Der Dirigent Martin Haselböck erklärt in diesem Gastbeitrag, dass die Salzburger Festspiele die russische Kulturpropaganda unterschätzen.
In der Eröffnungsrede der diesjährigen Salzburger Festspiele von Nina Chruschtschowa war mehrfach von der Gefahr der Ausgrenzung der russischen Kultur die Rede. Anschließend wurde diese angebliche »Gefährdung« in unterschiedlichen Medien-Kommentaren mit der Nicht-Einladung russischer Künstlerinnen und Künstler verknüpft – immer wieder fielen dabei die Namen Teodor Currentzis und Anna Netrebko.
Dabei negiert oder boykottiert niemand – ja wirklich NIEMAND (jedenfalls in Österreich oder Deutschland) – die russische Kultur als solche. Im Gegenteil, der Spielplan (nicht nur der Salzburger Festspiele) zeigt, dass wir derzeit von einem Boom der Aufführungen russischer Werke sprechen können. Hiesige Opernhäuser und Orchester laden wie bisher russische Solistinnen und Solisten ein. Viele von ihnen sind allerdings selbst schon ins Ausland übersiedelt, für andere ist es schwer, bei uns aufzutreten, während ihr Land vor unserer Haustüre aktiv Krieg führt.
Chruschtschowa ignoriert Auslöschung ukrainischer Kultur
Wir haben mit unserem Orchester Wiener Akademie, in dem auch russische und weißrussische Musikerinnen und Musiker mitspielen, im vergangenen Jahr mehrere russische Solistinnen und Solisten gehabt und unterstützen zur Zeit einen exilierten russischen Musikwissenschaftler und Ensembleleiter in der Produktion einer Oper eines ukrainisch-gebürtigen Komponisten des 18. Jahrhunderts.
Die Festspielrede von Frau Chruschtschowa war klug – auch, weil sie nicht nur auf die aktuelle Situation eingegangen ist. Aber Kultur, und in diesem Fall die russische Kultur, wurde von ihr als ein abstraktes Ideal verstanden – abgehoben und isoliert von Politik und Krieg. Doch in der derzeitigen Situation ist Kultur auch ein »Instrument der Durchsetzung staatlicher Politik« und muss sich dabei oft den Zielen der russischen Staatlichkeit unterordnen. Die »Grosse russische Kultur« wird also als mediale Chiffre der staatlichen Propaganda missbraucht (»Konzeption der humanitären Politik Russlands«, 2022).
Und auch die angestrebte Auslöschung der ukrainischen Kunst und Kultur durch die Invasoren wurde in der Salzburger Rede mit keinem Wort angesprochen. Das wäre aber wichtig gewesen! Da es für Putin keine ukrainische Nation gibt, gibt es auch keine ukrainische Geschichte und Kultur. Das Propagieren russischer Kultur und russischer Künstlerinnen und Künstler wird so zum Vorspiel einer gestaffelten Invasion, die zuerst die Kunst, dann die Wirtschaft und dann die Waffen einsetzt. Dabei gibt es sie durchaus, die ukrainische Literatur und Musik und die eigene Sprache (wir Österreicher haben ihr unter Josef II. noch eine Grammatik und Universitäten gewidmet).
Der Krieg fordert auch Opfer in der Klassik
Eine großartige Kultur, die derzeit von Russland vorsätzlich zerstört wird. Ich kenne die Dokumentation der Zerstörung der Museen in Cherson und Dnipro, wir wissen über das Verbot der ukrainischen Sprache in den besetzten Gebieten, über die Situation ukrainischer Schriftsteller wie Kurkow und Andruchowytsch und über die zerfallenden Strukturen der Orchester und Opernhäuser.
Unser Konzertmeister Ilia Korol ist als Ukrainer eng vernetzt mit dem ukrainischen Musikleben, er ist Mitinitiator unserer Aktion ENERGiZING UKRAINE, mit der wir bisher einigen Profi-Orchestermusikern und -musikerinnen eine neue Existenz nach der Flucht ermöglichen konnten. Jede dieser Persönlichkeiten bringt ihr eigenes tragisches Schicksal mit.
Die Opferzahlen des Krieges sind auch in der Szene der klassischen Musik enorm: Nach Yuriy Kerpatenko, dem in Cherson erschossenen Dirigenten, sind erst in den vergangenen Wochen zwei junge höchst begabte Sänger an der Front gefallen.
Ich selbst habe viel in Russland gearbeitet, konnte mehrfach das Mariinsky-Orchester, aber auch Orchester in Moskau dirigieren. Der traditionsreiche Orgelwettbewerb in Kaliningrad wurde von mir mitbegründet. Die in St. Petersburg für Currentzis möglich gemachten Ressourcen, auch die Finanzierung seiner Orchester, in denen mehrere meiner Musiker mitgewirkt haben, ist bekannt. Currentzis ist Künstler im System Putin – mit direktem Zugang zu Finanzen und Macht.
Currentzis Problem ist, dass er instrumentalisiert wird
Die Parallelen zum Dritten Reich sind offensichtlich: Ein Land marschiert in seinen Nachbarstaat ein, usurpiert ihn und löscht seine kulturelle Identität aus. Orchester- , Opern- und Theaterproduktionen der eigenen Nation werden als Botschafter der eigenen Kultur ins (»befreundete«) Ausland gesendet.
Currentzis Problem ist in dieser Zeit des Krieges nicht sein künstlerisches Schaffen, sondern seine Instrumentalisierung durch Putins Russland. Wenn die Platzierung seiner Orchester im internationalen Festspielbetrieb durch russische Gelder ermöglicht wurde, wenn seine Position in St. Petersburg durch ein eigenes Konzertgebäude etabliert werden soll – dann ist die vom Salzburger Intendanten apostrophierte »rote Linie« im Umgang mit ihm längst überschritten. Valery Gergiev hat sich nach Kriegsausbruch selbst aus dem internationalen Musikbetrieb zurückgezogen und damit ein klares Statement abgegeben.
Künstler ziehen sich in kritischen Zeiten oftmals aus der tragischen Realität in eine abgehobene Scheinwelt zurück – vielleicht ist es kein Zufall, dass ausgerechnet Capriccio von Richard Strauss auf dem diesjährigen Salzburger Spielplan steht: Die Zukunft wird zeigen, ob wir in Currentzis einen Furtwängler oder doch einen Toscanini erleben werden.
Salzburg sollte sein Handeln überdenken
So oder so: Die »grosse russische Kultur« verdient auch heute unsere Beachtung und Unterstützung. Die zahlreichen russischen Künstlerinnen und Künstler, die durch den Krieg zum Verstummen oder ins Ausland gezwungen wurden, sollen eingeladen und gefördert werden. Vorsicht und Distanz ist bei jenen (wenigen) geboten, die sich durch ihre Verquickung mit dem Regime selbst belastet haben.
Die Salzburger Festspiele haben ihr Handeln in der Nazizeit kommissionell aufgearbeitet. Es wäre gut, wenn die in diesem Prozess gewonnen Erfahrungen dazu führen würden, dass die Entscheidungen, die in Sachen Russland im Hier und Jetzt getroffen werden nicht wieder erst posthum zurechtgerückt werden müssen.