»Currentzis hat Hinterhäusers ‚rote Linie‘ überschritten«

August 15, 2024
3 mins read
Der Dirigent Martin Haselböck (Foto: Wiener Akademie)

Der Dirigent Martin Haselböck erklärt in diesem Gastbeitrag, dass die Salzburger Festspiele die russische Kulturpropaganda unterschätzen.

In der Eröffnungsrede der diesjährigen Salzburger Festspiele von Nina Chruschtschowa war mehrfach von der Gefahr der Ausgrenzung der russischen Kultur die Rede. Anschließend wurde diese angebliche »Gefährdung« in unterschiedlichen Medien-Kommentaren mit der Nicht-Einladung russischer Künstlerinnen und Künstler verknüpft – immer wieder fielen dabei die Namen Teodor Currentzis und Anna Netrebko. 

Dabei negiert oder boykottiert niemand – ja wirklich NIEMAND (jedenfalls in Österreich oder Deutschland) – die russische Kultur als solche. Im Gegenteil, der Spielplan (nicht nur der Salzburger Festspiele) zeigt, dass wir derzeit von einem Boom der Aufführungen russischer Werke sprechen können. Hiesige Opernhäuser und Orchester laden wie bisher russische Solistinnen und Solisten ein. Viele von ihnen sind allerdings selbst schon ins Ausland übersiedelt, für andere ist es schwer, bei uns aufzutreten, während ihr Land vor unserer Haustüre aktiv Krieg führt.

Chruschtschowa ignoriert Auslöschung ukrainischer Kultur

Wir haben mit unserem Orchester Wiener Akademie, in dem auch russische und weißrussische Musikerinnen und Musiker mitspielen, im vergangenen Jahr mehrere russische Solistinnen und Solisten gehabt und unterstützen zur Zeit einen exilierten russischen Musikwissenschaftler und Ensembleleiter in der Produktion einer Oper eines ukrainisch-gebürtigen Komponisten des 18. Jahrhunderts.

Die Festspielrede von Frau Chruschtschowa war klug – auch, weil sie nicht nur auf die aktuelle Situation eingegangen ist. Aber Kultur, und in diesem Fall die russische Kultur, wurde von ihr als ein abstraktes Ideal verstanden – abgehoben und isoliert von Politik und Krieg. Doch in der derzeitigen Situation ist Kultur auch ein »Instrument der Durchsetzung staatlicher Politik« und muss sich dabei oft den Zielen der russischen Staatlichkeit unterordnen. Die »Grosse russische Kultur« wird also als mediale Chiffre der staatlichen Propaganda missbraucht (»Konzeption der humanitären Politik Russlands«, 2022).

Eröffnungsrede von Nina Chruschtschowa

Und auch die angestrebte Auslöschung der ukrainischen Kunst und Kultur durch die Invasoren wurde in der Salzburger Rede mit keinem Wort angesprochen. Das wäre aber wichtig gewesen! Da es für Putin keine ukrainische Nation gibt, gibt es auch keine ukrainische Geschichte und Kultur. Das Propagieren russischer Kultur und russischer Künstlerinnen und Künstler wird so zum Vorspiel einer gestaffelten Invasion, die zuerst die Kunst, dann die Wirtschaft und dann die Waffen einsetzt. Dabei gibt es sie durchaus, die ukrainische Literatur und Musik und die eigene Sprache (wir Österreicher haben ihr unter Josef II. noch eine Grammatik und Universitäten gewidmet).  

Der Krieg fordert auch Opfer in der Klassik

Eine großartige Kultur, die derzeit von Russland vorsätzlich zerstört wird. Ich kenne die Dokumentation der Zerstörung der Museen in Cherson und Dnipro, wir wissen über das Verbot der ukrainischen Sprache in den besetzten Gebieten, über die Situation ukrainischer Schriftsteller wie Kurkow und Andruchowytsch und über die  zerfallenden Strukturen der Orchester und Opernhäuser. 

Unser Konzertmeister Ilia Korol ist als Ukrainer eng vernetzt mit dem ukrainischen Musikleben, er ist Mitinitiator unserer Aktion ENERGiZING UKRAINE, mit der wir bisher einigen Profi-Orchestermusikern und -musikerinnen eine neue Existenz nach der Flucht ermöglichen konnten. Jede dieser Persönlichkeiten bringt ihr eigenes tragisches Schicksal mit. 

Die Opferzahlen des Krieges  sind auch in der Szene der klassischen Musik enorm: Nach  Yuriy Kerpatenko, dem in Cherson erschossenen Dirigenten, sind erst in den vergangenen Wochen zwei junge höchst begabte Sänger an der Front  gefallen. 

Ich selbst habe viel in Russland gearbeitet, konnte mehrfach das Mariinsky-Orchester, aber auch Orchester in Moskau dirigieren. Der traditionsreiche Orgelwettbewerb in Kaliningrad wurde von mir mitbegründet. Die in St. Petersburg für Currentzis möglich gemachten Ressourcen, auch die Finanzierung seiner Orchester, in denen mehrere meiner Musiker mitgewirkt haben, ist bekannt. Currentzis ist Künstler im System Putin – mit direktem Zugang zu Finanzen und Macht.

Currentzis Problem ist, dass er instrumentalisiert wird

Die Parallelen zum Dritten Reich sind offensichtlich: Ein Land marschiert in seinen Nachbarstaat ein, usurpiert ihn und löscht seine kulturelle Identität aus. Orchester- , Opern- und Theaterproduktionen der eigenen Nation werden als Botschafter der eigenen Kultur ins (»befreundete«) Ausland gesendet. 

Currentzis Problem ist in dieser Zeit des Krieges nicht sein künstlerisches Schaffen, sondern seine Instrumentalisierung durch Putins Russland. Wenn die Platzierung seiner Orchester im internationalen Festspielbetrieb durch russische Gelder ermöglicht wurde, wenn seine Position in St. Petersburg durch ein eigenes Konzertgebäude etabliert werden soll – dann ist die vom Salzburger Intendanten apostrophierte »rote Linie« im Umgang mit ihm längst überschritten. Valery Gergiev hat sich nach Kriegsausbruch selbst aus dem internationalen Musikbetrieb zurückgezogen und damit ein klares Statement abgegeben. 

Künstler ziehen sich in kritischen Zeiten oftmals aus der tragischen Realität in eine abgehobene Scheinwelt zurück – vielleicht ist es kein Zufall, dass ausgerechnet Capriccio von Richard Strauss auf dem diesjährigen Salzburger Spielplan steht: Die Zukunft wird zeigen, ob wir in Currentzis einen Furtwängler oder doch einen Toscanini erleben werden.

Salzburg sollte sein Handeln überdenken

So oder so: Die »grosse russische Kultur« verdient auch heute unsere Beachtung und Unterstützung. Die zahlreichen russischen Künstlerinnen und Künstler, die durch den Krieg zum Verstummen oder ins Ausland gezwungen wurden, sollen eingeladen und gefördert werden. Vorsicht und Distanz ist bei jenen (wenigen) geboten, die sich durch ihre Verquickung mit dem Regime selbst belastet haben. 

Die Salzburger Festspiele haben ihr Handeln in der Nazizeit kommissionell aufgearbeitet. Es wäre gut, wenn die in diesem Prozess gewonnen Erfahrungen dazu führen würden, dass die Entscheidungen, die in Sachen Russland im Hier und Jetzt getroffen werden nicht wieder erst posthum zurechtgerückt werden müssen. 

Martin Haselböck

Der österreichische Organist und Dirigent Martin Haselböck gilt heute als einer der bedeutendsten Interpreten und Dirigenten originaler Klangkultur. Aus einer Wiener Musikerfamilie stammend, studierte er in Wien und Paris. Mit internationalen Wettbewerbspreisen ausgezeichnet, erwarb er sich früh große Reputation als Organist und arbeitete mit Dirigenten wie Claudio Abbado, Lorin Maazel, Wolfgang Sawallisch, Riccardo Muti und vielen anderen.
Martin Haselböcks intensive Beschäftigung mit dem Repertoire der klassischen Kirchenmusik im Rahmen seiner Tätigkeit als Hoforganist veranlasste ihn 1985 zur Gründung des Orchesters Wiener Akademie. Neben einem jährlichen Konzertzyklus in Wiener Musikverein und dem Lisztfestival Raiding sind er und sein Originalklangorchester regelmäßig Gast und "artists in residence" in Konzertsälen und Opernproduktionen auf der ganzen Welt.
Martin Haselböck ist gefragter Gastdirigent weltweit führender Orchester und leitete in dieser Funktion bisher die Wiener Symphoniker, das Gewandhausorchester Leipzig, das Deutsche Symphonie-Orchester und Konzerthausorchester Berlin, Staatskapelle Weimar, die Dresdner Philharmonie, das Orchestra Giuseppe Verdi Milano, die Nationalphilharmonien Spaniens, Ungarns, Tschechiens, Estlands, der Slowakei und Sloveniens, das Orchestre National de Lyon, das Royal Philharmonic Orchestra Flandern, das Marinksy Orchester und viele andere.

Fördern

Artikel auf BackstageClassical sind kostenlos. Wir freuen uns, wenn Sie unabhängigen Klassik-Journalismus fördern.

Mehr aktuelle Artikel

Malkovich gibt Celibidache

Der Film »Die gelbe Krawatte« über den Dirigenten Sergiu Celibidache mit John Malkovich ist abgedreht – noch ist nicht klar, wann er erscheint.

Gheorghius neuer Tosca-Skandal

Angela Gheorghiu unterbrach die Zugabe eines Tenors in Korea. Nun entschuldigt sie sich beim Publikum. Ein Video zeigt den Buhsturm für die Sängerin.

Kassel feuert Verwaltungsdirektor

Kassels Verwaltungsdirektor Dieter Ripberger war erst im Februar aus Tübingen gekommen – nun wehrt er sich gegen seien Rauswurf. Er bekommt Rückendeckung von Intendant Florian Lutz und dem Ensemble.

Kaufmanns Erl kuschelt mit Currentzis

Teodor Currentzis wird in Erl sein neues UTOPIA-Programm erarbeiten, dafür lädt das Festspielhaus »ausgewählte Gäste« zu einem »nicht öffentlichen Konzert«.

Happy Birthday, Arnold!

Heute feiert Arnold Schönberg 150. Geburtstag. BackstageClassical blickt auf seine jüdischen Einflüsse und thematisiert sein Leben in einem Podcast.

Don't Miss