Ausgerechnet der SWR plant eine Dokumentation über sexualisierte Gewalt in der Klassik. Dass François-Xavier Roth dabei wohl keine Rolle spielen wird, ist nur einer der Kritikpunkte, den Betroffene im Vorfeld äußern.
English summary: SWR plans a documentary on sexualized violence in classical music but may exclude allegations against its own chief conductor François-Xavier Roth. Some criticize unclear methods, public victim searches, and the station’s silence, raising doubts about SWR’s credibility.
Nach Informationen von BackstageClassical plant das Politmagazin Report Mainz noch im Dezember eine Reportage zum Thema »Machtmissbrauch und sexualisierte Gewalt in der klassischen Musik«. Mehrere Personen, die für diese Reportage angefragt wurden, haben sich bei uns gemeldet und über ihre zwiespältigen Erfahrungen mit dem Rechercheteam berichtet, das offenbar von der Journalistin Claudia Kaffanke angeführt wird.
Interessant ist die geplante Sendung auch deshalb, weil der SWR selber ein Thema mit Machtmissbrauch und sexualisiertem Verhalten hat. Der neue Chefdirigent, François-Xavier Roth, musste nach Medien-Enthüllungen zugeben, Musikerinnen und Musikern unaufgefordert sexualisierte Sprachnachrichten und so genannte »Dickpics« geschickt zu haben. Nach Bekanntwerden der Vorwürfe haben sich der Dirigent und das Gürzenichorchester in Köln einvernehmlich voneinander getrennt. Der SWR hielt indes – trotz internem Protest von Musikerinnen und Musikern – an der Bestellung Roths fest. Bei seinen Antrittskonzerten wurde der Dirigent bereits beim Betreten des Podiums ausgebuht. Erst kürzlich sorgten erneute Vorwürfe für eine Fortsetzung der Debatte.
Werben um Opfer
Ein Opfer sexueller Übergriffe, das für die Doku angefragt wurde, fragte die verantwortliche Journalistin Claudia Kaffanke, ob über Roth und dessen Verhalten in der SWR-Reportage ebenfalls recherchiert würde und bekam daraufhin offenbar gesagt, dass dieses nicht der Fall sei. Als BackstageClassical sich nun mit einem Fragenkatalog an den SWR und an die Redaktion von Report Mainz wandte, erklärte der Sender, dass zu »laufenden Recherchen grundsätzlich keine Auskunft« gegeben würde. Also auch nicht dazu, ob Roth und dessen Übergriffe Teil des Filmes werden. Alle sieben Fragen – auch jene zu den Recherchemethoden – blieben unbeantwortet.
Dass ausgerechnet ein investigatives TV-Journal nicht auf kritische Nachfragen zur eigenen Arbeit antwortet, ist verwunderlich. Zumal in den Social-Media-Posts der Seite What‘s Opera, Doc? der Sängerin Elisabeth Kulman eine Art »Anzeige« erschien, in der explizit um Mitwirkung bei der Reportage geworben wurde. Wörtlich heißt es: »Journalistin sucht für ARD-Reportage Musiker*innen mit Erfahrung zu Machtmissbrauch, Herabwürdigung oder Belästigung.« Auch die BackstageClassical-Anfrage, ob dieser Aufruf dem SWR bekannt sei, beantwortete der Sender nicht. What‘s Opera, Doc? erklärt indes, dass der Post mit Kaffankes Anfrage für den SWR zu tun habe.
Verspielt der SWR Glaubwürdigkeit?

Wie passen das Schweigen auf Recherche-Anfragen mit der öffentliche Suche nach Protagonistinnen für einen Film zusammen? Es ist sicherlich eine Frage des Geschmacks, ob ein öffentlich-rechtlicher Sender Betroffene von sexuellen Übergriffen innerhalb einer Recherche per öffentlichem Aufruf suchen sollte, und es stellt sich die journalistisch die Frage, ob eine derartige Suche tatsächlich seriöse Betroffene ermuntert, ihre Geschichte zu erzählen. Verlangt ein Thema wie sexueller Missbrauch nicht mehr Sensibilität, das Etablieren einer intimen Vertrauensbasis und öffentlichen Schutz für Opfer? Sollte eine Recherche in diesem Fall nicht eher einfühlsam hinter den Kulissen stattfinden? Kein Wunder, dass ein Aufruf wie bei What‘s Opera, Doc? einigen Opfern eher wie journalistische Verzweiflung und Sensationshascherei vorkommt als wie eine ernsthafte Suche mit dem Ziel, den Opfern eine Stimme zu geben.
Auf jeden Fall verliert eine Recherche an Glaubwürdigkeit, wenn sie auf der einen Seite einen öffentlichen Aufruf startet, während sie Musiker »mit Erfahrung zu Machtmissbrauch« innerhalb des eigenen Senders nicht zur Rede stellt – besonders, wenn es sich um Täter handelt. Derartige Bedenken wurden gegenüber BackstageClassical mehrfach vorgebracht, aber auf Anfrage vom SWR ebenfalls nicht ausgeräumt.
Eine Betroffene erzählte Gegenüber BackstageClassical, dass sie sich von der Art der Anfragen des SWR (und dem Druck, ihre Geschichte vor der Kamera erzählen zu sollen) überrumpelt und bevormundet fühlte und den Verdacht hegt, dass es dem Mainzer Reportageteam eher um eine »reißerische Berichterstattung als um eine Dokumentation über den Umgang mit struktureller Gewalt an den Institutionen« ginge.
Lieber junge Opfer?
Eine Betroffene berichtete, dass ihr gegenüber von Seiten der Redaktion der Wunsch geäußert wurde, dass man lieber »junge Opfer« finden würde, da deren Geschichten »wirkungsvoller seien«. Auch dieser Vorwurf wurde vom SWR auf BackstageClassical-Anfrage weder bestätigt noch verneint.
Grundsätzlich stellt sich ein grundlegendes Problem des öffentlich-rechtlichen Journalismus beim SWR, wenn politische Recherchen mit der Geschichte des eigenen Orchesters kollidieren. Bereits in der Causa des vorigen Chefdirigenten, Teodor Currentzis, hat der Sender innerhalb seiner journalistischen Formate kaum Anstalten unternommen, Verbindungen des umstrittenen Musikers mit russischen Geldgebern wie Gazprom und der VTB-Bank nachzugehen. Im Fall sexualisierter Gewalt innerhalb der Klassik könnte nun eine ähnliche journalistische Blamage drohen: Wenn der SWR es nicht schafft, seine eigenen Probleme transparent zu lösen, welche Glaubwürdigkeit hat dann ein Reportage-Beitrag in einem Politmagazin wie Report Mainz?

