Spätromantik in München: Teodor Currentzis, Simon Rattle und Vladimir Jurowski – ein analytischer Vergleich von Alexander Strauch (Text und Podcast).
Ende der letzter Woche gaben sich drei Dirigenten in München ein Stelldichein: Teodor Currentzis führte mit seinem Utopia Orchestra ein neues Werk von Jay Schwartz und die 5. Sinfonie von Gustav Mahler auf. Vladimir Jurowski dirigierte an der Bayerischen Staatsoper Tobias Kratzers Inszenierung von Richard Wagners Das Rheingold, und Sir Simon Rattle dirigierte mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks den 2. Akt aus Richard Wagners Oper Tristan und Isolde. (Hier geht es zum Podcast für alle Player und für applePodcast – Alexander Strauch führt seine Beobachtungen zu den Dirigenten im Gespräch mit Axel Brüggemann aus)
Rattle: Orchester statt Stimme
Sir Simon Rattle galt schon in Berlin als Kommunikator, und als solcher ist er auch in München vielleicht der Richtige, um noch besser mit der Politik ins Gespräch zu kommen, wenn es um das geplante Konzerthaus für sein Ensemble geht. Während der Proben soll Rattle kollegial und offen mit seinen Musikerinnen und Musikern umgehen, als Interpret zeichnet er sich normalerweise durch Detailarbeit und eloquentes Ausmusizieren aus. Doch in der Isarphilharmonie – eigentlich ein sehr dankbarer Raum für klares Musizieren – ging all das dieses Mal nicht auf. Dem Orchester machte es offensichtlich Spaß, die Tristan-Orchestrierung sinfonisch auszukosten. Doch genau das machte es den Gesangssolisten unnötig schwer.
Selbst die ansonsten durchsetzungsfreudige Sopranistin Lise Davidsen als Isolde drang oft kaum durch. Man kann Rattles Sänger-Wahl, gerade bei konzertanten Wagneropern, durchaus kritisieren. In diesem Fall wurde aber vor allem die starke Dominanz des Orchesters zum Menetekel der Verständlichkeit des Textes und der Hörbarkeit der Sänger. Selbst wenn der Tristan von Stuart Skelton indisponiert wirkte, so hätte ein umsichtiger Dirigent und Sängerfreund hier das auftrumpfende Orchester, das anfangs zudem immer auch etwas verwackelt musizierte, in der Lautstärke deutlich gedrosselt.
Jurowski: der Sängerfreund
Ganz anders erging es dem Gesangsensemble der neuen Rheingold-Produktion mit dem Bayerischen Staatsorchester unter Vladimir Jurowski an der Bayerischen Staatsoper. Natürlich ist ein im Orchestergraben spielender Klangkörper von vornherein gedämpfter als ein Orchester auf der philharmonischen Bühne. Auch spielen hier – auf Grund von Platzmangel – weniger Streichinstrumente. Dafür aber sind in der Rheingold-Partitur die Holzbläser vierfach und das Blech deutlich größer als in Tristan und Isolde besetzt. Dennoch gelang es Jurowski, für einen durchsichtigen und transparenten Klang zu sorgen. Dabei vermied er es konsequent, auf die Lautstärke-Tube zu drücken, mit dem großen Vorteil, dass man auch die szenisch agierenden Sängerinnen und Sänger sehr gut verstand. Und all das ging nicht auf Kosten des Klanges: die Streichinstrumente wirkten sehr dicht. Allein in den Zwischenspielen ließ Jurowski die Zügel lockerer und das Orchester donnern, etwa beim Einzug der Götter in Walhall (bei Kratzer in eine Art gotisch-germanischen Hochaltar). Es wurde sehr genau und dynamisch phrasiert und dabei stets die Balance gehalten zwischen unterschiedlichen Lautstärken und (niemals übermäßig aufgedrehten) Tempi. So war das Dirigat von Jurowski exemplarisch, um bei Wagner die Verständlichkeit von Musiksyntax und Text gleichermaßen zu erleben.
Currentzis: Mahler extrem
Mit Gustav Mahlers 5. Sinfonie entschied sich Teodor Currentzis mit dem Utopia-Orchester für jene Mahler-Symphonie mit den größten Kontrasten. Der Dirigent spürte in seiner Interpretation allen Farbpaletten nach, allen Lautstärke- und Tempoabstufungen, die Gustav Mahler in der Partitur angelegt hat: Vom Trauerkondukt des ersten Satzes über die herausfahrende Verzweiflung im zweiten Satz über das jubelnde wie in Nachdenklichkeit versinkende Scherzo, das sehrende und gründelnde Adagietto bis zum rennenden und ausufernd jubelnden Finale. Diese Anlage ist für einen Interpreten wie Currentzis der gern Lautstärke und Tempo ins jeweils Extreme ausreizt, gefundenes Fressen, für einen Musiker, der das Schnelle gern ins noch Schnellere, das Laute ins noch Lautere und das sehr Leise ins besonders Leise überführt.
Dieses Prinzip kann in der Barockmusik und in der Klassik mit historisch informierter Spielpraxis auch durchaus funktionieren. Auch Paradewerken von Pjotr I. Tschaikowski oder Maurice Ravel kommt diese Interpretationsart sehr entgegen. Das am Barock geschulte Phrasieren kann für die französische Spätromantik und den Impressionismus durchaus zu einem eleganten, weichen Abphrasieren führen, etwa, wenn ein melodisch-motivischer kleiner Abschnitt zunächst stark crescendiert, um dann sofort wieder extrem weich zurückgenommen zu werden, wie es Currentzis all zu gern (und fast immer) macht, wo sich die Gelegenheit dazu bietet.
Obwohl Gustav Mahler selbst extreme Tempo- und Lautstärkenschwankungen ausnotiert, verschwindet bei ihm in geschlossenen Phrasen der Klang nicht zur Gänze, wie es bei Currentzis zwangsläufig passiert. Zugespitzt wurde bei Currenzis Mahler zu einer Art La Valse von Ravel oder zu Tschaikowskis Pathetique-Sinfonie. Auf der einen Seite machen Extreme Mahlers Partituren aus, doch agiert in ihnen doch auch ein gleichmäßiges Verhältnis der Kontraste – und genau das geht Currentzis in seinem Überschwang verloren.
Kein Blick zurück
Bei ihm wirken Überzeichnungen in Tempo und Lautstärke des sowieso schon Überzeichneten und ein Ausziselieren im quasi-französischen Abphrasieren wie eine Porzellanmalerei auf Meissener Chinoiserie-Barockgeschirr. Sie wirken bei Mahlers Musik nicht verstärkend, sondern zeigen sich vor allem als manieristisches Design, unter dem das eigentliche Porzellan verschwindet.
Viel interessanter wäre es, hier historisch informiert heranzugehen. So waren die Blechblasinstrumente am Anfang des 20. Jahrhunderts noch nicht ganz so durchschlagend wie heute. Das Vibrato wurde nur dezent eingesetzt, dafür häufiger das Portamento. Die Streichinstrumente spielten immer noch auf Darmsaiten statt Stahlsaiten, waren obertonreicher und leiser, weshalb eine starke Streicherbesetzung 1905 doch etwas ganz anderes als nahezu 20 erste Geigen im Utopia-Orchester 2024 sind.
Historisch uninformiert
Gerade weil Currentzis und seine wichtigen Stammmitglieder aus seinem russischen Orchester MusicAeterna Erfahrung mit historischer Aufführungspraxis haben (sie waren auch bei Utopia an einzelnen Pulten zu sichten), würde man solch ein Herangehen von ihm erwarten. Selbst Simon Rattle führte Rheingold einst mit Instrumentarium der Wagner-Zeit des 19. Jahrhunderts auf (ein Experiment, das er aber nicht zu Ende führte). Wie schon Nikolaus Harnoncourt uns zeigte, kann man das auch mit heutigen Instrumenten versuchen, indem man die Spieltechnik anpasst. Dabei müsste der Klang dann weniger abgerundet und vor allem kantiger wirken – aber bei Currentzis entstehen weniger Kanten als viele eher fettleibige Klangbäuche.
Der Konzertmeister Afanasy Chupin, der MusicAeterna 2022 verlassen hat, nimmt inzwischen am Original-Instrumente Mahler-Projekt in Toblach teil, wo Mahler seine letzten Werke komponierte. Beim Utopia-Orchester fehlt Chupin inzwischen – und das ist auch hörbar. Denn gerade bei Mahler wäre eine Annäherung im historisch-informierten Sinne moderner und zeitgemäßer als ihm pauschal mit dem interpretatorischen Anziehen von Extremen und Aufmotzen wie Abrunden des Klanges beizukommen. Schließlich ist Beethoven nicht Tschaikowski und Tschaikowski nicht Mahler! Currentzis geht es offensichtlich eher um die Massierung des Sounds und die riesige Größe des Klangkörpers, der bei ihm zum Selbstzweck zu drohen wird – hier erweist er sich aber vor allem als Hochglanz-Design und nicht als historisch-infomierte Intelligenz und Eloquenz in der Musik.