Die russische Community spielte in Baden-Baden eine große Rolle. Nach dem Krieg gegen die Ukraine macht Festspielhaus-Intendant Benedikt Stampa aus der Krise eine Tugend und entwickelt neue Ideen für eine neues Publikum. Ein Interview.
Seit 2019 ist Benedikt Stampa Intendant des Festspielhauses. Als solcher und als Vorsitzender der Deutschen Konzerthauskonferenz macht er sich Gedanken, wie es mit der klassischen Musik trotz deutlicher Publikumseinbußen weitergehen kann. Georg Rudiger sprach mit ihm über Fußballweisheiten, verlorene Stammkunden und neue Reize.
Herr Stampa, die russische Community spielte in Baden-Baden – zumindest in der Vergangenheit – beim Publikum des Festspielhauses eine wichtige Rolle. Spüren Sie durch den Krieg in der Ukraine eine Veränderung?
In Baden-Baden leben viele Ukrainerinnen und Ukrainer, die hier Zuflucht gefunden haben. Sie sind für viele von uns sprachlich kaum von Russen zu unterscheiden. Im Alltag erleben wir beide Gruppen simultan im Stadtbild. Aufgrund der tiefen und über 200-jährigen Verbindungen Baden-Badens zu Russland wirkte es immer so, als habe die russische Community hier einen relevanten Anteil an der Zahl der Gesamtbesucher. Wenn wir aber die Statistik schauen, ist dem nicht so. Viele Russinnen und Russen kamen zu explizit russischen Programmen. Daraus erwachsen übrigens neue Fragen, wie kulturelle Integration in Deutschland gelebt wird und wie wir mit Mitbürgerinnen und Mitbürgern umgehen, die kulturelle Wurzeln in Russland haben und nun »unsichtbar« wirken.
Bemerken Sie insgesamt einen Zusammenhang zwischen dem Krieg in der Ukraine und den Besucherzahlen?
Im Programm merkt es das Publikum bislang ausschließlich durch den Wegfall der Gastspiele des Mariinsky-Theaters. Das mag harmlos klingen, bedeutet aber für uns in Baden-Baden einen tiefen Einschnitt, eben weil die Beziehungen zu Russland bis mindestens ins Jahr 1793 zurückreichen, als eine badische Prinzessin den späteren Zaren heiratete. Mit dem Mariinsky-Ballett zu Weihnachten hatten wir ein Alleinstellungsmerkmal weltweit. Das lässt sich nicht mit einem Federstrich austauschen oder neu erfinden. Aber Jammern ist keine Lösung. Dieses Problem haben viele Gruppen in der Gesellschaft. Wir hoffen daher auch, dass nicht nur auf die Kultur gezeigt wird, wenn es darum geht, eine Haltung dazu zu entwickeln.
Skat kloppen mit den Berliner Philharmonikern
Bei der Elektra-Premiere und den beiden ersten Symphoniekonzerten der Berliner Philharmoniker waren die Plätze im Festspielhaus Baden-Baden voll besetzt…
Wir hatten 2000 Gäste mehr als 2023. Im Rahmenprogramm waren es sogar doppelt so viele – vom Einführungsvortrag bis zum Skat-Turnier mit dem Orchester. Der Besuch ist wieder auf dem vorpandemischen Niveau.
Apropos Skat-Tournier: Sie beschäftigen sich als Intendant des Festspielhauses Baden-Baden stark mit dem Thema Publikumsentwicklung. Dafür haben Sie auch ein neues Festival gegründet mit dem Namen Takeover, also Übernahme. Da spielt nichtklassische Musik, also Jazz, Pop, elektronische Musik und Neoklassik, eine große Rolle. Zu Beginn übergeben Sie symbolisch den Schlüssel des Festspielhauses an die Künstler. Auch das Publikum wird aktiviert und viel Nähe zwischen Publikum und Künstlerinnen und Künstlern geschaffen…
… Schon im ersten Jahr hat sich gezeigt, dass das Potential für ein solch neu gedachtes Festival vorhanden ist. Wir waren überrascht von der emotionalen Nähe, die trotz der von ihnen geschilderten Umstände möglich war. Heute, nach dem dritten Takeover Festival wissen wir, dass dies ein Weg in die Zukunft unserer Branche ist: Man trifft sich nach einem Konzert auf dem Dancefloor oder beim technischen Abbau. In diesem Jahr beschloss ein Künstler spontan: »Ich gebe jetzt einen aus.« Er und das Publikum trafen sich an der Bar und quatschten.
»Wichtig ist auf dem Platz!«
Partizipation ist ein wesentliches Element des Festivals. Sie bieten Workshops an, um Interessierte noch näher an die Musik und die Performance heranzuholen. Warum ist für Sie Partizipation wichtig?
Partizipation ist viel mehr als Education. Es geht nicht darum, Menschen die Musik von Mozart zu erklären, sondern um die Ermöglichung von Teilhabe, indem man ein Konzert stärker in seinem Kontext erlebt. Das passiert vor Ort, aber auch digital im Vorfeld. Wir bieten mehr Gastronomie an, holen die Künstler ins Foyer und nehmen die Zuhörer mit hinter die Kulissen. Das kann man auch übertragen auf unsere anderen Festivals, in denen wir hauptsächlich klassische Musik präsentieren. Das eigentliche Konzert lassen wir unangetastet. Als Fußballfan würde ich sagen: Wichtig ist auf dem Platz. Und: Zwischen den Spielen fachsimpeln die Fans mit kompetenten Journalisten oder den Ultras am Stammtisch.
In welchen Formaten können die Leute »dabei« sein?
Workshopteilnehmer können schon beim Soundcheck dabei sein, sehen, wie eine Show entsteht; das Pablo Held Trio gibt Tipps, wie man selbst kreativ sein kann. Die Musik wird so auch ein Life-Coach. Wir bieten mehrere Tanzworkshops an, eine Einführung in Medienkunst am Laptop und Einblicke in die Arbeit mit einem präparierten Klavier und einem Synthesizer. In der Klassik kommen wir über das nonverbale Kommunizieren in einem Orchester, Führungsfragen, Körperfragen.
Der Klassikbetrieb hat nach der Coronapandemie ein Publikumsproblem. Gerade in der früheren Stammkundschaft, der zahlungskräftigen Altersgruppe 60+, gibt es laut einer aktuellen Umfrage des Instituts für kulturelle Teilhabeforschung Berlin deutliche Besucherrückgänge. Die junge Generation fängt die Verluste bei weitem nicht auf, zumal die musikalische Bildung immer weiter zurückgeht. Haben Sie im Festspielhaus Baden-Baden die gleiche Erfahrung gemacht?
Ich kann das bestätigen. Wir hatten 2022 und 2023 rund 15 Prozent weniger Zuschauer als in Vorpandemiezeiten. Wir haben kein Abonnementpublikum, sondern müssen jede Karte einzeln verkaufen, was das Ganze noch komplizierter macht. Diese Situation haben wir aber antizipiert und mit einem starken Neukundenmarketing reagiert. Die verlorenen Stammkunden, die rund sieben Mal im Jahr gekommen sind, werden durch die vielen Neukunden in allen Altersschichten nicht ersetzt, da diese erfahrungsgemäß zu Beginn seltener kommen. Erst nach drei bis fünf Jahren und vielen positiven Konzerterlebnissen wird aus dem Neukunden ein Stammkunde.
Und wie sieht es langfristig aus? Stirbt das Publikum nicht weg?
Die nächsten fünfzehn Jahre sieht es noch gut aus, weil die geburtenstarken, finanzkräftigen, musikalisch vorgebildeten Jahrgänge weiterhin in klassische Konzerte gehen werden. In dieser Altersgruppe 55+ möchten wir noch mehr Kunden gewinnen wie auch bei den über Dreißigjährigen. Insgesamt gehen 3 Prozent der Gesamtbevölkerung in klassische Konzerte. Wenn wir auf 4 Prozent kommen, haben wir keine Sorgen mehr.
Wirklich?
Der Repertoirebetrieb wird es auf Dauer schwer haben. Viele kommen nicht mehr wie früher in ein Konzert, um ein bestimmtes Werk zu hören. Da fehlt es häufig auch an musikalischer Bildung. Die Frage ist: Wie schaffen wir Reize? Ein attraktives Programm ist Voraussetzung, aber es reicht nicht. Wir sind ein Festspielhaus. Hier kann man besondere Künstlerinnen und Künstler in einem besonderen Umfeld erleben. Das klassische Konzert ist heutzutage ein relativ hermetischer Raum. Die »vierte Wand« wurde in den vergangenen 150 Jahren geradezu ritualisiert. Wir öffnen die Werkstatt und ermöglichen es, künstlerisches Handeln aus nächster Nähe zu erleben. Es geht nicht darum, die Aufführung zu erklären, sondern eine Ahnung davon zu bekommen, was die Musikerin oder den Musiker inspiriert. Das werden auch die heute jungen Klassik-Stars mitmachen. Ein Yannick Nézet-Séguin kommt wie selbstverständlich in Bermudas zu einem Business-Talk und Jonathan Tetelman, der gerade hier gesungen hat, ist total offen für Begegnungen mit dem Publikum. Das möchten wir in Baden-Baden auf diesem internationalen Niveau hinbekommen.
Es gibt auch spezielle Angebote wie ein Konzert für Kleinkinder und Schwangere nebst werdenden Vätern oder einem Kindertanzfest als Workshop im Juli. Welche Balance zwischen Traditionellem und Innovativem halten Sie für sinnvoll?
Darüber sprechen wir täglich. Beides geht auch zusammen wie bei den Osterfestspielen der Berliner Philharmoniker, die traditionelle Konzerte und Opernaufführungen bieten, aber auch viele Partizipationsprojekte enthalten. 2024 haben wir Konflikte aus Strauss‘ Elektra mit jungen Menschen diskutiert. Die Pfingstfestspiele drehen sich um das Thema Filmmusik. Partizipation umarmt das klassische Kernrepertoire derzeit noch, aber wir forschen schon, wie wir weitergehen können.
Wichtig für Ihre Programmgestaltung ist eine Festivalstruktur von sieben, in diesem Jahr sechs Festivals. Die Winterfestspiele, die ja ursprünglich mit Valery Gergiev und dem Mariinsky Theater geplant waren und in dieser Form aus politischen Gründen abgesagt wurden, fallen in der Saison ganz aus. Planen Sie hier etwas Neues?
Ja. Ab 2025 präsentieren wir ein neues Konzept. Um das zu entwickeln, brauchten wir etwas Zeit. Es wird an zwei Wochenenden ein programmatisch klar definiertes Winterfestival geben. Vielleicht schaffen wir es sogar, die traditionellen kulturellen Brücken Baden-Badens nach Osteuropa zu halten. Aber eben in neuer Form.
Ist die Festivalstruktur auch wichtig für Ihr Bemühen, neues Publikum zu generieren? Vielleicht ist das Festival ja auch ein Rahmen, in dem man besser ins Gespräch kommen und Bindungen zum Publikum aufbauen kann?
Baden-Baden war schon im 19. Jahrhundert ein Sehnsuchtsort. Hier wurde nicht nur neueste Musik präsentiert, sondern auch in den Salons über sie gesprochen. Daran knüpfen wir an, indem wir vielerlei Kontaktmöglichkeiten mit Künstlerinnen und Künstlern schaffen, die im normalen Tourneebetrieb nicht möglich sind. Unsere Gäste aus Amerika kommen hier Yannick Nézet-Séguin, dem musikalischen Direktor der Metropolitan Opera, näher als zuhause in New York. Festspiele sind Teil des Hausnamens. Die Menschen sind heute noch eventorientierter als früher. Das ergreifen wir als Chance, hier ein Programm zu bauen, das für die nächsten zwei, drei Dekaden überlebensfähig ist.