»Er riecht nach frischem Moos, vielleicht«

Mai 29, 2025
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Eine Kritik der Kritik (Foto: BC)

Bodyshaming in einer Online-Kritik und unverhülltes Groupietum in der ZEIT. Die Musikkritik steckt in der Krise – und reagiert mit Stilblüten.  

English summary: Music criticism is in crisis: fewer reviews are published, feuilletons shrink, and critics respond with extremes—from bodyshaming in Der Opernfreund to fan-girl adoration in Die ZEIT. A sexist review of soprano Friederike Meinke sparked backlash, while glowing, emotional portraits of conductors blur lines between critique and fandom. The lack of transparency further erodes trust.

Die Welt der Musikkritik steht Kopf. Zeitungen drucken immer weniger Rezensionen, die Feuilletons schrumpfen, und was macht die Musikkritik in diesen Kisen-Zeiten? Sie benimmt sich wie ein Dinosaurier im Porzellanladen! 

Der letzte Vorfall fand im Online-Magazin Der Opernfreund, statt und wurde sogar auf BR-Klassik debattiert: Dieter David Scholz schrieb in einer Kritik über Offenbachs Orpheus in der Unterwelt an der Leipziger Oper über die Sängerin Friederike Meinke: »Ihr recht plump erotisches Spiel dagegen, gepaart mit geradezu obszön exhibitionistischer Zurschaustellung ihrer allzu üppigen, kaum verhüllten, nicht eben ansehnlichen Weiblichkeit grenzte ans Peinliche…« Puh!

Der Shitstorm

Die Redaktion erreichte (natürlich!) ein Shitstorm, der Chefredakteur verteidigte den Text dennoch: Die Kritik richte sich nicht gegen die Körpermaße der Sängerin, sondern gegen die bewusste Art ihrer Darstellung auf der Bühne, ließ er wissen. Anders sah das die Oper Leipzig, die ein Statement mit Haltung veröffentlichte: »Künstlerische Darbietungen können und sollen zur Diskussion stehen. Diese Diskussion verliert jedoch an Qualität und Respekt, wenn sie in abwertende Kommentare z. B. über körperliche Merkmale mündet. Solche Aussagen verletzen die Würde der Ausübenden und fördern diskriminierende Denkmuster.«

Das war ziemlich viel Aufmerksamkeit für die Geschmacksverirrung eines, nun, sagen wir es höflich, Kritikers, der nicht gerade in der Championsleague der Musikkritik spielt. Aber die große Aufmerksamkeit an diesem Fall könnte auch daran liegen, dass derartig persönliche Kritik inzwischen System zu haben scheint. Könnte es sein, dass der Bedeutungsverlust von Kritikerinnen und Kritikern bei ihnen dazu führt, durch besonders ausfällige Artikel Aufmerksamkeit zu generieren? 

Orpheus in der Unterwelt in Leipzig (Foto: Nijhof)

Manuel Brug hatte 2019 in der Welt die Sängerin Kathryn Lewek im Salzburger Orpheus als »dick« beschrieben, worauf diese sich zur Wehr setzte und Brug »Fatshaming« vorwarf. Damals wurde sie in ihrer Kritiker-Kritik von den Salzburger Festspielen unterstützt. Brugs Texte, die immer auch selber ein bisschen puffige Inszenierung und Drama bedienen, die nicht davor zurückschrecken auch über die Mütter von Künstlern zu schreiben und zuweilen unter die Klamotten gehen, sind Geschmacksache. Old School eben.

Wenn Kritikerinnen zu Groupies werden

Aber was ist eigentlich mit Artikeln wie jenem Porträt von Christine Lemke-Matwey über Klaus Mäkelä, das gerade in der ZEIT erschienen ist? Die Redakteurin begleitete den Dirigenten über eine lange Zeit, selbst der Perlentaucher kommentierte, dass Mäkelä der Autorin Pralinen anbot und sie ihm »spürbar nahe« kam. Als Beleg wird ihr Satz zitiert: »Er riecht gut, nach Sandelholz, Eberesche und Norden, nach frischem Moos vielleicht.« Ist das wirklich wesentlich für ein Dirigenten-Porträt? Oder ist das schon Groupietum? 

Darauf, dass Lemke-Matwey Mäkelä den Titel »Jung-Siegfried« verleiht, sollte der sich allerdings nicht so viel einbilden, denn genau so nannte die Redakteurin  2022 bereits ihren damaligen, großen Schwarm, Teodor Currentzis: den »Jung-Siegfried vom Ural.« Die Klassik-Boys scheinen austauschbar zu sein.

Geschenkt sind parfümierte Girlie-Schwelgereien wie: »Mäkelä spricht schnell, ein gelenkiges Englisch, und wenn ihn etwas freut, ruft er mit tiefer Stimme ‚Ooh!‘ oder ‚Hoho!‘, was niedlich und wikingerhaft zugleich klingt.« Stellen wir uns einen Augenblick lang vor, ein männlicher Kritiker würde so etwas über eine Frau schreiben! 

Dass Kritikerinnen als Groupies Karrieren von Künstlern lostreten können, ist schon lange her. 2010 verfiel Eleonore Büning in der FAZ dem damals noch jungen Igor Levit und schrieb nach dessen Liszt-Etüden: »Wir haben uns umarmt und geschnieft, einer von den Musikern flüsterte immer nur so etwas wie ‚nicht zu fassen‘, und Levit fiel, nachdem er auf dem Flur all die dahingestammelten Komplimente entgegengenommen hatte, in komischer Verzweiflung auf die Knie und weinte fast ein bisschen mit.« Danach begann Levits Karriere als Wunderwuzzi.  

Eine Frage der Transparenz

Immerhin, wenn Christine Lemke-Matwey in der ZEIT über Christian Thielemann jubelt, wird dem Text am Ende ein Transparenzhinweis anheimgestellt, in dem offengelegt wird, dass sie auch Koautorin der Thielemann-Bücher ist.

Derartige Transparenz ist im Feuilleton längst nicht überall angekommen. Auch große überregionale Zeitungen oder Autorinnen und Autoren von öffentlich-rechtlichen Sendern lassen sich einladen, ohne das öffentlich zu machen. Und aus Erfahrung kann ich sagen, dass es unter Kritikerinnen und Kritikern mehrere »Raupen Nimmersatt« gibt, die sich an den Pausenbuffets kostenfrei die Häppchen reinzimmern. Mir fallen nur wenige Kolleginnen und Kollegen ein, die neben den (leider tatsächlich mickrigen) Zeitungs-Honoraren nicht auch von Programmhefttexten oder Einführungsvorträgen für Orchester leben, ohne das in ihren Texten transparent zu machen. Und dass neulich der ehemalige Chefdramaturg der Wiener Staatsoper eine Jubel-Kritik über den Tannhäuser an der Wiener Staatsoper für die Frankfurter Allgemeine Zeitung verfasste, ist inzwischen: ganz normal. 

Wundert es da noch jemanden, dass immer weniger Leute da draußen die Kritik nicht mehr ernst nehmen? Die Klassik-Kritik steckt in der Krise. Sie hat sich längst in die Nische verabschiedet, wo sie auf unterschiedlichem Niveau angekommen ist. Selbst einstige »Großkritikerinnen« und »Großkritiker« schreiben ihre Texte heute für Online-Magazine, um bloß nicht ganz aufhören zu müssen – um noch irgendwo Bedeutung zu finden. Dieter David Scholz stellt sich auf seine Homepage unter seinem Doktortitel als »Journalist und Buchautor – ARD, Online- & Printmedien« vor. Dass seine wirklich miserabel formulierte Kritik aus dem Opernfreund  bis zum Bayerischen Rundfunk schwappt, zeigt vor allen Dingen eines: Die Welt der Musikkritik ist längst auf den Kopf gestellt.

Axel Brüggemann

Axel Brüggemann arbeitet als Autor, Regisseur und Moderator. Er war als Kulturredakteur und Textchef bei der Welt am Sonntag tätig und schrieb danach für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. Heute veröffentlicht er u.a. im Tagesspiegel, im Freitag, der Jüdischen Allgemeinen oder in der Luzerner Zeitung. Er arbeitet für Radiosender wie den Deutschlandfunk, den WDR oder den HR. Seine Fernsehsendungen und Dokumentationen (für ARD, ZDF, arte oder SKY) wurden für den Grimmepreis nominiert und mit dem Bayerischen Fernsehpreis ausgezeichnet. Brüggemann schrieb zahlreiche Bücher u.a. für Bärenreiter, Rowohlt, Beltz & Gelberg oder FAZ Buch.

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