Erst der Missbrauch, dann die Macht

Juli 18, 2024
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François-Xavier Roth (Foto: Gürzenich-Orchester)

Es kommt, wie es kommen musste. Der SWR hält an François-Xavier Roth fest und schlägt alle Missbrauchsvorwürfe und die eigene Verantwortung in den Wind. Ein fataler Fehler, findet Alexander Gurdon.

Diese vermeintliche Rehabilitation wird in die MeToo-Geschichtsbücher eingehen – als die erste, die keinen Hehl mehr aus ihrem Machterhalt macht. Am 22. Mai berichtete das Musikmagazin VAN zum ersten Mal von den Vorwürfen. Was folgte war nicht weniger als ein Erdbeben, noch nie sei ein Star der Klassik-Szene so schnell gestürzt, las man allerorten. Doch nur sieben Wochen später entpuppt sich das vermeintliche Erdbeben als das leise Lüftchen, das die fallenden Fassaden in diesem Potemkinschen MeToo-Dorf verursachen. Hinter dem aufgewirbelten Staub bleibt nur Leere.

Machtdemonstrationen

Begonnen hatte die Machtdemonstration mit dem Entschluss der Stadt Köln, das Vertragsverhältnis zu François-Xavier Roth aufzulösen und so die Untersuchung abzuwenden. Der Hierarchie des Gürzenich-Orchesters kommt dies gelegen: Da nun kein Arbeitsvertrag mehr besteht, muss auch intern nicht aufgeklärt werden, wer wann was gewusst oder ignoriert hat. Zahlreiche Musiker*innen sind bestürzt, ob dieses fatalen Signals, sowohl nach außen in die Kulturszene, als auch nach innen ins Orchester.

Die eloquenten Kommentare in WDR3 und beim Kölner Stadtanzeiger zeigen das öffentliche Entsetzen in der Domstadt, doch das Gürzenich-Orchester, die Stadt Köln und der sprichwörtliche kölsche Klüngel begraben die MeToo-Bewegung unter sich genauso wie das Kölner Stadtarchiv. Immerhin fließen noch 200.000 Euro Abfindung an François-Xavier Roth, aus Steuergeldern. Und nur wenige Stunden später kommt das Signal aus Stuttgart, dass der SWR an ihm festhält. Es ist zum Haare raufen.

Der Fall Roth bei BackstageClassical: Vor einigen Tagen hatte die Pianistin Shoko Kuroe den Fall François-Xavier Roth bereits kommentiert. Für sie ist es ein Fall von Täter-Migration. Axel Brüggemann fragte bereits vor einiger Zeit in seinem Essay danach, ob Kulturinstitutionen überhaupt in der Lage sind, mit Verfehlungen umzugehen. Nun sieht der Dozent der Musikwissenschaft an der TU Dortmund, Alexander Gurdon, im Festhalten an Roth auch eine falsche Bestätigung seiner Macht.

Doch das Entsetzliche an diesem Paradebeispiel der Post-MeToo-Ära sind nicht nur die vielen Übergriffigkeiten, die Roth vorgeworfen werden, und das jahrelange Netzwerk, das ihn wohl geschützt hat, sondern wie barbarisch akkurat und mit welcher Geschwindigkeit des Machterhalts hier dieser Fall „gelöst“ und ad acta gelegt wurde. Die Stadt Köln hat die Vorlage geliefert, der SWR kann diesen Handelfmeter nun kalt verwandeln und Roth als neuen Chefdirigenten einfach stehen lassen. Zurück zur Tagesordnung.

Differenzieren!

Gewiss, Roth hat eine reumütige Erklärung abgegeben, dass er an sich arbeite und sich entschuldigen möchte. Gut. Und der SWR gibt sich reflektiert, spricht von einem Verhaltenskodex, von Schutzmaßnahmen und Disziplin, und natürlich auch davon, dass jeder eine zweite Chance verdient. Wenn aber das Orchester anscheinend mit so viel Papier vor Roth geschützt werden muss, darf man dann fragen, warum er überhaupt eingestellt wird? Ach ja, die Trennung von Mensch und Werk, vom Genie und seiner Kunst. Es geht ja um Roths künstlerisches Vermächtnis, nicht sein vermeintlich justiziables Gemächt. Sagen Sie das mal Opfern von sexuellen Übergriffen und Angriffen, dass sie da differenzieren müssen, ob der Privatmann oder der Pultstar ihnen gerade ein Dickpic schickt, bevor sie sich am nächsten Tag im Machtverhältnis zwischen Dirigent und Geigerin wieder eine Bühne teilen müssen und vielleicht zusammen die Vergewaltigungsszene aus Bernd Alois Zimmermanns Oper Die Soldaten aufführen. Das kann man bestimmt super differenzieren.

War‘s das jetzt? Sind noch Fragen offen? Die Kölner Staatsanwaltschaft prüft eigene Ermittlungen, da es einen Anfangsverdacht gebe. Na immerhin. Die Frage, wie es sonst hätte laufen können, darf aber schon noch gestellt werden. Wie geht es denn eigentlich den Musiker*innen, die den Mut hatten, ihre Anklagen öffentlich zu machen? Und wie geht es all jenen, die es sich jetzt dreimal überlegen werden, ob sie übergriffiges Verhalten anzeigen? Wo ist denn eigentlich die Verantwortung des Gürzenich-Orchesters und des SWR ihren eigenen Musikerinnen und Musikern gegenüber? Hätte die Stadt Köln die 200.000 Euro nicht für Opferschutz spenden können? Hätte der SWR nicht zumindest eine künstlerische Pause empfehlen und einen anderen Chefdirigenten nehmen können? Oder, oha, eine Chefdirigentin? Und wie sehr möchte man die Entschuldigung eines Vermeintlich-Übergriffigen glauben, wenn dieser mit einem Medienanwalt, den auch Alice Weidel und die WerteUnion für ihre Zwecke beauftragen, vorgeht? 

Und mal so ganz generell: Wie sicher muss man sich seiner eigenen Rolle eigentlich sein, wenn man nachts juristisch belastbares Beweismaterial an Untergebene schickt? Sieben Wochen, ist die ab jetzt gültige Antwort darauf.

Es ist wie immer im Machtmissbrauch: Erst kommt der Missbrauch, dann die Macht.

Alexander Gurdon

Alexander Gurdon (*1980 in Köln) studierte Musikwissenschaft, Germanistik und französische Romanistik in Köln und Paris, bevor er sich in Dortmund mit einer Arbeit über den Dirigenten und Komponisten Oskar Fried promovierte. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Musik und Musikwissenschaft der TU Dortmund, sowie Lehrbeauftragter an der Fakultät für Kulturreflexion der Universität Witten/Herdecke. Einige seiner aktuellen Schwerpunkte sind neben der Musik des 19.-21. Jahrhunderts die Interpretations- und Dirigentenforschung, die Erinnerungskultur, sowie die auswärtige Kulturpolitik.

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