Oper fürs Volk

Mai 7, 2025
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Opera Pub in der Grønland Boulebar (Foto: Songvoll)

Die NORDLICHT-Kolumne: Heute reisen wir nach Oslo und besuchen einen Pub, in dem regelmäßig vor einem vollkommen begeisterten Publikum geschmettert wird.

English summary: In Oslo’s multicultural Grønland district, a weekly „Opera Pub“ surprises audiences by blending opera arias with beer in a casual setting. Hosted by “Mama Opera” Gjøril Songvoll, this and other initiatives under Opera til folket bring opera to the people—engaging diverse audiences, from seasoned fans to curious newcomers, including children, in accessible, joyful performances.

Eine Boulebar im Osloer Multikulti-Stadtteil Grønland. An der Theke American Diner, die Spielautomaten stehen gelangweilt rum, auf den Bildschirmen wird Werbung gemacht für ein Pokerturnier und Bouleabende. Es ist 18 Uhr, noch ist es leer, die Tische sind aber sämtlich reserviert. An diesem Ort könnte man alles Mögliche vermuten – Oper gehört aber sicher nicht dazu. 

Zwei Stunden später. Das Publikum im übervollen Restaurant rastet aus. Thomas Ruud, in Deutschland erinnert man sich an seine Auftritte an den Staatsopern in Stuttgart und Hannover, hat soeben Nessun´ dorma geschmettert. Anmoderiert hat er den Puccini-Evergreen selbst –  in bester Entertainer-Manier wie seine Kollegen. Es gibt viel Zwischenapplaus und Gelächter an diesem Abend. Und es wird sich gewundert: »Ich habe noch nie Oper gehört, diese Stimmen sind ja krass, ganz ohne Mikro! Das ist der Hammer! Ich komme garantiert wieder« – sagt mein (zufällig deutscher, in Oslo lebender) Tischnachbar. So gemischt wie hier ist Opernpublikum wohl nirgends: Opernfreaks, Neulinge, Studentencliquen, eine Gruppe Pakistaner, die zufällig reingeschneit und dann, am Tresen stehend, begeistert geblieben sind. 

Arien und Bier

Auch neben dem Klavier (einen Flügel oder eine Bühne gibt es natürlich hier nicht, nicht einmal Scheinwerfer) geht es gemischt zu: Studierende und Mitglieder aus dem Opernstudio der Nationaloper sammeln Erfahrung hier, aber auch Sänger:innen aus dem großen Haus geben sich regelmäßig die Ehre, sogar Stars wie Elisabeth Teige sind schon aufgetreten beim Opera Pub, so heißt das Ganze. Und der findet, man glaubt es kaum, tatsächlich jeden Samstagabend statt, seit nunmehr bald 20 Jahren. Und dasaktuell bei freiem Eintritt: Die Künstler:innen bezahlt die Boulebar, die offenbar genug Umsatz macht mit dem Format zur Abendessenszeit.

Ein paar Stunden früher, in einem kleinen prächtigen Saal im Gamle Raadhus, dem Alten Rathaus in der Innenstadt: Hier findet regelmäßig die Lørdagsopera statt, die Samstagsoper. Hierfür kauft man Karten, die (hervorragende) Pianistin hat hier immerhin einen Flügel, es gibt entweder ein Potpourri oder das Schönste aus einer Oper in einer Stunde, beispielsweise Donizettis Liebestrank. Hier heißt er Elskovsdrikken, denn, genau, gesungen wird wenigstens teilweise auf Norwegisch. Wiederum sind die Sänger auch Entertainer, sowohl beim Moderieren als auch beim Singen selbst, auch hier wird viel gelacht und geklatscht. Wird ein beliebtes Stück anmoderiert, kommt vielfach zustimmendes »Ja takk!« aus dem auch hier fast ausverkauften Saal. Für viele der Besucher:innen ist die Lørdagsopera am Samstagmittag ein festes Ritual geworden, hier sind aus Bekanntschaften Freunde geworden. Manche suchen und finden hier nicht nur Gleichgesinnte, sondern auch Anschluss. 

Kinder nach vorne!

Opernhits für Kinder in der Gamle Raadhus Scene

Und die Kinder? Kriegen selbstredend ihr eigenes Format. Sonntagmittags, eine halbe Stunde, wiederum platzt der erste Stock des Gamle Raadhus aus allen Nähten, die Kleinsten sitzen vorne auf dem Boden. Wenige Requisiten, wenige Arien, zum Beispiel Escamillos Toréador, en garde aus Carmen. Wie ist das? Die Antwort gibt das Publikum: Von Anfang bis Ende ist die Rasselbande samt Eltern bei den Mitmachstellen mit Feuereifer dabei und sonst mucksmäuschenstill. Die Künstler haben also alles richtig gemacht. 

Allen diesen Events gemeinsam ist die Struktur dahinter; sie heißt Opera til folket, Oper für die Leute also. Die »elitäre« Kunstform ist hier nahbar, verständlich und populär: der Wunschtraum für alle Musikvermittler. Dass es in Oslo tolles und relevantes, in der Gesellschaft verankertes Musiktheater gibt, wissen viele, auch in dieser Kolumne hatten wir es schon davon. Dass aus diesem Besuch aber das wunderbarste und bewegendste aller bisherigen NORDLICHTER werden würde (passend zum ersten Geburtstag von BackstageClassical und NORDLICHT!), hat mich überrascht.

Mama Opera

Gjøril Songvoll, der „Opera til folket“ mastermind

Wer steckt dahinter? Das ist die Frau, die hier alle »Mama Opera« nennen, selbst früher Sängerin und unermüdlich am Rackern, selbstredend hat sie jede einzelne der vier besuchten Vorstellungen an- und abmoderiert, sämtliche Organisationsarbeit geleistet und dazwischen die Förderer umsorgt. Gjøril Songvoll hat selbst vor zwei Jahrzehnten jeden Samstag gesungen und aus dem anfänglichen Einzelformat den institutionellen Rahmen gebaut, der jetzt alles vereint, eben Opera til folket. Natürlich ist sie bestens vernetzt und hat viele junge Karrieren begleitet und gefördert. Und natürlich hat sie trotz Überlastung (das Projekt ist längst ihr Vollzeitjob) tausend Ideen, was als nächstes kommen wird; im September 2026 gibt es ein großes Festival zum Jubiläum. Und eine richtige, volle Opernproduktion mit Orchester. Ich komme!

Wir dürfen nicht vergessen: Die Kunstform hat wenig Tradition in Norwegen, und nur 7% der Menschen in diesem Land geben an, daran interessiert zu sein. Trotzdem schaffen es die Verantwortlichen am Opernhaus (das NORDLICHT über das Programm von Intendantin Randi Stene), von Opera til folket (Gjøril Songvoll), in Bergen an der Oper (der dirigierende Intendant Eivind Gullberg Jensen) oder beim Operafest in Røykenvik (das NORDLICHT über Eli Kristin Hannsveen), Publikum zu gewinnen und zu binden. Im und vom Norden können wir viel lernen! Und dieser letzte Besuch war für mich der bisherige Höhepunkt.

Service:
Opera til folket: https://operatilfolket.no/home/
Grønland Boulebar: https://gronlandboule.no/
Restaurant Gamle Raadhus: https://www.gamleraadhus.no/
Opernhaus Oslo: https://www.operaen.no/en
Operafest Røykenvik (13.-15.6.2025): https://operafest.no/program

Stephan Knies

Stephan Knies ist Dramaturg, Musiker, Librettist und Autor und schnell begeistert von gutem Theater-Handwerk, frischen Ideen und ungewöhnlichen Formaten. Seine Opern-Moderationen, beispielsweise für sein Ensemble »D´Accord« und dessen Wagner-Paraphrasen im Haus Wahnfried in Bayreuth oder in der Hamburger Elbphilharmonie, stoßen beim Publikum auf relativ wenig Ablehnung. Ein Schwerpunkt seiner Reisetätigkeit für Magazine wie die »Opernwelt« ist Nordeuropa – von Riga bis Reykjavik.

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