»Niemand trug meine Koffer«

Februar 5, 2025
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Die Kontrabaßistin Orin O’Brien bei den New York Philharmonic (Foto: Netflix)

Der Kontrabassist Georg Breinschmid über den Netflix-Film »The only Girl in the Orchestra« und seine Erinnerungen an die Frauen-Debatten rund um die Wiener Philharmoniker.

English summary: Double bassist Georg Breinschmid reflects on the Netflix documentary The Only Girl in the Orchestra, which portrays Orin O’Brien, the first female bassist in the New York Philharmonic. The film highlights her pioneering career, resilience, and love for music. Breinschmid also recalls past gender debates in the Vienna Philharmonic, noting the progress made over time.

Man wird auf Netflix wohl nicht auf allzuviele Dokumentationen über das Leben von Orchestermusikern stoßen. Und auf Filme über die Berufslaufbahn in einer Kontrabaßgruppe bestimmt noch seltener. Aber es gibt eine Ausnahme: Dieser herzerwärmende kurze Film: The only girl in the orchestra

Orin O’Brien, eine bemerkenswerte, mutige, starke wie sympathische Frau, wurde als Kontrabassistin 1966 in das New York Philharmonic Orchestra engagiert und war dort die erste – und für lange Zeit auch einzige – Frau. Die Tochter eines Schauspielerehepaars (ihr Vater George O’Brien erlangte u.a. als Schauspieler in Western-Filmen Berühmtheit) hat als junge Frau beschlossen, Bassistin zu werden. Sie hat diesen ihren Traum mit viel Fleiß und Nachdruck verfolgt und schliesslich eine Anstellung bei den »NY Phil« gefunden. Eine Sensation in der damaligen Zeit. 

Der Film The only girl in the orchestra  fängt in berührender und liebevoller Weise verschiedene Ausschnitte aus ihrem Leben ein. Man sieht Orin im Orchester spielen, in Aufnahmen von Konzerten bspw. mit Leonard Bernstein, der sie für ihre Ausstrahlung und ihre Hingabe zur Musik, ihren guten »spirit«, besonders schätzte. Man sieht sie, aktuell und weit in ihrem achten Lebensjahrzehnt, leidenschaftlich und unermüdlich unterrichten und ihr großes Wissen an junge Kontrabaßstudenten weitergeben. 

Man nimmt teil, wie Orin von Musikerkollegen besucht wird, die ihr ein herzliches und humorvolles Ständchen zu ihrer Pensionierung singen, und man besucht mit ihr Konzerte ihres ehemaligen Orchesters. Man wohnt Gesprächen mit ihrer Nichte (die bei dem Film Regie geführt hat) bei, in denen Orin O’Brien darauf beharrt, kein »artist« zu sein. 

Vom Kuriosum zur Selbstverständlichkeit

Inzwischen – fast 90 Jahre alt – ist sie erst vor wenigen Jahren in den Ruhestand getreten, sprüht aber sichtlich weiterhin vor Liebe zur Musik, zu ihrem Beruf und ihrem Instrument. Man wünscht sich nur, der Film würde etwas länger dauern als eine gute halbe Stunde. Speziell in einer Zeit, in der Musik, und die Menschen, die sie noch immer »wirklich« ausüben, so »devalued«, also entwertet werden, ist es schön, einen solchen Film zu sehen zu bekommen. 

Orin O’Brien hat sich ihren Beruf und ihre Anstellung in einem prominenten Orchester mit beachtlicher Hartnäckigkeit und starkem Willen erarbeitet und musste sicher mehr als ihre männlichen Kollegen tun für etwas, was für die letzteren immer selbstverständlich war – nämlich in einem Orchester spielen zu »dürfen«. 

Eine starke Frau, die gleichzeitig sehr bescheiden wirkt und die eigentlich gerne in Ruhe ihrer Arbeit und Berufung nachgegangen wäre, aber gewissermaßen ein bisschen zum Star wider Willen wurde. Weil sich Zeitungen und Magazine gierig auf ihre Geschichte stürzten und große Artikel über sie weibliches »Kuriosum« im Orchester brachten. Das war Orin selbst weitgehend unangenehm, da sie sich selbst in den Artikeln unnatürlich und übertrieben herausgehoben sah – im Gegensatz zu ihren männlichen Kollegen, die ja genauso Orchestermusiker waren. Gleichzeitig hoben manche Zeitschriften hervor, wie sehr sich ihre Kollegen damals angeblich um sie gekümmert hätten, bspw. dass sich alle darum gerissen hätten, auf Tourneen ihren Koffer zu tragen – was Orin im Film in Abrede stellt: »Nobody carried my suitcase.« Ob freiwillig oder nicht, bestimmt wurde sie durch ihren Lebens- und Berufsweg auch zu einer Pionierin und Vorkämpferin für die Rechte von Frauen als Orchestermusikerinnen. 

Meine Zeit mit den Wiener Philharmonikern

Als Kontrabassist und ehemaliger Orchestermusiker war es für mich selbst natürlich auch fein, beim Ansehen dieser Doku sozusagen mein »früheres« Leben kurz wieder zu betreten – mit dem Kontrabaß(gruppen)solo aus Verdis »Otello«, mit den Probespielstellen aus den Beethoven-Sinfonien 5 und 9, mit Orchesterproben, Konzerten, Eindrücken von »backstage«. 

Eine Welt, die mir sehr vertraut ist, weil sie für einen Großteil der 1990er-Jahre mein Beruf und mein Leben war. Nach verschiedenen anderen orchestralen Tätigkeiten wurde ich Ende 1995 in das Orchester der Wiener Staatsoper/Wiener Philharmoniker engagiert, ein Engagement, das ich 1998 wieder beendete, um mich der improvisierten Musik, dem Komponieren und der kreativen Arbeit zu widmen.

Playlist mit Musik von Georg Breinschmid

Meine Jahre bei den Wiener Philharmonikern waren kurz, aber intensiv, und zufällig fiel gleich die erste Saison meines Engagements (1996/97) in eine Zeit der besonderen Veränderung – es war die Zeit, in der es hitzige öffentliche (wie auch orchesterinterne) Diskussionen darüber gab, ob nicht endlich auch Frauen zu Probespielen bei den Wiener Philharmonikern zugelassen werden müssten.

Auf einer USA-Konzertreise im Frühjahr 1997, bei der ich auch spielte, gab es vor den Konzerten in Los Angeles und New York noch Proteste von Frauenrechtsgruppen gegen die Auftritte des Orchesters. Mittlerweile, mehr als ein Vierteljahrhundert später, sind Frauen natürlich längst nicht nur zu Probespielen zugelassen, sondern ein unverzichtbarer und selbstverständlicher, ja logischer Teil auch dieses Orchesters. 

»Eine Blondine hat sich eingeschlichen«

Eine Erinnerung, die noch länger zurückliegt, ist die folgende: irgendwann gegen Ende der 1980er-Jahre saß ich, noch als Teenager, mit einem Freund im Großen Saal des Wiener Musikvereins in einem Konzert der Wiener Symphoniker – und hörte vor Konzertbeginn, das Orchester saß bereits am Podium, eine ältere Dame in der Sitzreihe hinter mir zu ihrer Begleitung in einem verschwörerischen, etwas verächtlichen Tonfall sagen: »Da hat sich ja eine Blondine zu den Geigen eingeschlichen.« Die Dame nahm darauf Bezug, dass eine Frau in der ersten Violingruppe des Orchesters saß. Dieser kleine Satz war für mich ein »eye-opener«, dahingehend, wie das Wiener Konzertpublikum – jedenfalls der damaligen Zeit – denkt und tickt. 

Dieses kleine Erlebnis liegt fast 40 Jahre zurück und man hofft natürlich, dass die Menschen – auch in Wien, wo laut einem bekannten Spruch alles 30 Jahre später passiert als überall sonst –  heute anders, offener und weniger verkrampft denken und leben. 

Orin O’Brien hat vorgemacht, wie man einen persönlichen Traum und Lebensweg auch entgegen vieler Widerstände gehen und verwirklichen kann, was sehr schön und inspirierend zu sehen ist. Und sie spricht im Film auch darüber, dass man als Kontrabassist in einem Orchester nicht unbedingt im Rampenlicht steht, aber für das Funktionieren des großen orchestralen Ganzen unerlässlich ist, sozusagen systemerhaltend – ebenso wie Musik und Kunst für unser aller Leben »systemerhaltend« und unerlässlich ist. Eine Tatsache, die weltweit gerade in Vergessenheit gerät und verdrängt wird. Aber die Zeit, in der sich die Menschheit auf Wesentlicheres als bspw. den eigenen TikTok-Account besinnen,  wird kommen – irgendwann, vielleicht nicht gleich, aber the music never dies, wie ich glaube. 

Zur Internet-Präsenz von Georg Breinschmid

Georg Breinschmid

Breinschmid studierte klassischen Kontrabass an der Wiener Musikhochschule; gleichzeitig betätigte er sich autodidaktisch als Jazzmusiker. Von 1994 bis 1996 war er im Tonkünstlerorchester Niederösterreich engagiert, von 1996 bis 1998 bei den Wiener Philharmonikern. Er entschloss sich bald, der Orchesterlaufbahn den Rücken zu kehren und sich verstärkt seiner Leidenschaft für improvisierte Musik zu widmen. Seit 1999 tritt er als einer der vielseitigsten und virtuosesten Bassisten der internationalen Jazzszene hervor.
Seit 2003 ist Georg Breinschmid verstärkt als Komponist und Bandleader aktiv. Zahlreiche CD Produktionen wie "Wien bleibt Krk" (2008) oder die Doppel-CDs "Brein's World" (2010) und „Double Brein“ (2014) ernten in Europa und auch Übersee hymnische Kritiken.

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