Tragödie hinter Maschendrahtzaun

September 27, 2024
2 mins read
Katja Kabanova in Kassel: (Foto: Pawliczek)

Christine Pohle inszeniert Janáčeks Oper »Katja Kabanova« in Kassel als zeitloses Drama – und begeistert damit das Publikum.

Der Vorhang zu und alle Fragen offen. Diesmal nicht. Die Premiere zur Spielzeiteröffnung im Kasseler Opernhaus erwies sich als lineare Ausgestaltung eines zeitlosen Stoffs ohne ideologisierende, belehrende Anverwandlung. Und so war der Schlussapplaus im bei Weitem nicht voll besetzten Haus auch einhellig zustimmend.

Leoš Janáček 1921 uraufgeführte Oper Katja Kabanova greift ein russisches Drama aus der Mitte des 19. Jahrhunderts auf. Darin steht die junge Ehefrau Katja im Zentrum. Sie ist in dem engen moralisch-religiösen Korsett ihrer Schwiegermutter, der Kabanicha, gefangen.

Tragödie in spießigem Wohnzimmer

Katjas Mann Tichon, der lieber vor als mit seiner Frau fliehen möchte, ist ein arges Weichei, und auch Boris, mit dem Katja zehn Tage Glück erlebt, als ihr Mann auf Reisen ist, erlebt man als schwachen Charakter. Der unglücklichen Frau gelingt es nicht auszubrechen, sie gesteht freiwillig den Ehebruch und sucht den Tod in der Wolga.

Katja Kabanova in Kassel: (Foto: Pawliczek)

Regisseurin Christiane Pohle verortet die Handlung zusammen mit ihrem Bühnenbildner Anton von Bredow und Kostümbildnerin Regine Standfuss in einem detailreichen architektonischen Konglomerat an einem Felsen. Ein spießiger Altbau mit vollgestopftem Wohnzimmer wird von einem protzigen Anbau überragt. Dieses Tableau ist mit Maschendraht umzäunt, draußen leben die anderen aus dem Ort, können unter den Werbetafeln (»All you can eat«) alles mitverfolgen.

Das Drama liegt wie eine griechische Tragödie offen vor allen. Man plaudert, schaut einem Sportereignis zu. Eine Weitspringerin trainiert unermüdlich, doch beim entscheidenden Sprung verletzt sie sich: Spiegelbild des nicht gelungenen Ausbruchs der Katja.

Orchester mit exquisiter Leistung

Dass die Katastrophe kommen wird, sagt die Musik von Anfang an. Janáčeks Komposition ist ein Wunderwerk an musikalischer Modellierung psychologischer Zustände. Wie die Wolga fließt der musikalische Strom dahin, (tschechische) Satzmelodien werden Musik, seelische Regungen finden ihren Niederschlag in dem unverkennbar individuellen Orchestersatz. Ein Sog entsteht, die Kongruenz von Handlung und Musik fasziniert.

Dazu braucht man ein flexibles Orchester und einen Dirigenten, der alle Finessen zu bergen in der Lage ist. Beides war am Samstag wunderbar vorhanden. Als Gast führte Moritz Gnann das Staatsorchester zu einer exquisiten Leistung. Das Einverständnis zwischen dem musikalischen Leiter und dem Ensemble war wirklich herausragend. Wenn man einmal auf den Bildschirm mit dem Dirigenten schaute, konnte man erkennen, wie gut das Miteinander klappte, wie sensibel die Musiker auf Gnanns Zeichen reagierten.

Auch die sängerischen Darbietungen verliefen auf hohem Niveau. Da ist zuerst Margrethe Fredheim, die die Titelrolle in all ihren seelischen Wandlungen brillant auszugestalten wusste. Auch Ulrike Schneider als Kabanicha zeichnete mit ihrer sehr wandelbaren Stimme ein vokal wie schauspielerisch einleuchtendes Psychogramm.

Hätte es Janácek gefallen?

Die quirlige Varvara ist in der Oper die einzige, die noch keinen seelischen Schaden hat (und ein Smartphone). Zusammen mit Kudrja (Johannes Strauß) schafft sie den Sprung aus der Provinz ins gelobte Moskau. Ena Pongrac gestaltet diese Hoffnung machende Rolle quirlig und sängerisch sehr attraktiv.

Die Schwächlinge Tichon und Boris werden von Lars Rühl und Ric Furman dargestellt. In Nebenrollen hörte man Don Lee, Serhii Moskalchuk, Maren Engelhardt, Daniela Vega und andere. Der Chor, der die Stimmen beisteuert, die Katja um Verstand und Leben bringen, trat gut disponiert auf.

»Der Komponist war anwesend« liest man manchmal bei Uraufführungen. Auch in Kassel erfreute man sich seines Besuches. Und dies sogar auf der Bühne! Als stummen Beobachter hatte man einen Statisten als den mährischen Komponisten verkleidet, der sich anschaute, was in Kassel so mit seinem Werk veranstaltet wurde. Ob er einverstanden war? Warum eigentlich nicht?

Weitere Aufführungen: 3., 5., 9. 10. im Staatstheater Kassel 

Dieser Text erschien zu erst in der Hessisch/ Niedersächsischen Allgemeinen

Johannes Mundry

Mundry studierte Germanistik und Hispanistik in Marburg, Bonn und Madrid, 1. Staatsexamen und Magister Artium in Bonn mit Arbeiten über die dramatische Kunst bei Stefan George und seinem Kreis, seit 1991 Pressereferent und Zeitschriftenredakteur im Bärenreiter-Verlag, nebenberufliche Tätigkeit als Musikkritiker und Autor verschiedener Zeitschriften.

Fördern

Artikel auf BackstageClassical sind kostenlos. Wir freuen uns, wenn Sie unabhängigen Klassik-Journalismus fördern.

Mehr aktuelle Artikel

Bayreuth will Doku-Zentrum zum Nationalsozialismus

Die Stadt Bayreuth hat nach allerhand Hickhack beschlossen, ein Zentrum zur Erforschung des Nationalsozialismus zu errichten. Wahrscheinlich soll es im ehemaligen Wohnhaus von Houston Stewart Chamberlain entstehen.

Gerangel um den Gasteig

Der Architekt Stephan Braunfels plädiert für ein Neudenken des Umbaus. Heute berät der Stadtrat über das weitere Vorgehen.

Thielemann am Klavier

Christian Thielemann ist ein erstklassiger Pianist. Zeigen tut er das nie. Nun macht er eine Ausnahme. Gemeinsam mit Igor Levit.

Voges Unchained

Kai Voges Wiener Volkstheater erregt den Zorn der Wiener Zeitung KURIER. Der will nun nicht mehr aus dem Theater berichten.

Don't Miss