Theaterumbauten kosten oft mehr als eine Milliarde Euro. Dazu die vielen öffentlichen Skandale. Wie lange wird unsere Gesellschaft das Stadttheater noch mittragen?
Es waren zwei Meldungen an einem Tag, die irritieren konnten. Zum einen erklärte der Vorsitzende der Orchestervereinigung Unisono, Gerald Mertens im WDR, dass es keine Krise der Klassik gäbe: die Sommerfestivals seien gut besucht, und für die Saison 2024/25 sei er mehr als optimistisch. Gleichzeitig machte das Handelsblatt mit einem Artikel auf, dessen Überschrift lautete: »4,6 Milliarden Euro Steuergelder, aber kaum noch Publikum«. Der Text dreht um die Frage, ob wir uns als Staat unsere Stadt- und Staatstheater überhaupt noch leisten können. Und die Antwort, die Hans-Jürgen Jakobs gibt, ist ziemlich klar: Nicht in der Form, in der sie sich derzeit befinden.
Tatsächlich ist es höchste Zeit, zu fragen, wie sehr unsere Häuser überhaupt noch in der Gesellschaft verankert sind. Denn die rosarote Unisono-Brille von Gerald Mertens erweist seiner Klientel, den Musikerinnen und Musikern, einen Bärendienst: Das Schönreden verhindert Reformen, die aber dringend nötig erscheinen, wenn Theater und Orchester auch weiterhin als von einer gesamten Gesellschaft akzeptiere (und finanzierte) Institutionen bewahrt werden sollen.
Neulich gab es am Theater Dortmund das Rheingold von Richard Wagner. Das eigentliche Spektakel aber war der Weg vom Hauptbahnhof zur Oper. Ein guter Kilometer durch das diverse und multikulturelle Deutschland: Döner-Läden, 1-Euro-Shops, Currywurst-Buden und sehr viele Menschen in Armut, die in der Fußgängerzone ums Überleben bettelten. Eine deutsche Wirklichkeit, die nur schwer mit Peter Konwitschnys lustiger Regie in Einklang zu bringen war, der Wagners Götter als Steinzeitmenschen im Es-Dur-Anfang auf die Bühne kriechen ließ und am Ende den Regenbogen für die Götter in einem Altersheim aufspannte.
Von Denkpausen und anderen Verrücktheiten
Die wachsende Kluft zwischen Hochkultur und sozialer Realität scheint nicht nur das Publikum, sondern auch einen Teil der deutschen Kulturpolitik zu irritieren. Wohl nie stand die weltweit einmalige deutsche Stadttheater-Kultur derart unter Druck wie heute. Dabei findet ihre Abschaffung meist leise und schleichend statt.
So wie derzeit in Berlin. Der Umbau der Komischen Oper war beschlossene Sache, das Ensemble wurde in die Ausweichspielstätte verfrachtet, die Bagger rückten an, doch plötzlich wurde ein Baustopp angeordnet. Berlin nimmt sich, was man in München »Denkpause« nennt: Braucht man überhaupt drei Opernhäuser? Ist der Umbau nicht viel zu teuer? Fragen, die nun aus dem Nichts gestellt werden. Dabei hat Barrie Kosky an der Komischen Oper einst neue Regie-Maßstäbe gesetzt und gleichzeitig ein breites Publikum mitgenommen. Die Outreach-Programme sind in Neukölln, Marzahn und Pankow zu Hause. Doch außer der neuen Intendanz und einigen Kultur-Insidern scheint die Baustopp-Debatte keinen wirklich zu interessieren.
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Viele Theater wurden nach dem Krieg gebaut oder saniert und sind heute baufällig. Renovierungen oder (billigere) Neubauten werden in Stuttgart, Nürnberg, Augsburg und Köln, in Hamburg, Düsseldorf, Dresden oder Frankfurt debattiert. Nicht selten übersteigen die Kosten die Milliarden-Euro-Grenze. Und überall schwingt die legitime Frage mit: Sind uns die Theater derartige Investitionen überhaupt noch wert? Sind sie noch bedeutend für die intellektuelle Stimmung einer Stadt?
Energiekosten und Tarifverträge müssen ausgeglichen werden
In Wahrheit haben wir es derzeit mit der zweiten Welle des stillen Theatersterbens zu tun. Die ersten Schließungen fanden bereits in den 90ern statt, meist in Form von Fusionen. Allein in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen wurden fünf Theater fusioniert, gleichzeitig wurden viele Ensembles (auch im Westen) zusammengeschrumpft. Verfügten mittelgroße Häuser einst über Personal, mit dem auch die Titelrollen großer Opern besetzt werden konnten, gibt es heute oft nur noch Rumpf-Ensembles, und für eine Carmen oder einen Otello verpflichtet man Gäste.
In dieser ersten Sparrunde wurde das Stadttheater nachhaltig seiner eigentlichen Qualitäten beraubt: die Identifikation der Künstlerinnen und Künstler mit den Städten, aber auch der Möglichkeit, Karrieren langsam aufzubauen. Heute sind viele Theater so sehr zusammengespart, dass sie zu arm für Kreativität und zu reich zum Sterben sind. Ein Zustand, der künstlerische Experimente zu Risiken macht und belanglose Musical-Aufführungen fördert. Das Abenteuer des Scheiterns ist zum Makel geworden. Eine Situation, die durch neue (und teurere) Tarifverträge, höhere Energiekosten und die nötigen Sanierungen verschärft wird.
Dabei ist kaum eine Branche so prekär aufgestellt wie Opernhäuser. In den aktuellen Tarifverträgen geht es um familienunfreundliche Arbeitszeiten, um Verträge, die Künstler*innen jedes Jahr aufs Neue abhängig von der Theaterleitung machen. Die fehlende Unternehmenskultur sorgt für systematischen Machtmissbrauch, Übergriffe oder Diskriminierungen.
In Erfurt flog gerade Intendant Guy Montavon raus, nicht nur weil er seine Privat-Möbel in der Theaterschreinerei anfertigen ließ. In Meinigen steht Intendant Jens Neundorff von Enzberg wegen Mobbing in der Kritik, der Wiesbadener Intendant Uwe Eric Laufenberg räumte seinen Posten, nachdem ein Großteil des Orchesters gegen ihn mobil gemacht hatte, in Kassel werfen Musikerinnen und Musiker Intendant Florian Lutz Fehlverhalten vor. Immer wieder stellt sich die Frage: Wollen wir uns dieses Theater mit unseren Theatern wirklich noch leisten?
Mit gutem Beispiel vorangehen
Aber es gibt auch Häuser, die erkennen, dass Wandel nötig ist. Der Intendant der Münchner Staatsoper, Serge Dorny, verlangt schon länger, Grundlagen des Theatersystems neu zu debattieren. Er schlägt vor, auch an Spitzenhäusern wieder feste Ensembles mit Superstars zu installieren, und fordert flexiblere Strukturen, die sich nach den Bedürfnissen des Ortes ausrichten. Mal sei ein Ensemble richtig, mal ein Staggione-Haus mit Gästen. Norwegen, Finnland und Island machen vor, dass neue Häuser ein neues Publikum anlocken, wenn sie sich nicht als reine Opern-, sondern als Kulturhäuser verstehen.
Auch an vielen kleineren Häusern hat das Umdenken begonnen: von Hagen (Pay as you can) über Augsburg (Digital-Sparte) bis Hannover (Multikulturalität); und auch das Theater von Heribert Germeshausen in Dortmund hat neben Konwitschnys Ring des Nibelungen innovative Outreach-Programme entwickelt. Diese Häuser zeigen, dass klassische Hochkultur mit innovativen Experimenten Hand in Hand gehen und Kunst auch nach fairen Regeln entstehen kann.
Die hohen Renovierungskosten stellen derzeit viele lieb gewonnene Theatertraditionen auf den Prüfstand. Die Augen á la Unisono zu verschließen ist gerade in dieser Situation fahrlässig. Es ist an der Zeit, abzuwägen, was wir in eine lustvolle Zukunft mitnehmen wollen – und was heute bereits Ballast ist.