Vordirigieren ohne Honorar und kritische GMD-Verträge: Werden Dirigenten an unseren Theatern klein gehalten? Und wie mächtig sind unsere Intendanten? Eine Bestandsaufnahme am Beispiel Kassel.
English summary: At Staatstheater Kassel, tensions between conductor and management expose a broader power shift in German theaters. Critics say directors like Florian Lutz prioritize concept over music, while conductors face undervaluation and weak contracts. A recent Deutsche Bühne issue uncritically praises Lutz, ignoring serious internal conflicts. The situation raises questions about artistic leadership, cultural policy, and the future balance between music and staging in opera.
Theater und ihre Intendanten kämpfen derzeit besonders heftig um Meinungshoheit. Jüngstes Beispiel ist die Ausgabe der Deutschen Bühne. Sie widmet sich dem Staatstheater Kassel – und das ziemlich distanzlos. Klar, das Magazin wird vom Deutschen Bühnenverein herausgegeben und ist so gesehen eine Art Lobby-Blättchen der Häuser. Dass am Ende aber ein reines Werbe-Pamphlet für das Theater und seinen umstrittenen Intendanten herausgekommen ist, ein Heft, in dem hauptsächlich Theater-Insider und Lutz-Groupies schreiben, sorgt nicht unbedingt dafür, dass die grundsätzlich spannende Debatte, die im letzten Jahr um das Haus getobt hat, konstruktiv weiter gedacht wird.
Kleiner Rückblick: Letztes Jahr hatten sich immer mehr Orchestermusikerinnen und -musiker darüber beschwert, dass Intendant Lutz die Rolle der Musik in seinen Bühnenkonzepten schrumpfe, beklagten sich über seine interne Kommunikation – es mussten sogar Mediationen angeordnet werden. Lutz selber witterte eine Intrige. Schließlich kam es zum öffentlichen Krach. Der Generalmusikdirektor (GMD) des Hauses, Francesco Angelico, schmiss entnervt das Handtuch.
Eigentlich tobt in Kassel eine Grundsatzdebatte
BackstageClassical hatte damals als eines der ersten Medien über den Krach berichtet. Nach Beschwerden der Intendanz machte ich mich auf, um mir vor Ort ein Bild von der Situation zu machen. Mein Eindruck war so zerrissen wie all das, was man im Vorfeld hörte: Ein überaus selbstbewusster Theaterleiter erklärte mir bei einem Bier in der Bar seinen Weg, ein frustrierter Dirigent, der offensichtlich keine Lust mehr hatte, für seine Auffassung von Oper zu kämpfen, klagte mir sein Leid. Außerdem erlebte ich ein zutiefst zerrissenes Kasseler Bürgertum, das stets loyal zum Theater stand, mit der neuen Intendanz aber massiv fremdelte.

Etwas später schickte auch die FAZ eine Berichterstatterin nach Kassel. Die schlug sich dann unverhohlen auf die Seite des Orchesters. Unter dem Titel »Wie das Staatstheater Kassel kaputtgeht« stellte sich die Zeitung erstaunlich einseitig auf die Seite des GMD und kritisierte die schwierige Kommunikation von Intendant Lutz.
Ich versuchte in meiner Reportage damals, beide Seiten zu verstehen und fasste zusammen: »Die einzelnen Gruppen, die in Kassel aufeinanderprallen, stehen stellvertretend für ganz unterschiedliche Erwartungen innerhalb einer Gesellschaft an eine städtische Bühne.« Es war ein öffentliches Ringen zwischen Innovation und Tradition, Neuerfindung der Oper und Bewahrung des Alten. In Kassel wurde ein Konflikt über das Genre Oper offenbar. Und leider reduzierte sich alles ziemlich schnell auf eine Entweder-oder-Konstellation. Entweder so genanntes »Regie-« und »Dramaturgentheater« oder »musikalisches Theater«. Entweder ein Primat für das Konzept oder für den Klang. Entweder der Intendant oder der GMD. Später in der Spielzeit haben wir ähnliche Showdowns auch an anderen Häusern erlebt – etwa in Bremerhaven, wo das Orchester ebenfalls gegen seinen Intendanten protestierte. All das war Anlass für einen größeren Text zum Thema: Intendanten und ihre Orchester.
Sind die Orchester ignorant?
In der aktuellen Ausgabe der Deutschen Bühne bezieht Detlef Brandenburg nun ziemlich eindeutig Position für Florian Lutz. Seine Argumentation stellt zunächst einmal zu Recht die Rolle der Opernsparte an den deutschen Mehrspartenhäusern in den Vordergrund.
Detlef Brandenburg geht davon aus, dass viele Orchester lieber symphonische Konzerte spielen als sich mit der Oper auseinanderzusetzen und kritisiert einige der Ensembles dafür, sich nicht genügend auf neue Regiekonzepte einzulassen. Er schreibt: »Hier das Konzert im Licht der Bühne oder des Konzertsaals, wo Orchester und Dirigent glanzvoll hervortreten, dort der unauffällige Dienst da unten im Dämmerlicht des Grabens.« Dann kommt er zur Conclusio: »Dass sich die Aufmerksamkeit der Orchestermusiker und Dirigenten eher aufs glanzvolle Konzert fokussiert (…), ist verständlich.« Schließlich erklärt Brandenburg, dass Regisseure in Kassel das Orchester »nicht missbrauchen« würden, dass es das »gute Recht« eines Regisseurs sei, die Musikerinnen und Musiker »theatralisch einzusetzen« – nach seinen Vorstellungen, versteht sich.
Bevor wir diese Argumente ordnen, zunächst noch ein kleiner, aber wichtiger Nebengedanke: Welche Rolle dem Orchester innerhalb eines Theaters zukommt, bemisst sich vor allen Dingen an der Rolle der Dirigenten. Und es ist ziemlich offensichtlich, dass diese in den letzten Jahren kontinuierlich neu definiert wird. Zuweilen beginnt die Missachtung schon, bevor überhaupt ein Vertrag unterschrieben wird: Wir haben von mehreren Dirigentinnen und Dirigenten erfahren, dass sie für die Bewerbung auf eine Kapellmeister-Stelle einen Opernabend dirigieren sollten – was nicht bezahlt wurde. Erst auf Drängen der GMD-Konferenz haben einige Häuser diese Praxis, an der sich die Geringschätzung des Dirigenten schon vor Amtsantritt manifestiert, geändert.
Prima il dramma, poi la musica
Noch entscheidender aber ist, dass (ebenfalls nach Befragung der GMD-Konferenz) ein Drittel aller GMD-Verträge an deutschen Stadttheatern als NV-Bühne unterzeichnet werden sollen – also als Normal-Vertrag ohne gesonderte Rechte.
Doch wenn die Position eines GMD innerhalb eines Hauses im Normalvertrag geregelt wird, bedeutet das nicht nur, dass die Aufgaben eines Orchesterleiters die Arbeitszeitregelungen dieses Vertrags grundsätzlich sprengen, dass seine Position gegenüber dem Orchester schon bei Amtsantritt geschwächt ist, sondern erst Recht eine Schwächung der musikalischen Leitung gegenüber der Intendanz. Das Motto prima il dramma, poi la musica scheint inzwischen zur Selbstverständlichkeit an vielen Theatern geworden zu sein.
Eine neue Selbstverständlichkeit, die sich auch in Detlef Brandenburgs Essay widerspiegelt, nach dem Regisseure »das Recht« haben, ein Orchester nach ihren Vorstellungen »einzusetzen«. Und mehr noch: Wenn sich das Orchester beschwert, habe es den Sinn der Oper nicht verstanden! Vielleicht ist es auch diese Arroganz, die eine andere Grundkonstellation von Oper oft erst gar nicht zu Stande kommen lässt: Die gemeinsame Arbeit an einer gemeinsamen Produktion und das kollektive Ringen auf Augenhöhe um eine gemeinsame, ästhetische Ausdrucksform.
Konstruktive Orchester
Journalisten wie Brandenburg und Intendanten wie Lutz verkennen dabei auch, dass das Orchester (neben dem Chor) das einzige abgesicherte Kollektiv an einem Haus ist. Anders als Sängerinnen oder Sänger, die relativ leicht gekündigt werden können, sind Orchester arbeitsrechtlich gut (und einigermaßen sicher) organisiert. Sie sind die einzigen, die weitgehend risikolos auf Missstände hinweisen können. Auch das macht sie zu einem Sprachrohr anderer Abteilungen, wenn Kritik am Haus lauter wird.

Als ich in Kassel war, erklärten mir viele Musikerinnen und Musiker, dass sie mit Lutz‘ Raumbühne kein Problem hätten, so lange sie ein Experiment sei. Als dauerhafte Einrichtung aber würde das Konstrukt, in dem Publikum und Musiker sich in jeder Szene auf anderen Ebenen bewegen, von der Musik ablenken. Ich habe damals die Carmen in der Kasseler Raumbühne gesehen: Und es ist tatsächlich so, dass es in dieser Konstellation nur sehr schwer ist, der Musik, den Stimmen und der musikalischen Dramaturgie zu folgen.
Ich glaube auch nicht an Brandenburgs These, dass Musikerinnen und Musiker weniger Interesse an guten Opernproduktionen haben als an Symphoniekonzerten. Im Gegenteil: Alle großen und guten Orchester wie die Staatskapelle Dresden oder die Wiener Philharmoniker profitieren in ihren Konzerten von ihrer Arbeit im Graben, von der Spontanität der Oper, ihrer Intuition, ihrer konkreten, musikalischen Aussage und ihrer musikantischen Ausrichtung.
Die Zeit der Machtverschiebung
Ein Schlüssel des wahren Problems ist offensichtlich eine Machtverschiebung an deutschen Opernhäusern. Intendanz und Regie werde immer wichtiger, weil sie immer mächtiger werden. Und sich damit auch wichtiger nehmen. In diesem neuen Verhältnis entstehen dann Kommunikations-Katastrophen wie in Kassel. Florian Lutz war schon in seiner vorherigen Station, in Halle, nicht gerade bekannt für sein diplomatisches Geschick. Und auch in Kassel hat er sich schnell ein Dramaturgie-Team an die Seite geholt, das nicht gerade durch Charisma, sondern eher durch Besserwisserei auffällt, das weniger dem Publikum und dem Haus lauscht als dass es Dogmen vor sich her trägt.
Es ist ein wenig befremdlich, dass ausgerechnet im Zentralorgan des Deutschen Bühnenvereins, der Deutschen Bühne, ein Theater weitgehend kritiklos gefeiert wird, an dem die interne Betriebskultur offensichtlich defizitär ist. Genau das dürfte am Ende weniger dafür sorgen, dass Lutz und seine Art ein Theater zu führen mehr Verständnis finden als dafür, dass die Gräben innerhalb des Hauses nur noch größer werden.
Und was macht die Kulturpolitik?
Letztlich wäre es eine kulturpolitische Aufgabe, sich im Vorfeld von Benennungen darum zu kümmern, dass Orchester, GMD und Intendanz eine gemeinsame Kraft für einen gemeinsamen Weg finden. In der Deutschen Bühne kommt auch Hessens Kulturminister, Timon Gremmels, zu Wort. Gremmels Vorgängerin, Angela Dorn, hatte Lutz‘ Vertrag trotz Orchesterprotest verlängert, Gremmels selber ordnete Mediationen an. Doch den Versuch, ein besseres Betriebsklima zu schaffen, zerstörte er schon wenige Wochen später, als er den Dirigenten Ainārs Rubiķis als Nachfolger des im Orchester beliebten Francesco Angelico ernannte – ebenfalls gegen das Votum der Musikerinnen und Musiker. In der Deutschen Bühne schreibt Gremmels indes weitgehend über Friede, Freude, Eierkuchen. Und so ist es am Ende auch die Verantwortungslosigkeit der Kulturpolitik, die nicht nur das Vertrauen in die Politik, sondern auch in die Kultur gefährdet. Wie glaubwürdig ist es, wenn Intendanz, Bühnenverein und Politik in einer PR-Broschüre an den eigentlichen Problemen unserer Theater vorbeischreiben. Könnte es sein, dass diese Scheuklappen-Mentalität das eigentliche Problem von Florian Lutz und seiner Intendanz ist?
Korrektur: In einer älteren Version hieß es, dass Timon Gremmels Lutz‘ Vertrag verlängerte, aber es war seine Vorgängerin Angela Dorn.