Es fehlt der Stachel im Fleisch der Musik

Oktober 19, 2025
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SWR Symphonieorchester mit Chefdirigent François-Xavier Roth (Foto: SWR, Karger)

Eine erste musikalische Bilanz der Donaueschinger Musiktage von Georg Rudiger.

English summary: Sound collages, nuanced orchestral works, and female voices shaped the Donaueschingen Musiktage. Mariam Rezaei brought fresh energy, while diverse premieres explored subtlety over provocation. Some critics noted a lack of edge, but virtuosity prevailed.

Es piepst und knistert aus den Lautsprechern. Klangfetzen tauchen aus der Geräuschkulisse auf. Allmählich bilden sich aus der Collage rhythmische Strukturen heraus – und ein längeres Saxofonsolo schafft Flow. Für ihre Komposition The Scholar’s Record für Turntables hat Mariam Rezaei das Donaueschingen-Archiv des SWR durchforstet und die Fundstücke gesampelt und gescratcht. Ihre Performance am Ende des Festakts 75 Jahre SWR bei den Donaueschinger Musiktagen im Strawinskysaal der Donauhallen war ein echter Appetizer für ihren längeren Open-Air-Auftritt vor dem Schloss am gleichen Abend.

Und beendete eine eher drögen Festakt, der den Einstieg des SWR im Jahre 1950 beim wohl wichtigsten Neue-Musik-Festival der Welt feierte. SWR-Programmdirektorin Anke Mai betonte, dass Kultur den Kopf frei mache und das Festival ein Seismograph der Gesellschaft sei. Kirsten Haß von der mitfinanzierenden Kulturstiftung des Bundes lobte die in Donaueschingen gezeigte Vielstimmigkeit. Nur die Musikjournalistin Eleonore Büning goss als Laudatorin ein wenig Wasser in den Wein, indem sie die fehlende Originalität mancher Kompositionsbeiträge bemängelte und die 2016 vollzogene SWR-Orchesterfusion kritisierte. 

Zartheit und Feinsinnigkeit

Beim Eröffnungskonzert in der Baarsporthalle mit dem SWR Symphonieorchester zeigte sich schon, was diese Festivalausgabe an den ersten beiden Tagen prägen würde – organische Entwicklungen statt Diskontinuität, Nuancenreichtum statt schroffer Kontraste. Die Buhrufe beim ersten Auftritt des neuen Chefdirigenten François-Xavier Roth (siehe dazu auch unseren Bericht von Alexander Strauch), der in der Vergangenheit mit Me-Too-Vorwürfen konfrontiert wurde, blieben die einzigen Misstöne.

Mark Andres Im Entfalten entwickelt eine zarte, fragile Klanglichkeit, die allmählich vom Geräusch zum Klang fortschreitet. Finger trommeln leise auf dem Donnerblech, Luft durchströmt die Blechblasinstrumente. Seine zarte, verästelte, sich immer wieder Tonzentren findende Komposition hat Andre dem 2016 verstorbenen Pierre Boulez gewidmet, dem Konzertmeister Jermolaj Albiker bereits beim Festakt mit einer feinsinnigen Interpretation von Anthèmes I seine Reverenz erwies. Imsu Chois Miro berührt durch raffinierte, immer wieder changierende Klangmischungen. Auch Turgut Erčetins There recedes a silence, faceting beyond enclosures für Klarinette (flexibel: Carl Rosman) entwirft fein abgestimmte, auch mal impressionistische Klangwelten, lässt aber das groß besetzte SWR Symphonieorchester zu oft in der Warteschleife. François-Xavier Roth sorgt für einen perfekt ausbalancierten Orchesterklang, der auch noch im Leisen  große Tiefenschärfe entfaltet. Das spannendste Werk ist aber Philippe Leroux’ Paris, Banlieue (Un informe journal de mes rêveries), der den Orchesterklang in den fünf Sätzen mit Elektronik spiegelt (IRCAM) und das SWR Symphonieorchester mit erdigen Blechakkorden, pulsierenden Streichern und gewaltigen Steigerungen fordert und zum Klingen bringt. 

In diesem Jahr sind bei den Donaueschinger Musiktagen 23 Uraufführungen (13 von Komponistinnen) in 14 Konzerten und Klanginstallationen zu erleben. Die künstlerische Leiterin Lydia Rilling hat das Festival weiblicher gemacht. Und möchte in diesem Jahr mit dem Motto Voices Unbound die politische bedrohte Vielstimmigkeit fördern. 

Wohltemperierte Festivalausgabe

Zwei schlackenlose Sopranstimmen (Laura Polence, Björk Níelsdóttir) stehen im Mittelpunkt von Kaja Drakslers Bare, Unfolding. Music to the words of Matsuo Basho, das Haikus in ganz unterschiedliche Musik setzt: von wilden Jazzimprovisationen bis zu meditativen Wohlfühlklängen, die auch mal Georg Friedrichs Händels Arie Lascia ch’ io pianga im dreistimmigen Satz anklingen lässt. Bei Hanna Eimermachers Aura sind im asphaltierten Bartok-Saal sogar Turnmatten als Sitz- und Liegegelegenheit ausgelegt, um das in einem Oval um das Publikum herum postierte Klangforum Wien in einem echten Raumklang genießen zu können. Auch hier entstehen geheimnisvolle, sinnliche Klangschichtungen und Einzelimpulse, die im Dialog mit dem Raum Reiz entfalten. Neue Musik als Wohlfühlort! 

Was dieser wohltemperierten Festivalausgabe zumindest bis zum Samstag fehlt, ist der Stachel, das Verstörende, die Provokation. Es fehlen Reibungsflächen und damit auch manche Funken, die daraus entstehen könnten. Zu Tristan Perichs Reflections of a Bright Object für fünf Mundharmonikas und 18-Kanal-1-Bit-Elektronik kann man auf dem Lammplatz in der Sonne chillen und sich von den schön kreisenden musikalischen Bewegungen und spannungsarmen Harmonien einlullen lassen. Dass Musik auch zum Nachdenken bringen kann, zeigt die großartige Klanginstallation Ao Pé do Ouvido von Félix Blume, der dafür 50 Bewohnerinnen und Bewohner São Paolos nach ihren Träume gefragt hat. Man sieht von ihnen im Fischhaus nur Fotos ihrer Ohren – und hört ihre Stimmen. Aus dem Stimmengewirr kann man selbst einzelnen Geschichten lauschen und deren Übersetzung nachlesen – von Nahomie, die ein Waisenhaus auf Haiti gründen will und Marie, die ihre zurückgelassene Familie in der Demokratischen Republik Kongo finden möchte.

Fordernde, originelle, hochvirtuose Musik gibt es dann doch noch mit Georges Aperghis Tell Tales für sechs Stimmen und Viola am Samstagabend zu erleben. Wie das fantastische Ensemble EXAUDI gemeinsam mit Tabea Zimmermann diesen vibrierenden, feingliedrigen, verdichteten musikalischen Kosmos präzise und detailreich zum Leben erwecken, ist expressiv und rätselhaft, tänzerisch und komplex. Freie, ungebundene Stimmen, die miteinander in engem Kontakt stehen – hier wird das Festivalmotto Wirklichkeit.

Georg Rudiger

Georg Rudiger hat Musikwissenschaft, Geschichte und Germanistik in Freiburg und Wien studiert. Er beobachtet von Freiburg aus das Musikleben im Südwesten Deutschlands, der Schweiz und dem Elsass - als fester Freier für die Badische Zeitung, überregional u.a. für die Neue Zürcher Zeitung, neue musikzeitung und Der Tagesspiegel. Er ist bei wichtigen Musikfestivals und Opernpremieren (Jurymitglied der Opernwelt), gelegentlich auch Rock- und Jazzkonzerten.

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