap statt Opera, Trash statt Theater und Kittler statt Kant. Kurz gesagt: DJ Culture statt Hoch-Kultur.

Soweit ich mich erinnere, haben Poschardt die Institutionen, über die er heute herfällt, die Opern-, Konzert- und Literaturhäuser, schon damals eher weniger interessiert. Mir fällt keine Opernpremiere ein, die er in dieser Zeit besucht hat. Und genau darin liegt vielleicht ein Schlüssel, um den aktuellen Kulturkampf zu verstehen, dessen Reizfigur nun ausgerechnet Wolfram Weimer ist – jener Journalist, der Anfang der 2000er Jahre Chefredakteur der Welt war bevor er sich aufmachte, den Cicero zu gründen.
Neuer Bildungskanon
Kritisch könnte man den Prozess als Entkultivierung unserer Gesellschaft beschreiben. Weniger skeptisch könnte man davon sprechen, dass sich der allgemeine Kulturbegriff, auf den wir uns lange verständigt haben, in den letzten Jahren erheblich diversifiziert, aufgespalten und verändert hat.
Die Zeiten, dass Goethes Faust, Shakespeares Sonette, Mozarts Don Giovanni, da Vincis Abendmahl und das Auswendiglernen der Glocke die Menschen ebenso verbunden haben wie ein Theaterabo bei der Volksbühne, sind vorbei. Und sie werden auch nicht wiederkommen. Damit lag Poschardt richtig. An deutschen Grundschulen fällt fast die Hälfte des Musikunterrichts aus, der Lektüre-Kanon hat sich verändert, und klar: Die Sex Pistols, The Velvet Underground, Sarah Kane, Nan Goldin oder Gerhard Richter gehören heute ebenfalls für viele längst zum Hochkultur-Kanon. Aber selbst die Pop-Kultur ist immer weiter in eine Nische gerutscht und musste Platz machen für die Unkultur des Unmittelbaren, zunächst für den Zeitgeist von Fakten, Fakten, Fakten, später von Kommentaren, Deutungen und Diskursen.

Inzwischen leben wir in einer Gegenwart, in der das Konkrete zum Götzen und das Kreative zum »Elitären« verkommen ist. Auf X oder TikTok zählt allein der Moment. Tweets und Posts sind Sekundenware, es gewinnt der schnelle (oft provokante) Slogan, der kurze Witz (oft auf Kosten anderer) oder der poetische Moment (oft durch KI generiert).
Das, was einst mit »Kultur« verbunden wurde, ist auch aus den ehemaligen Massenmedien ausgezogen. Bei Wer weiß denn so was? mit Kai Pflaume wäre es undenkbar, dass (wie einst bei Hans-Joachim Kulenkampffs EWG) eine Fremdsprachensekretärin eine Opernarie von Mozart errät. Und wenn am Ende des heute journals noch schnell ein Kulturbeitrag von Claudio Armbruster läuft, ist das eher eine floral moderierte Kultur-Werbeveranstaltung als echtes Fernseh-Feuilleton.
Tagespolitik statt Kultur-Horizont
Egal, ob Jessy Wellmer in den Tagesthemen oder Dunja Hayali im heute journal, ob die Podcaster Robin Alexander oder Micky Beisenherz, ob Polit-Clowns wie Hazel Brugger oder Jan Böhmermann – irgendwie hat man den Eindruck, dass man mit keinen von ihnen tiefgreifend über Parsifal oder Zauberflöte, über die Buddenbrooks oder Schopenhauer debattieren kann. Sie sind Experten für das Jetzt und andauernd im Alltag abgetaucht, um ihn für uns zu ordnen. Sie kriegen ihre Köpfe gar nicht mehr aus dem News-Meer, um hinter dem Sonnenuntergang nach einer etwas größeren Dimensionen des Daseins Ausschau zu halten. Das höchste ihrer Kultur-Gefühle ist oft eine Freundschaft zu Igor Levit, den sie aber wohl weniger auf Grund seiner Brahms-Interpretationen als wegen seiner opportunen Tweets kennen.

Die alte Begegnung vollkommen unterschiedlicher Menschen auf Grundlage ihrer gemeinsamen, kulturellen Werte wird inzwischen oft durch eine andauernde »On-Air«-Kommunikation vermeintlich konträrer Charaktere ersetzt, die in Wahrheit aber im gleichen Kommunikationskosmos irisieren und Kultur höchstens noch zur Behauptung der eigenen Intellektualität benutzen.
Selbst bei Markus Lanz treffen Spitzenpolitiker schon lange nicht mehr auf einen Kulturschaffenden oder wenigstens auf eine lustige Oma, die im Oldtimer durch die Wüste gefahren ist. Lanz glaubt vielleicht, dass er durch den Rauswurf der »ganz normalen Menschen« und des Saalpublikums einen ernsthaften politischen Diskurs moderiert – aber er hat dabei viele Dimensionen der Diskussionskultur verloren.
Die Gesellschaft des Spektakels
Tatsächlich bekommen wir derzeit ziemlich oft vorgemacht, dass wir auf den anstrengenden Umweg der Kultur verzichten können, um unsere Welt zu begreifen. Wozu sollen wir uns mit einem komplexen Theaterstück abrackern, wenn Luisa Neubauer den Klimawandel in einer Talkshow direkt mit Friedrich Merz verhandeln kann, wozu sollen wir uns ein ganzes Theaterstück anschauen, wenn Alice Weidel und Sahra Wagenknecht dieses Spektakel in direkter Konfrontation bei Maischberger als Real-Talk abhandeln?
Wir haben das reale Drama gegen das Drama der Kunst eingetauscht. Guy Debord hat das in den 1960er Jahren bereits vorhergesehen, als er über die Gesellschaft des Spektakels schrieb, die keine Kunst mehr braucht, da sie sich selber zum Spektakel erhoben hat.
Es ist nicht nötig, exaltierte Polit-Darsteller wie Donald Trump anzuführen, um die Entkultivierung der Politik unter Beweis zu stellen. Sie findet auch bei uns in allen politischen Spektren statt: Sozialdemokraten wie Willy Brandt hatten einst Günter Grass im Schlepptau, Gerhard Schröder Markus Lüpertz, Angela Merkel freute sich bei einem Glas Rotwein in Bayreuth am Ring von Frank Castorf, und Wolfgang Schäuble war regelmäßiger Gast der Berliner Philharmonie. Für Friedrich Merz, Lars Klingbeil, Jens Spahn oder Saskia Esken scheint die Tagespolitik als Bühne zu reichen. Ernsthaftes kulturelles Interesse kann man ihnen kaum unterstellen.

Kultur ist zu einer Leerstelle in unser Gesellschaft geworden. Das macht sie so spannend für den aktuellen, politischen Kulturkampf. Es geht darum, die Kultur mit neuer Bedeutung aufzuladen. Anfang der 2000er Jahre hat Ulf Poschardt es damit versucht, die Popkultur als legitime Fortsetzung der alten Hochkultur zu etablieren. Inzwischen sind wir einen Schritt weiter: Die Leerstelle Kultur soll aus allen politischen Lagern mit Ideologie aufgefüllt werden. Während die Kultur aus dem politischen Alltag ausgezogen ist, versucht die Politik die Kultur nun auch noch mit ihren Ideen zu besetzen.
Kulturpolitik als Ort des Kulkturkampfes
Joe Chialo wollte in Berlin zeigen, dass kulturelles Desinteresse nicht einmal Hinderungsgrund für einen Kulturpolitiker sein muss, und Claudia Roth hat in ihrer Amtszeit damit begonnen, konkrete grüne Ziele mit missionarischem Eifer in die Kulturpolitik einzubauen. Tatsächlich haben ihre Vorgänger auf eine Ideologisierung des Amtes weitgehend verzichtet. Kulturpolitik bedeutete für sie nicht, Kultur politisch zu deuten, sondern sie überhaupt erst zu ermöglichen – in all ihrer Freiheit.
Es ist irgendwie verständlich, wenn Wolfram Weimer die Kultur nun ebenfalls politisch kapern will: von rechts. Als eine Form politischen Revanchismus’. Das ist, was auch Ulf Poschardt meint, wenn er schreibt, dass Kulturschaffende »Angst« vor dem neuen Kulturstaatssekretär haben sollten.
Als Poschardt das Kulturressort der Welt am Sonntag umkrempelte, hielt Wolfram Weimer als Chefredakteur bei der Welt noch am alten Kulturbegriff fest. Ähnlich wie der damalige Springer-Herausgeber Mathias Döpfner, der auch gern betont, dass er einst als Musikkritiker unterwegs war, führt Weimer seine Kulturmännlichkeit ebenfalls gern an Orten wie den Bayreuther Festspielen spazieren. Auch, wenn er nur wenig Ahnung von Kultur und Kulturgeschichte hat (was uns gerade der konservative FAZ-Feuilletonchef Jürgen Kaube vorgeführt hat), blieb das Feuilleton für Weimer zunächst ein Ort des Schöngeistigen, im Cicero nannte er es dann allerdings schon »Salon«.
Kulturschaffende fürchten, dass Weimer als Bundeskulturminister die Kultur weiter politisieren wird, statt mit politischen Mitteln ihre Freiheit zu garantieren. Er selber hat in einem Stern-Interview beteuert, das Amt nicht ideologisieren zu wollen. Am Ende bleibt die Frage, ob Wolfram Weimer in Zukunft mit Ulf Poschard und Joe Chialo kulturpolitische Hühnersuppe rührt, oder ob er sich darauf besinnt – übrigens in guter alter konservativer Tradition – die Kultur aus der Politik herauszuhalten und stattdessen die Mittel der Politik nutzt, um der Kultur wieder zu ihrem Recht zu verhelfen.