Der Pianist Alexey Botvinov und der Schriftsteller Michail Schischkin über die Notwendigkeit der Kunst in Zeiten des Krieges
English summary: Ukrainian pianist Alexey Botvinov and Russian writer Mikhail Shishkin stress the vital role of art during war. At the exiled Odessa Classics festival, they highlight how music and literature offer hope and resilience amid Russian attacks. Both call for unity among artists against war and warn against banning Russian culture, urging greater visibility for Ukrainian artists
Tägliche Raketen – und Drohnenangriffe auf Kiew, Odessa, Sumy und Charkiw. An die Brutalität der Luftschläge scheinen sich viele im vierten Kriegsjahr gewöhnt zu haben, Meldungen über Tote und Verletzte rutschen aus den Schlagzeilen, man ist müde vom Zermürbungskrieg, den Putin perfide hinter dem Brennpunkt Nahost und anderen Krisen weiterführt. So scheint die Stimmung (nicht nur) in der Klassik-Bubble – zumindest in Deutschland. Ganz anders sehen es die Menschen, die direkt betroffen sind, die um ihre Kunst ringen, die ihre Musik zum Überleben brauchen.
BackstageClassical hat sich zwei Tage lang auf Schloss Elmau umgehört. Hier fand im Juni die dritte Exil-Ausgabe der Odessa Classics statt, zur gleichen Zeit fielen Bomben auf eine Geburtsklinik in Odessa. Antonia Munding hat sich mit dem Pianisten, Opernintendanten und Gründer des Festivals Alexey Botvinov und dem Schriftsteller Michail Schischkin darüber unterhalten, wie Künstler für die Demokratie spielen, kämpfen – und sterben.
Die russischen Luftangriffe auf die Ukraine sind dreieinhalb Jahre nach Putins Großangriff auf die Ukraine so brutal wie nie zuvor. Trotzdem: Während gezielt Zivilisten angegriffen werden, verschwinden die Geschehnisse allmählich aus den Schlagzeilen. Gerade wurde der Tenor Wladyslaw Horaj von einer russischen Rakete getötet … er war jahrzehntelang an der Oper in Odessa engagiert… kannten Sie sich?
ALEXEY BOTVINOV: Ja … er war einer der führenden Tenöre unseres Landes, bekannt auch über die Grenzen hinaus. Ich habe ihn in meiner Zeit als Operndirektor oft gehört. Mir fehlen die Worte für das, was gerade passiert…
Angesichts dieser Aggression – wie wichtig ist es Ihnen, Odessa Classics fortzuführen? Sie haben das Festival 2015 gegründet, seit 2022 muss es im Exil stattfinden…
BOTVINOV: Es bedeutet mir enorm viel. Odessa ist nicht nur meine Heimatstadt, sie symbolisierte bereits zu Sowjetzeiten den Traum vom freiheitlichen Leben. Als Hafenstadt suchte sie immer die Anbindung an die westliche Kultur. 1933 eröffnete der Geiger und Pädagoge Pjotr Stoljarski hier die erste staatliche Musikschule für hochbegabte Kinder. So entwickelte sich hier ein Mekka der Violin-Virtuosen. Namen wie David Oistrach, Nathan Milstein, Emil Gilels und Svyatoslav Richter verbindet man mit Odessa. Und Sie haben es angedeutet, wir dürfen nicht nachlassen, Aufmerksamkeit für die Ukraine zu generieren. In diesen Krisen- und Kriegszeiten ist Musik nicht nur die wirksamste Seelenmedizin, sie ist auch eine Waffe, um menschliche Werte hochzuhalten.

Alexey Botvinov Gilt als renommiertester ukrainischer Pianist der Gegenwart, bekannt durch seine Interpretation der Goldberg-Variationen, die er mehr als 300 mal live aufführte, Gründer und künstlerischer Leiter des Odessa Classics-Festival. Michail Schischkin Wurde als einziger Autor mit den drei wichtigsten russischen Literaturpreisen dem Russischen Booker-Preis, dem Nationalen Bestseller Preis und dem Bolschaja-Kniga-Preis ausgezeichnet. Seit 2013 spricht sich Schischkin öffentlich gegen die Politik Wladimir Putins aus, er verurteilte die Annexion der Krim und den Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 . Im März 2025 erklärte ihn die russische Regierung zum „ausländischen Agenten“
Wie ist die Redaktion bei den Ukrainerinnen und Ukrainern auf das Festival?
BOTVINOV: Seit Februar 2022 habe ich mehr als 60 Odessa Classics Exil-Konzerte organisiert und gespielt. Immer sitzen Landsleute im Publikum, die mir im Anschluss sagen, wie wichtig es ist, gerade jetzt ukrainische Musik und ukrainische Künstler zu hören. Es würde sie aus der Isolation reißen, Hoffnung entfachen, ja, sie hätten auch das Gefühl, ihre Erinnerungen teilen zu können. Natürlich kann man mit Kunst keine Raketen aufhalten, aber man kann die Atmosphäre beeinflussen. vielleicht bin ich naiv, aber ich glaube an die Macht der Kultur.
MICHAIL SCHISCHKIN: Es stimmt – weder Bücher noch Musik stoppen die Bombardements auf Charkiw oder Odessa … aber wieviel Hoffnung steckt in dieser symbolischen Geste! Am Ende wird sich herausstellen, dass die Diktatur gegenüber der Kultur chancenlos ist: Stalin und Putin kommen und gehen. Aber Bachs unsterbliche Musik…? Sie wird uns immer begleiten. Und wir müssen Menschen, die an den Nachrichten verzweifeln … erst gestern, wurde die Geburtsklinik in Odessa zerbombt – noch immer gräbt man Kinder aus den Trümmern. ..Wir müssen diesen Leuten doch Hoffnung geben, dass die Kultur, das Menschliche siegen wird.
Putins Annexion der Krim 2014 war der Auslöser für Ihr Festival?
BOTVINOV: Ja. Nach der ersten Schockstarre überlegten meine Frau Jelena und ich, wie wir unser Land, aber auch unsere Heimatstadt Odessa unterstützen könnten. Wir planten, ein ständiges Musikfestival zu gründen obwohl uns viele abrieten, den Zeitpunkt für falsch und uns für verrückt erklärten. Denn auf staatliche Unterstützung konnten wir nicht bauen, der Fokus lag auf der militärischen Verteidigung des Landes.
Wie haben Sie es geschafft? Immerhin gilt Odessa Classics inzwischen als wichtigstes Festival für klassische Musik in der Ukraine – mit einer enormen internationalen Ausstrahlung…
BOTVINOV: Uns hat der Mut der Verzweiflung getrieben. Über sieben Jahre wuchs das Festival – eine überraschende, wirklich große Erfolgsgeschichte … Aber dann fallen im Februar 2022 die Bomben, die nächste Eskalationsstufe. Ich war zu diesem Zeitpunkt mit meiner Familie in Zürich, um mit Daniel Hope für unser Album mit Werken Valentin Silvestrovs zu proben. Am nächsten Tag sind wir nach Elmau gereist, um ein Charity Konzert zu geben, das lange geplant war. Von dort zu einer großen Veranstaltung nach Berlin, wo Herr Steinmeier im Publikum saß – aber auch Valentin Silvestrov war dort. Er war kurz zuvor nach Berlin geflohen. Ich hatte ihn ausfindig gemacht und eingeladen – und Daniel Hope bat ihn nach unserem Konzert auf die Bühne. Silvestrov erzählte von den traumatischen Umständen seiner Flucht, setzte sich plötzlich spontan an den Flügel und spielte eine traumhafte Melodie. Ich weiß noch, wie alle den Atem anhielten. Niemand hatte mit dieser Schönheit gerechnet, nach dem Horror seiner Schilderungen.
Sie sprechen von den Gegenpolen Krieg und Kunst – von der Möglichkeit, Erinnerungen zu teilen. Wie kompliziert ist es in diesen Zeiten als ukrainischer und russischer Künstler gemeinsam auf einer Bühne zu stehen?
SCHISCHKIN: Es ist eine riesige Herausforderung. Ich habe viele ukrainische Schriftsteller in meinem Freundeskreis. Einige Wochen nach dem Einmarsch der Russen, war ich zu einer Veranstaltung mit Andrej Kurkow und Jurij Andruchowytsch geladen… und Jurij zeigte mir eine Mail – man hatte eine Hetzwelle gegen ihn im Internet losgetreten. Sinngemäß stand darin: »Jeder Russe, unabhängig davon, ob er für Putin ist oder gegen ihn, ist scheiße. Du hast ihn berührt, du stinkst.« Können Sie sich vorstellen, welcher Druck da herrscht und welcher Mut dazu gehört, sich dem entgegenzusetzen. Es ist großartig, was Alexey Botvinov macht. Er sammelt Leute der Kultur aus verschiedenen Ländern, die Nein zur Diktatur, Nein zum Krieg sagen. Deutlich sagen.

BOTVINOV: Wenn wir an die Freiheit glauben, an Demokratie, dürfen wir nicht plakativ sein. Es ist nicht nur wichtig, ukrainische Künstler und Künstlerinnen zu fördern, es ist zugleich ein riesiger Fehler, die russische Sprache und Kultur zu ächten. Ich weiß, das ukrainische Kulturministerium übt diesen Druck jetzt aus, und ich konnte das eine zeitlang verstehen bzw. nachvollziehen, aber ich denke, es ist ein Fehler. Meine Muttersprache und die aller meiner Vorfahren, seit sechs Generationen ist Russisch. Das heißt nicht, dass ich damit einverstanden bin, dass Putin unser Land in Russland verwandeln will, aber ich will meine Muttersprache nicht canceln.
Können Sie erklären, warum man in Europa aber nach wie vor nur wenige Namen ukrainischer Künstler kennt?
BOTVINOV: Weil hinter erfolgreichen russischen Künstler eine riesige Geld-und Propaganda-Maschinerie steckt. Wettbewerbe gewannen oft diejenigen, die von Gazprom gesponsort wurden. Und klar war, wer in der Sowjetunion Karriere machen wollte, der musste ans Moskauer Konservatorium. Sonst war man ein Nobody. Auch ich habe dort studiert, bin aber später nach Odessa zurückgekehrt, während die meisten meiner Kolleginnen in Moskau blieben.
Es geht also um unseren verklärten Blick auf Russland?
BOTVINOV: Ich denke, durch diesen Krieg ist vielen klar geworden, dass die Ukraine keine russische Kolonie ist. Und es geht uns auch in erster Linie darum, ukrainische Musiker und Komponisten sicht- und hörbarer zu machen, ihnen mehr Chancen und Auftrittsmöglichkeiten zu verschaffen – aber eben in Kollegialität mit all jenen, die sich gegen den Krieg aussprechen.
… wie die Pianistin Dinara Klinton aus Charkiw, die jetzt auf dem Festival mit einer unvergleichlichen Chopin-Interpretation auftrat …
BOTVINOV: Grigory Sokolov empfahl sie uns. Er hatte sie auf einem youtube -Video entdeckt und war verblüfft über ihre Kraft und Virtuosität, auch darüber, dass niemand sie kannte.
Putin führt einen hybriden Krieg, er nutzt die Komponisten, Dichter und Denker als Sprachrohre seiner Propaganda. Eine seiner ersten Amtshandlungen war die stalinistische Hymne wieder einzuführen.
SCHISCHKIN: Das stimmt. Schon da hätten wir hellhörig werden müssen.
In meinem neuen Buch schreibe ich über russische Schriftsteller im Prisma dieses Krieges –Essays über Puschkin, Tolstoi, Gogol, Turgenjew. Bis Februar 2022 hielt ich die russische Literatur für den festen Boden unter meinen Füßen. Aber nach Februar 2022 fühlte ich mich über einem Abgrund. Wissen Sie wie viele Schulen es in Russland gibt? 100 000! – und in jeder hängt ein Porträt von Leo Tolstoi. Aber kein Lehrer erwähnt Tolstois Zitat »Patriotismus ist Sklaverei« gegenüber seinen Schülern …
Im Konzertprogramm mit Alexey Botvinov beschreiben Sie die unheilvolle Allianz der Mächtigen mit der Kunst paradigmatisch am Treffen Puschkins mit Zar Nikolaus: »Wenn es darum geht, ihre Feinde zu vernichten, sind die russischen Machthaber klug und findig. Nikolaus erklärte sich zu des Ersten Dichters Erstem Leser. Mit jener Unterredung im Kreml beginnt die Doppelherrschaft in Russlands Köpfen.«
SCHISCHKIN: In einer Diktatur wird die Kunst nur dazu benutzt, um den Mächtigen zuzujubeln, um patriotische Gefühle zu wecken, ansonsten hat das Volk zu schweigen.
Im Moment geht es um nichts Geringeres als um die Verteidigung der menschlichen Kultur. Die Ukraine wurde zum Symbol dieses globalen Krieges der von allen Seiten kommenden und angreifenden Barbarei gegen die Zivilisation. Überall – in der Slowakei, in Ungarn, Polen, sind die Rechtsnationalen ganz vorne, in Frankreich und in Deutschland sind sie auf dem Vormarsch, in Amerika haben Sie die Macht bereits übernommen. Deshalb ist es so wichtig, dass alle Menschen, die verstehen, was Menschlichkeit ist, was ein Rechtsstaat ist, warum wir eine Demokratie brauchen, dass sie der Ukraine helfen, diesen Krieg gegen das faschistische Russland zu gewinnen.
Was können Künstler dabei tun?
SCHISCHKIN: Indem wir zum Beispiel für komplexe Lesarten unseres »Nationaldichters« Puschkin kämpfen, verteidigen wir das kritische Denken, das individuelle Bewusstsein gegen die Dumpfheit eines patriarchalen Stammesbewusstsein. Die Literatur, die Musik, sind dabei unsere einzigen Waffen. Deshalb habe ich dieses Buch geschrieben, als Anregung einer großen Revision. Denn auf welchen Sätzen bauen wir die Zukunft auf, wenn wir diesen ganzen Patriotismus hinter uns gelassen haben? Es geht darum, die Würde im Menschen zu erziehen. Das ist es, was uns mit der Weltkultur vereint.
BOTVINOV: …auch Rachmaninoff und Tschaikowksi gehören zur Weltkultur und eben nicht zu Putins Diktatur. Alles, was dieser Musik gedanklich zugrunde liegt, wendet sich gegen Krieg, Als zeitgenössische Stimme spricht sich Valentin Silvestrov eindrücklich, gegen ihn aus. Er versteht seine Musik als eine einzige Meditation, die an manchen Stellen melodisch, harmonisch fast klassisch klingt. Dabei verwendet er eine spezielle rhythmische Struktur, die improvisiert, ad libitum wirkt, tatsächlich aber sehr exakt notiert ist. Für jeden Ton hat er eine ganz präzise Vorstellung. Silvestrov ist davon überzeugt, dass die Musik bereits geschaffen ist, und der Komponist sie lediglich hör – und sichtbar macht.
Das widerspricht dem Genie-Gedanken…
BOTVINOV: Ja, Silvestrov wendet sich gegen die Egomanie des Künstlertums. Seine Stücke enden nie mit einem heroischen Schluss, sondern immer mit einer Verwunderung oder Beiläufigkeit, sie sind von einer offenen Schönheit, die sich gegen jede Art der Vereinnahmung, ja, gegen den Imperialismus wehrt.