Nacktheit allein ist keine Tugend

Mai 21, 2025
4 mins read
Wie erotisch sollte die Klassik sein?

Ein Podcast mit dem Naked String Quartet hat für Aufhorchen gesorgt. Shoko Kuroe antwortet in ihrem Text und erklärt, warum es noch keine Befreiung sein muss, nackt zu spielen – im Gegenteil!

English summary: Shoko Kuroe critiques a podcast on the Naked String Quartet, arguing that nudity in classical music isn’t inherently liberating and must be viewed through the lens of consent, context, and power dynamics.

In dem Artikel über das Naked String Quartet fand ich einige Beschreibungen missverständlich, die ich nuneinordnen möchte. Vor allem machte mich der folgende Satz betroffen: »Es ist eigentlich absurd, dass ausgerechnet beim nackten Musizieren Dinge wie #MeToo nicht vorkommen.«

Was dieser Satz eigentlich ausdrückt, ist: In dem kontrollierten Setting dieser Veranstaltung, in dieser Bar, mit dieser nur weiblichen Besetzung, in der die Bratschistin als »matriarchische Diktatorin« das Sagen hat, bei passenden finanziellen Rahmenbedingungen und vor allem in einer Situation, in der sie sich selbstbestimmt und bereitwillig für ihre Nacktheit entschieden hat, kann sie sich sicher fühlen.

Sexuelle Selbstbestimmung

Die sexuelle Selbstbestimmung ist auch unter Frauen ein kontroverses Debattenfeld, weil dabei scheinbar widersprüchliche Aspekte eine Rolle spielen: Die einen verstehen darunter das Recht, die eigene Sexualität so auszuleben, wie man möchte, die anderen das Recht, keinen Sex haben zu müssen, wenn man nicht will (z. B. Schutz vor sexueller Gewalt). Es sind zwei Seiten derselben Medaille, nur die Gewichtung ist unterschiedlich: Einmal sex-positiv und einmal sex-negativ. Werden die beiden Anliegen undifferenziert vermischt, entstehen irreführende Eindrücke wie »Frauen demonstrieren für das Recht, nackt in der Fußgängerzone zu laufen, ohne dass ihnen hinterhergepfiffen wird.«

Ähnliche Verquickungen sieht man auch bei der Debatte um die Prostitution. Auf der einen Seite stehen Dominas, die ihrem Beruf bereitwillig und selbstbestimmt nachgehen und ihre Tätigkeit als einen Akt der Emanzipation betrachten. Auf der anderen Seite stehen Frauen, die sich aus Not prostituieren müssen und unter sexueller Ausbeutung leiden. Das Problem ist, dass es keine klare Trennlinie zwischen diesen beiden Gruppen gibt. Meistens wird deshalb entweder eine pauschale Normalisierung oder ein Totalverbot gefordert, was zu einer Frontenverhärtung führt.

Sex und Nacktheit in der Klassik

Die Klassik hat häufig das Image, konservativ, streng, gesittet und formell zu sein. Das stimmt auch einerseits, denn die intensive Auseinandersetzung mit dem Instrument und mit der Komposition erfordert Disziplin. Anderseits sehe ich nicht, dass die Klassik konservativ wäre, in dem Sinne Sex und Nacktheit darin verpönt wären. Es gibt Sex- und Nacktszenen in Opern und Operetten. Von Konzertsolistinnen wird eher erwartet, dass sie viel Haut zeigen und sich attraktiv präsentieren, als dass sie sich dezent kleiden.

Welche Musikerin hat nicht schon einmal zu hören bekommen: »Sei nicht spießig, du bist Künstlerin und keine Finanzbeamtin« oder »Sei nicht prüde, wir sind in der Kunst und nicht in der Kirche?« Die Botschaft solcher Sprüche ist: »Du bist nur dann richtig, wenn du dich gern ausziehst. Du bist nur dann eine echte Künstlerin, wenn du offen für Sex bist. Gewalt geht natürlich nicht, aber du willst es doch auch selbst.«

Hier der original-Podcast, der den Artikel provozierte

Ein Künstleragent hat einmal öffentlich damit geprahlt, dass er mit seinen Künstlern »in den Puff« gehen würde und dass dies für sie keine beruflichen Nachteile hätte. Dass er nur mit Künstlerinnen zusammenarbeitet, denen seine Haltung nicht stört, versteht sich von selbst.

#MeToo-Debatte

Die Musik hat eine sinnliche Wirkung. Ein Paar, das während einer Aufführung eines Haydn-Quartetts in der KitKat Bar erotische Gefühle entwickelt und in beiderseitigem Einvernehmen SM-Sexpraktiziert, ist damit glücklich. Das ist eine andere Situation als wenn ein Kollege während einer Probe des Haydn-Quartetts Gefühle von Nähe verspürt und die Kollegin nackt auszieht und überfällt. Bei MeToo geht es in erster Linie um Situationen, in denen die Kollegin sich nicht ausziehen oder Sex haben wollte, aber dazu gezwungen wurde. In zweiter Linie geht es auch um Situationen, in denen die Kollegin aufgrund eines Macht- und Abhängigkeitsverhältnisses ambivalent auf die Situation reagierte.

Natürlich gibt es auch Fälle, in denen Frauen bereitwillig Sex mit Männern in Machtpositionen gehabt haben, um ihre Karriere aktiv zu fördern. Es gibt auch Künstlerinnen, die sich gerne und bereitwillig aufreizend oder knapp kleiden. Sie werden im Musikbetrieb meistens als lustig und umgänglich empfunden. Es wäre jedoch falsch, dies als Norm und allgemeingültig für alle zu betrachten.

Selbstfindung und Befreiung

Es ist nicht selten, dass professionell ausgebildete klassische Musiker sich nach dem Studium das Bedürfnis verspüren, sich vom – in der Ausbildung zwar sicher sinnvollen, aber auf Dauer jedoch künstlerisch hemmenden – perfektionistischen Akademismus mit Punkten, Zeugnissen und Preisen zu befreien. Das heißt nicht, dass sie dann weniger Qualitätsanspruch an sich stellen würden. Es ist ein Versuch, sich von den Wertungen realer oder verinnerlichter Prüfer loszulösen.

Das bedeutet auch nicht unbedingt, dass sie sich endgültig vom Mainstream-Klassikbetrieb abwenden wollen oder keine Ambitionen mehr auf Hauptprogramme etablierter Häuser hätten. Es geht um die Schaffung selbstbestimmter Freiräume in einem noch nicht standardisierten Bereich.

Das kann je nach Persönlichkeit in unterschiedlichen Formen geschehen: Crossover-Projekte, Community-Projekte, Kammermusik mit Freunden, Konzerte in Kitas – oder eben auch Konzerte in einem Partyclub. Wenn in einer Fetischbar die passende Kleidung »gar keine« Klamotten bedeutet, ist es nur folgerichtig, dort nackt aufzutreten.

Konservativ oder progressiv?

Bei Themen wie Sex und Nacktheit gehen die Meinungen darüber, was konservativ und was progressiv ist, oft weit auseinander. MeToo wird gerne als eine Moraldebatte betrachtet, da es auch um Übergriffe geht, die nicht strafbar sind. Dabei geht es aber nicht darum, sexuelle Vorlieben zu werten oder sexuelle Sitten für alle Lebenslagen verbindlich festzulegen. Es geht um die Selbstbestimmung, um freie Entscheidungen auf Augenhöhe und um ein der jeweiligen Situation angemessenes Benehmen, um anderen nicht zu schaden.

Ich sehe es jedenfalls als einen Fortschritt und nicht als altbackene Prüderie an, wenn Musikprofessoren ihre Studentinnen nicht mehr so häufig unter dem Vorwand der Pädagogik dazu verpflichten, sich auszuziehen. Auch sehe ich generell keine qualitative Krise im Mainstream-Klassikbetrieb. Es gibt viele künstlerisch tolle Konzerte. Es wäre aber tatsächlich ein großer Fortschritt, wenn die Karriererouten im Mainstream-Klassikbetrieb offener und durchlässiger werden würden.

Ich finde es gut, dass es im KitKatClub und im Boulez-Saal unterschiedliche Dresscodes gibt. Die Locations haben unterschiedliche Schwerpunkte. Genauso wie die Nacktheit in einer Fußgängerzone eine andere Bedeutung hätte als in einem FKK-Schwimmbad, würde die Nacktheit im Boulez-Saal deshalb eine andere Botschaft aussenden als im KitKatClub.

Shoko Kuroe

Shoko Kuroe tritt als Solistin in Europa, in den USA und in Japan auf, auch mit Orchestern unter Dirigenten wie z. B. Volker Schmidt-Gertenbach, Horia Andreescu und Saulius Sondeckis. Sie ist eine begeisterte Kammermusikerin und arbeitete auch mit Schauspielern wie z.B. Evelyn Hamann, Christoph Bantzer und Hans-Jürgen Schatz zusammen. Ihre Interpretationen sind dokumentiert in internationalen TV- und Rundfunkaufnahmen (u.a. bei ARD, ZDF, NDR, dem Rumänischen Nationalrundfunk) sowie CD- Einspielungen. Seit 1986 ist sie regelmäßig Gast bei internationalen Festivals wie z.B. dem Schleswig-Holstein Musik Festival, wo sie auch als Dozentin an der Orchesterakademie tätig war.

Ein wichtiger Teil ihrer künstlerischen Arbeit liegt in der Musikvermittlung - so wirkte sie u.a. bei Familienkonzerten des Schleswig-Holstein Musikfestivals, am „Training for Education“ Programm des Aldeburgh Festivals sowie an den „Outreach Concerts“ in England und in den USA mit, und entwickelte das Programm „Elise im Wunderland“.

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