Glücklich ist, wer vergisst? – Klassik und Kulturkampf 

September 1, 2025
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Aida Garifullina (Foto: DECCA, Fowler)

Willkommen in der neuen Klassik-Woche,

ging es Ihnen auch so? Man konnte sich im Sommer gut daran gewöhnen, die verrückte Welt da draußen einfach mal auszublenden! Ich bin beim Kitekurs (unfreiwillig) untergetaucht und beim Dartspiel (freiwillig) abgestürzt. Jetzt, da wir aufwachen, merken wir, die Welt hatte keine Auszeit: Atemlosigkeit in der Ukraine, in Israel und den USA. Ist die Kultur denn nur noch Eskapismus? Nein, und deshalb schauen wir ab heute wieder ganz genau hin! 

War was? Ist was? Weiter so? 

Erstaunlich, wie groß die Sehnsucht nach der alten Welt ist, gerade in anstrengenden Zeiten wie diesen. Während Russland die Ukraine brutal bombardiert, kündigt das Bolschoi in Moskau eine Gala mit der Sopranistin Aida Garifullina an, Teodor Currentzis wird (an seiner Seite die Sängerin Regula Mühlemann) in Salzburg beklatscht – ebenso wie der Sänger Vladislav Sulimsky, dessen Russland-Beziehungen die Seite Opern.News gerade genauer beleuchtet hat. Immerhin: US-Tenor Lawrence Brownlee hat seinen geplanten Bolschoi-Auftritt abgesagt. Den größten Shitstorm bekommt derzeit ausgerechnet jene Künstlerin, die nach ihrem anfänglichen Wanken in den letzten Jahren tatsächlich nicht in Russland gastiert hat: Anna Netrebkos Auftritt als Tosca in Covent Garden hat prominenten Protest herausgefordert. War was? Ist was? Einfach weiter so? Ich habe den aktuellen Wahnsinn in einem kurzen Überblick zusammengefasst. 

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Viel zu früh! 

Als wir letzte Woche bei BackstageClassical die Arbeit wieder aufgenommen haben, begann sie mit Meldungen, auf die man gern verzichten würde: Erst war es der österreichische Tonmeister Georg Burdicek, der mit nur 43 Jahren verstorben ist. Ich habe Georg während der Wohnzimmer-Konzerte der Wiener Symphoniker kennengelernt: Ein so zugewandter, uneitler Mensch, der den Künstlerinnen und Künstlern aus seinem Studio im Wiener Konzerthaus-Keller per Lautsprecher stets das Gefühl von Sicherheit vermittelte. Ein Mensch, der mit (großem) Bauch und viel Herz, mit wachen Ohren und hellem Geist besessen war von Musik. Hier mein kleiner, trauriger Nachruf. Am Wochenende dann die nächste, schockierende Meldung: Kiels GMD, Gabriel Feltz, ist mit nur 54 Jahren vollkommen unerwartet im Universitätsklinikum Essen gestorben. Feltz hatte letztes Jahr noch in Dortmund (hier war er vorher GMD) den Ring in der Regie von Peter Konwitschny dirigiert. Die Nachrufe von Menschen, mit denen er zusammengearbeitet hat, vermissen einen Musiker, der stets im Kollektiv gedacht und für die Musik gearbeitet hat.  

#metoo – Ziemlich stillos

Wollen wir in der Klassik gerade bewusst Probleme, die uns die letzten Jahre so intensiv beschäftigt haben, zurückdrehen? Da war zum Einen der Geburtstagsgruß, den die von Jonas Kaufmann geleiteten Tiroler Festspiele in Erl ihrem Gründungsdirigenten Gustav Kuhn zum 80. auf der Festpielhaus-Homepage sangen: Eine unerträgliche Lobhudelei, die vollkommen außer Acht ließ, dass Kuhn nach Vorwürfen von sexuellen Übergriffen und schlechten Arbeitsbedingungen gehen musste. Keine Rücksicht auf die damaligen Opfer! Eine derartige Gratulation klingt wie Hohn und Spott und zeigt, dass die Festspiele aus ihrer unsäglichen Geschichte unter Kuhn nur wenig gelernt haben. Auch das Beethovenfest Bonn hat eine #metoo-Historie: Ex-Intendantin Nike Wagner stellte sich gern öffentlich hinter den Täter Siegfried Mauser und wollte die Vorwürfe gegen ihn als Hexenjagd kleinreden (Mauser musste ins Gefängnis). Umso erstaunter war ich über einen Social-Media-Post der Pianistin (und BackstageClassical-Autorin) Shoko Kuroe, die sich wunderte, dass sie als Opfer von Gewalt zwar eine »Ehrenkarte« (sic!) vom Festival zu einer #metoo-Debatte angeboten bekam (wahrscheinlich weil sie Mitautorin dieser Streitschrift ist), Opfer auf dem Podium aber nicht geplant sind. Ich bat Sie, ihre Sicht der Dinge für uns aufzuschreiben. Das wiederum führte zu einem entrüsteten Brief aus Bonn. Ich frage mich: Verkommt das Thema #metoo beim Beethovenfest lediglich zum Thema der eigenen Imagebildung? Verstehen die Veranstalter eigentlich, dass ihre Reaktion auf Kritik genau jenes Narrativ bedient, das sie angeblich bekämpfen wollen? Oder grundsätzlich gefragt: Wie viel alte Strukturen stecken eigentlich im vermeintlich Neuen? Bis zur Debatte am 13. September ist noch ein wenig Zeit, um den eigenen Ansatz in Bonn noch einmal zu hinterfragen.  

Kinderpornos und Knabenchor

Immer neue, schockierende Berichte erreichen uns aus den USA zur Verhaftung des Dirigenten Julian Wachner. Ihm wird von der Justizbehörde in Indianapolis Besitz von Kinderpornographie vorgeworfen. Bei einer Hausdurchsuchung fanden Ermittler in Wachners Schlafzimmer einen schwarzen Beutel mit mutmaßlich Kokain sowie einen Laptop. Nach der Eingabe von Wachners Zugangsdaten soll dieser sofort ein Video mit kinderpornographischem Inhalt gezeigt haben. Die Verfolgung Wachners hatte begonnen, nachdem die Polizei ermittelt hatte, dass er im Darknet Kinderpornos gegen Kryptowährung erstanden hatte. Wirklich aufhorchen lässt, dass Wachner, der in Indianapolis als Grundschullehrer arbeitet, gerade sein Comeback in Deutschland gefeiert hat: Er hatte beim Tölzer Knabenchor Kantaten von Bach dirigiert. Aus München liegt noch keine Stellungnahme vor. Es gilt die Unschuldsvermutung. 

Personalien der Woche

John Williams mit den Wiener Philharmonikern (Foto: WPHL, Nagl)

Ausgerechnet der Komponist John Williams rechnet mit dem Kino-Genre ab und erklärt, dass er Filmmusik eigentlich noch nie wirklich mochte – seine Kompositionen seien auch eher ein »Job, der sich ergab«. Williams weiter: »Die Vorstellung, dass Filmmusik denselben Platz im Konzertsaal wie die bedeutendsten Werke des Kanons haben sollte, ist irrig.« +++ Generalintendant Julien Chavaz bleibt dem Theater Magdeburg für weitere fünf Jahre erhalten. Der 43-jährige Schweizer wurde bis zum Ende der Spielzeit 2031/32 verpflichtet. Chavaz wurde mit Inszenierungen zeitgenössischer Opern, unter anderem am Pariser Théâtre de l’Athénée bekannt. Er war Intendant an der Neuen Oper Freiburg und arbeitete u.a. mit der Opéra de Paris, der Komischen Oper Berlin und der Irish National Opera zusammen. Seine künstlerische Handschrift zeichnet sich durch poetische, spielfreudige und körperliche Regie aus. +++  Hamburgs Kultursenator Carsten Brosda (SPD) hat die Empfehlung von Kulturstaatsminister Wolfram Weimer kritisiert, in öffentlichen Institutionen auf gendergerechte Sprache zu verzichten. Brosda nannte es widersprüchlich, Freiheit einzufordern und zugleich sprachliche Vorgaben zu machen. Debatten über Fortschritt müssten in der Gesellschaft ausgetragen werden, nicht von staatlichen Stellen entschieden, sagte er.

Und wo bleibt das Positive, Herr Brüggemann?

Ja, wo zum Teufel bleibt es denn? Vielleicht ja hier! Der Festspielsommer ist zu Ende, in Bayreuth wird nun die Jubiläumssaison mit KI-Ring und Rienzi geplant, bei den Salzburger Festspielen geht es offensichtlich erst einmal weiter wie gehabt. Man hört hinter vorgehaltenen Händen von einer neuen Asmik GrigorianCarmen und von einer neuen Ariadne – außerdem wird von Krzysztof Warlikowski und Messiaens Saint François d’Assise gemunkelt – und von einem erneuten Mozart mit Joana Malwitz. Aber nichts Genaues weiß man nicht. Ach ja, in Salzburg gibt es auch eine neue Landeshauptfrau, vielleicht räumt Karoline Edtstadler auch an ganz anderen Stellen auf.

Sicher ist indes der Spielplan der kommenden Saison an unseren Theatern, und wir bereiten Sie bei BackstageClassical bestens vor. Unser Autor Guido Krawinkel hat seine ganz persönlichen Highlights des Jahres aufgeschrieben. Im Podcast spricht Regisseur Valentin Schwarz über die neue Dreier-Intendanz am Theater in Weimar, und wem all das viel zu nahe ist, der kann auch in der kommenden Saison wieder ins Kino gehen, um dort die Premieren der Metropolitan Opera in New York zu verfolgen. Also: Es geht weiter – und wir bleiben wachsam!

In diesem Sinne: Halten Sie die Ohren steif!

Ihr

Axel Brüggemann

Axel Brüggemann

Axel Brüggemann arbeitet als Autor, Regisseur und Moderator. Er war als Kulturredakteur und Textchef bei der Welt am Sonntag tätig und schrieb danach für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. Heute veröffentlicht er u.a. im Tagesspiegel, im Freitag, der Jüdischen Allgemeinen oder in der Luzerner Zeitung. Er arbeitet für Radiosender wie den Deutschlandfunk, den WDR oder den HR. Seine Fernsehsendungen und Dokumentationen (für ARD, ZDF, arte oder SKY) wurden für den Grimmepreis nominiert und mit dem Bayerischen Fernsehpreis ausgezeichnet. Brüggemann schrieb zahlreiche Bücher u.a. für Bärenreiter, Rowohlt, Beltz & Gelberg oder FAZ Buch.

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