Eigentlich wollte Axel Brüggemann mit Oksana Lyniv nur über Musik sprechen – und nicht über den Krieg gegen die Ukraine. Das ist die erste halbe Stunde gut gelungen, dann überwogen die Gefühle.
Oksana Lyniv und ich haben uns schon vor den Großangriff Russlands auf die Ukraine immer wieder ausgetauscht: Damals ging es um eine Mozart-Skulptur in Lviv. Und immer wieder haben wir dann über die Bedeutung der Politik in der Kunst geredet. Nun haben wir uns vorgenommen, einfach Mal nur über die Musik und das Dirigieren zu sprechen. Das ging auch lange gut: Aber irgendwann war Tschaikowski dann doch ein Thema – und die Ruinen in ihrer Heimat, der Ukraine.
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Die besten Stellen des Podcasts
Frau Lyniv, Sie kommen aus einer Musikerfamilie und haben Flöte gelernt – wann kam die Überlegung: »Ich will dirigieren!«?
Eigentlich bin ich ja Dirigentin in dritter Generation: Mein Großvater und mein Vater haben schon dirigiert – allerdings als Chorleiter. Und ich fand es bereits als Kind faszinierend, wie ein Mensch mit seinem Ausdruck, mit seinen Armen, seinen Augen und seinen Gesten Musik zum Klingen bringen kann. In meinem Studium an der Hochschule in Lwiw gehörte es zur Ausbildung, als Orchestermusikerin auch das eigene Hochschulorchester zu dirigieren. Und das hat mir immer sehr viel Spaß gemacht. Als unser Dozent sich einmal das Bein gebrochen hatte, passierte etwas Spannendes: Plötzlich gab es bei manchen von uns ein Disziplin-Problem, wenn sie dirigiert haben – bei anderen nicht. Ich erinnere mich sehr genau, dass mich dieses Phänomen sehr beschäftigt hat: Warum hört ein Orchester bei einem Dirigenten zu, und beim anderen nicht?
Wenn Sie vor den Orchester standen herrschte offensichtlich Disziplin, oder?
Auf jeden Fall war ich es am Ende, die das Abschiedskonzert dirigieren durfte. Danach kam zunächst ein älterer Herr auf mich zu und sagte sinngemäß: »Sie sind kein Toscanini, aber sie könnten eine große Zukunft vor sich haben.« Und dann kam ein Kommilitone und fragte mich, ob ich nicht lieber Orchester als Chöre dirigieren wolle. Dieses Lob und die Frage haben mich damals vollkommen überrumpelt, und ich fragte zurück: »Dürfen Frauen das überhaupt?« Fakt war: Natürlich durften Frauen Orchester dirigieren – aber es haben sich eben kaum Frauen getraut, das auch wirklich zu tun.
Das führt zurück zur ersten Frage, welche Antwort würden Sie heute geben: Warum akzeptieren Orchester manche Dirigenten – und andere nicht?
Es geht in erster Linie wohl um so etwas Unkonkretes wie die Ausstrahlung. Der Dirigent ist letztlich eine Art Hypnotiseur. Wir können selber keinen Klang erzeugen, sondern müssen das, was wir im Kopf entwickelt haben, an das Orchester übertragen. Allein durch Bewegungen, Ausdruck und Ausstrahlung. Es geht also darum, intellektuelle Ideen so zu vermitteln, dass am Ende ein sinnlicher Klang entsteht. Man könnte auch sagen: Wir Dirigenten müssen Musik verkörpern, um sie den Musikerinnen und Musikern zu vermitteln.
Aber jedes Orchester ist ja selber ein lebendiger Organismus. Nehmen wir das Beispiel des Bayreuther Festspielorchesters: In Ihrem ersten Jahr bei den Festspielen gab es Musiker, die gesagt haben: »Frau Lyniv hat sich sehr viele, sehr spannende Gedanken gemacht, aber es ist nicht ganz leicht, sie richtig lesen zu können.« Nachdem sie wiedergekommen sind, war die Situation eine ganz andere: Plötzlich haben viele Musikerinnen und Musiker geschwärmt, dass Sie viel lockerer waren und dass viel klarer wurde, was sie wollen…
Ich glaube, das sind ganz normale Formen der Annäherung. Wenn man ein neues Stück einstudiert, versucht man natürlich, sich maximal vorzubereiten – ganz besonders, wenn man sein Debüt in Bayreuth gibt. Und natürlich muss man dann mit sehr vielen Impulsen kämpfen, die man erst einmal ordnen muss. Es ist ja das Eine, ein Werk zu Hause »trocken« vorzubereiten – das passiert in erster Linie am Klavier und im Kopf, also ohne Gegenüber. Und dann steht man irgendwann vor dem Orchester und sieht, welche der eigenen Ideen auch in der Praxis funktionieren – und welche nicht. Dann ist man mit dem Unterschied von der Idee eines Klanges und der Realisierung eines Klanges konfrontiert. Ich vergleiche das gern mit einem Rezept, auch das ist ja erst einmal eine Theorie. Am Ende kann eine Prise Salz oder der eine kleine Löffel Butter zu viel oder zu wenig die ganze Balance gefährden.
Und dann spielen sicherlich auch die äußeren Umstände eine Rolle: Ihr Bayreuth-Debüt fiel in die Zeit nach der Corona-Pandemie…
Ja, ich hatte während der Pandemie natürlich keine Termine und konnte mich deshalb um so mehr einlesen und vorbereiten. Gleichzeitig musste ich vor Ort aber erst einmal akzeptieren, dass wir uns mit dem Orchester wieder einspielen mussten. Hinzu kamen die ganzen Regeln: Es durfte damals nicht einmal der ganze Chor auf die Bühne stehen, und dauernd wurden die Besetzungen getauscht. Dazu kam noch, dass die ganze Welt auf dieses Dirigat geschaut hat, weil ich die erste Frau in Bayreuth war. Aber ich muss sagen, dass die Probe-Bedingungen in Bayreuth grundsätzlich sehr gut sind – das ist ja nicht selbstverständlich.
Sie meinen, dass das von Ort zu Ort anders ist?
Ja. In Deutschland hat man für ein Symphoniekonzert manchmal fünf Proben, in den USA sind zwei Proben die Regel. In diesem Moment wird es wichtig, sofort genau auf den Punkt zu dirigieren: Ich muss bereits beim ersten Durchspielen genau meine Tempi und meine Vorstellungen treffen. Danach habe ich vielleicht noch 20 Minuten Zeit, um einzelne Passagen zu wiederholen. Da ist es besonders wichtig, effizient vorzugehen, genau zu überlegen, wann ich abbreche und wo ich später in der Aufführung einfach Dinge durch das genaue Anzeigen beeinflussen kann. Ich lerne also während des Probedurchlaufs, welche Stellen und welche dramaturgischen Punkte ich in der Aufführung wie gestalten will.
Sie waren vier Jahre lang Assistentin von Kirill Petrenko an der Staatsoper in München. Wie schauen Sie auf diese Zeit zurück?
Das war eine sehr lehrreiche Zeit, besonders, weil ich seine Arbeitsweise beobachten konnte und die Art, mit der er diese wunderbaren Resultate erreicht. Natürlich haben mich auch die kurzen Gespräche inspiriert, obwohl er sehr sparsam in derartigen Dialogen ist. Aber in seinen kurzen Sätzen habe ich das radikal Selbstkritische von Kirill Petrenko geschätzt. Ich habe gelernt, dass ein gutes Resultat immer auch Ergebnis einer andauernden Selbstbefragung ist. Diese Bereitschaft, immer weiter an sich zu arbeiten, bewundere ich sehr an ihm.
Sie haben eben von der »Musik im Kopf« gesprochen. Wie entsteht überhaupt ein musikalisches Ideal?
90 Prozent unseres Repertoires besteht ja aus Stücken, von denen es schon zig Aufnahmen von großen Dirigenten gibt. Da stellt sich natürlich immer die Frage: Was habe ich überhaupt dazu beizutragen? Jeder junge Dirigent hört all diese unterschiedlichen Aufnahmen und Ansätze, um sich dann selber zu positionieren. Für mich ist die grundsätzliche Frage aber eine andere: Wie komme ich maximal nah an den Kern einer Komposition? Dafür reicht es nicht, andere Aufnahmen anzuhören. Ich muss selber forschen und studieren. Ich muss herausfinden, was Wagner oder Puccini bewegt hat, um genau die Musik zu spielen, die sie geschrieben haben.
Das bedeutet, der Kern einer Interpretation ist nicht unbedingt die Musik, sondern auch der Kontext, in dem die Musik entstanden ist?
Ja, natürlich! Und ich muss diesen Kontext am besten auch in der Musik miterzählen. Nehmen wir den Fliegenden Holländer: Wagner war sehr jung, sehr verzweifelt – und er schaute immer nach Frankreich und zu Meyerbeer. Damals hat er sich entschieden, die Symphonik hinter sich zu lassen und plante die Grand opéra in Paris zu erobern. Dann kam es zu dieser Überfahrt mit dem Sturm. Wagner kannte den Holländer von Heinrich Heine, aber dieser literarische Stoff stieß nun auf seine persönlichen Eindrücke. Statt acht Tagen dauerte seine Reise drei Wochen, er hing in Norwegen fest und hörte Matrosenlieder in den Hafenkneipen, in denen er gestrandet war. Und: In seiner kurzen Ehe mit Minna gab es bereits mehrere Krisen – einmal hat er sie beim Fremdgehen erwischt. Kein Wunder also, dass im Holländer 28 Mal die Rede von »Weibestreue« ist. Wagner hat den Holländer ganz sicher als autobiographisches Werk begriffen, und diese Oper auch ein Leben lang dirigiert. Und wenn man dann den Bogen zu Tristan und Isolde schlägt, wird klar, wie wichtig ihm dieses Stück war…
Okay, das sind wirklich sehr viele Gedanken! Fast schon ein musikwissenschaftlicher Vortrag. Das erinnert mich ein bisschen an die Zauberflöte von Nikolaus Harnoncourt: Kein Dirigent wusste so sehr über Mozart Bescheid wie er, aber am Ende war sein Salzburger Dirigat eher ein Aufsatz mit vielen Fußnoten – aber es fehlte, so empfand ich das, die sinnliche Ebene.
Das ist tatsächlich eine große Gefahr. Es muss darum gehen, all das Wissen zu verinnerlichen, um dann die Kleinteiligkeit hinter sich zu lassen und das große, emotionale Ganze zu fassen. Man muss also groß denken, um am Ende alles auf den Kern zurück bringen zu können. Wenn ich dirigiere, sehe ich parallel einen Film vor meinen Augen: Dann sehe ich in einem Moment nur die Augen des Holländers, dann sehe ich, wie sich eine Stimmung verändert, wie die Farben und das Licht wechseln. Es sind diese Dinge, die den Klang während eines Dirigats ausmachen. Wenn man so will: Der Moment, in dem sich das, was Wagner wirklich wollte mit dem mischt, was ich empfinde. Ich dirigiere den Holländer nun im vierten Jahr, und gerade das ist spannend: Ich durfte in Bayreuth erleben, wie ich gemeinsam mit dem Orchester immer tiefer und tiefer in die Partitur gesunken bin. Und auch das darf man nicht vergessen: die Welt verändert sich andauernd, und damit auch unser Blick auf die Musik!
Gerade Ihre Welt hat sich mit dem brutalen Angriffskrieg auf Ihre Heimat, die Ukraine, grundlegend verändert …
Tatsächlich beeinflusst das den Blick auf Vieles sehr. Selbst bei Opern wie dem Holländer – ich verstehe die Dämonen da heute ganz anders. Der Kampf um die Seele oder den Holländer-Monolog, wenn die Welt zusammenkracht – und dann die drei Posaunen-Akkorde erklingen. Das hat apokalyptische Farben, eine Todesstimmung. Gleichzeitig höre ich die Leere und die Müdigkeit im Holländer. All das fühle ich heute ganz anders als vor vier Jahren. Ich sehe da inzwischen die Ruinen von Mariupol. Aber eben auch die Liebe als große Hoffnung. Der Kontrast von Reinheit und dreckigem Krieg.
Was löst dieser neue Blickwinkel bei Ihnen aus?
Als Mensch ist es für mich einfach schwer, dass Kriege noch heute zu unserer Zivilisation gehören. Auf der einen Seite entwickeln wir dauernd neue i-Phones oder schnellere Flugzeuge, auf der anderen Seite bewegen wir uns noch immer im Mittelalter, als rohe Kraft und brutale Gewalt die Welt regierten. Das ist doch sehr ernüchternd! Eigentlich dreht sich in allen großen Kunstwerken doch vieles um diese Frage, und es ist für mich schwer zu akzeptieren, dass wir Menschen das zwar erkennen, aber uns dennoch einfach nicht weiterentwickeln.
Heißt das, die Kultur hat am Ende gar keinen Sinn?
Wenn man die Situation der zerstörten Städte in meiner Heimat sieht, die toten Familien und Kinder, könnte man die Situation tatsächlich als hoffnungslos bewerten. Auf der anderen Seite denke ich an Schopenhauer, der gesagt hat, dass die Musik die Menschen erziehen kann, dass sie uns emotional zu Veränderungen führen kann. Ich würde mir das so sehr wünschen. Auf der anderen Seite: Hitler war auch ein großer Wagnerianer – und es hat bei ihm offensichtlich zu keiner humanistischen Erkenntnis geführt. Vielleicht muss ich es so formulieren: Die Realität zeigt immer wieder, dass Musik nicht vor dem Bösen schützt – und dennoch möchte ich in dieser Sache Idealistin bleiben.
Vielleicht ist es ja auch genug, wenn Kultur uns ermöglicht, genau diese Fragen überhaupt zu debattieren. Wenn sie einen Raum zum Dialog eröffnet…
Ja, aber auch hier habe ich erlebt, wie sich der Raum in existenziellen Momenten verengt. Ich kenne das aus den Vorwürfen, als ich trotz des russischen Angriffs auf die Ukraine weiterhin Tschaikowski dirigiert habe… Ich stand in der gesamten Ukraine unter Druck. Selbst als ich als erste Ukrainerin an der MET in New York dirigiert habe, hat sich meine Heimat nicht gefreut, sondern sich darüber beschwert, dass ich in Dresden Eugen Onegin dirigieren will. Das ganze Land hat sich wegen meines Repertoires aufgeregt…
Das ist um so absurder, da Sie ja gerade mit dem Jugendorchester der Ukraine, aber auch schon vorher mit der West-Bindung Ihres Mozart-Festivals in Lwiw gezeigt haben, wie sehr Ihr Herz für eine offene Ukraine schlägt…
Ja, und ich kämpfe auch für den humanistischen Wert der Werke von Tschaikowski. Dafür, dass uns klar werden muss, dass Tschaikowski mit seinen Werten oder seiner Homosexualität im heutigen Russland aufgeschmissen wäre. Er kann nichts für Putins Gewaltorgien! Er hätte unter Putins Russland gelitten! Für mich ist es um so bitterer zu sehen, dass die Tschaikowski-Straße in Odessa nun umbenannt werden soll. Tschaikowski war in Odessa, es hängt ein großes Porträt von ihm im Dirigentenzimmer – und ich empfinde es als Vandalismus an seiner Musik, wenn wir ihn demontieren.
Es scheint Ihnen zunehmend schwerer zu fallen, sich immer wieder für die Musik zu positionieren, und immer wieder Angriffe aus Ihrer Heimat zu ertragen?
Das ist persönlich in der Tat eine sehr, sehr schwere Situation. Und es kostet mich sehr viel innere Kraft. Aber ich muss auf meiner Position beharren – das bin ich meiner Arbeit und der Musik schuldig. Und ich merke, dass es mich immer stolzer macht, dass ich diese Position vom ersten Tag des Angriffskrieges nicht verraten habe. Aber genau so wie für Tschaikowski setze ich mich auch für das Spielen ukrainischer Musikerinnen und Musiker ein, die von der Sowjetunion unterdrückt wurden. Es bleibt mir als Musikerin am Ende doch nichts anderes übrig, als für die humanistische Botschaft der Musik einzustehen. Dabei nimmt die Kritik inzwischen ja auch absurde Züge an: einmal wurde ich verurteilt, weil ich ein »Wagner«-T-Shirt trug, und mir Nähe zur Söldnergruppe Wagner unterstellt wurde. Das muss man sich einmal vorstellen! Aber diese Nachricht wurde an einem Tag in 45 unterschiedlichen Medien der Ukraine veröffentlicht. Und damit nicht genug: Russische Medien haben das nun für ihre Propaganda aufgenommen und berichtet, dass die Ukraine ihre eigene Dirigentin canceln will. Sie sehen daran, wie absurd die Situation zuweilen ist.
Man kann es ja auch anders sehen: Dass Sie zum Politikum werden, zeigt zumindest, dass die klassische Musik noch eine gesellschaftliche Relevanz hat.
Das mag sein, aber es geht im privaten Bereich dafür sehr viel kaputt. Ich komme gerade aus der Ukraine, wo ich meine Eltern besucht habe. In Lwiw, wo ich so viel aufgebaut habe, gibt es gerade noch eine Hand voll Menschen, die ich zu einem Kaffee treffen kann. Selbst meine damaligen Mitschülerinnen wollen sich nicht mehr mit mir treffen, weil ich als Verräterin gelte. In drei Jahren gab es nur eine Journalistin in der Ukraine, die mich nach meinen Beweggründen gefragt hat, Tschaikowski zu dirigieren – und auch sie stand sofort in der Kritik.
Wie reagieren Sie auf diese absurde Situation?
Manchmal tröstet mich ein Blick in die Vergangenheit: Toscanini ist nach New York ausgewandert, weil er von Mussolini aufgefordert wurde zu dirigieren, er hat dafür sogar eine Ohrfeige eingesteckt. Und was hat er in New York mit seinem neuen Orchester gespielt? Wagner und Beethoven! Deutsche Komponisten! Er hat also den Faschismus nicht mit der Musik der von ihm verehrten Komponisten zusammengebracht. Es ist diese Haltung, die ich heute sehr gut nachvollziehen kann.