Die Dirigentin Graziella Contratto beschäftigt sich seit über zwanzig Jahren mit Parallelen zwischen Leadership und Dirigieren. Hier erlaubt sie sich ein Gedankenspiel: Wie würden sich die Spitzenkandidaten und –kandidatinnen der kommenden Bundeswahl als Dirigenten gebärden?
English summary: Graziella Contratto examines political candidates as conductors through six archetypes: Passive, Queen, Thinker, Shiner, Endurer, and Strong Leader—ranging from laid-back to disciplined leadership styles.
1. Der Geschehenlasser
Im Vergleich zu anderen Dirigenten seiner Generation verfügt dieser Kandidat über ein schwach ausgeprägtes Performanz-Bedürfnis. Während andere (siehe unter 4.) darauf bestehen, dass ihnen ein Assistent ein Glas mit isländischem Quellwasser hinterherträgt (selbstverständlich hat dieser auch eine Zusatzausbildung in Thai-Massage und Tetaheilung absolviert) begnügt sich unser Kandidat Nr. 1 mit wenig.
Es ist daher zu Beginn einer Probe auch schwer zu sagen, wann und wie er überhaupt auf dem Podest, das er tieferlegen liess, angekommen ist. Die Konzertmeisterin schreit regelmässig das Orchester an, um den Probebeginn pünktlich zu starten, erst dann nämlich bemerken die Musikerkollegen und –kolleginnen, dass ihr Chef anwesend ist.
Die Schlagtechnik des Geschehenlassers ist offen (was von den führungsgeschädigten Orchestermitgliedern geschätzt und gleich anschliessend ausgenutzt wird) und unverbindlich, kann aber auch als Zeichen für die unbewusste Sehnsucht nach Gemeinsinn ohne Forcierung gedeutet werden.
Mimisch zählt man ihn zu den Reduktionisten, die Dechiffrierung seiner künstlerischen Absicht wird mittlerweile in musikwissenschaftlichen Seminaren untersucht. Sein Repertoire bewegt sich in immer wiederkehrenden Kreisen zwischen der Musikalischen Schlittenfahrt (das Werk gefällt ihm aufgrund der unklaren Autorenschaft) und den Jazz-Suiten von Schostakowitsch (bei denen nicht ganz klar ist, ob der Komponist sie für oder gegen Stalins Regime geschrieben hat). Um die grossen Sinfoniker macht er einen Bogen, Gefühls- und Gestaltungsschwere sind seine Sache nicht.
Manchmal vergisst er auch, welche Jazz-Suite bereits in der vorausgegangenen Saison programmiert worden war. Das Publikum schätzt seine besonnene Art, sein uneitles, qualitatives Schweigen, wie es genannt wird, z.B. an Pressekonferenzen, wo er an seiner statt eine engagierte Musikvermittlerin zu Wort kommen lässt, die sich jedes Jahr eine neue Argumentationsnuance für die Jazz-Suiten aus den Fingern saugt.
Er betrachtet sein Orchester als organisches Gebilde, jedes Mitglied kann und darf etwas beitragen. Er lässt regelmässig Listen ausfüllen, damit die Musiker ebenfalls Vision und Wunschrepertoire kommunizieren. Die Auswertung der Listen kann hie und da etwas dauern, es ist auch schon vorgekommen, dass die Papiere irgendwo liegen gelassen wurden.
In Momenten der Krise kann der Geschehenlasser unerwartet dynamische Züge annehmen: Plötzlich verspricht er die Verdreifachung der Orchesterbesetzung, neue Kooperationen mit Sponsoren aus Ländern, die man zuerst googlen muss, und auch seine Dirigierbewegungen nehmen sich erstaunlich zackig aus. Im Grunde wäre er ein guter Troubleshooter in einem Heim für schwer erziehbare Heckelphonisten.
2. Die Königin
Die stilistische Flexibilität dieser Kandidatin ist erstaunlich: Von Sufigesängen über die Ballets du Château Trianon de la Reine Marie-Antoinette en tant que pastourelle bis hin zu Nonos Intolleranza reicht ihr beeindruckendes Repertoire. Der Weg dahin gestaltete sich allerdings einigermassen launenhaft: Historische Aufführungspraxis wurde von ihr zuerst als Ökomusik beschimpft, schliesslich nach der Gründung einer eigenen Akademie zum Königsrepertoire erklärt. Ein über Monate geplantes multikulturelles EasternGermanArabianNight-Programm ersetzte sie kurzfristig durch ein Pasticcio mit den beliebtesten Deutschen Märschen und Ausschnitten des Brahms-Requiems.
Bei den meisten Orchestern, denen sie vorstand, beendete sie ihren Vertrag vorzeitig. Schlagtechnisch wird ihr eine hohe Kompetenz im rhythmisch-artikulatorischen Bereich zugestanden, sie führt klar, mit Emphase und transaktionalem Schneid. Ihr performatives Selbstbewusstsein gründet nicht nur auf einer ominösen Unterstützung, die sie von ihrem ungenannt bleiben wollenden mächtigen Lebenspartner erhält, sondern auch auf ihrem künstlerischen Weltbild: »…und sie dreht sich doch!« stand schon einmal als Motto auf den Saisonprogrammen der Orchestersaison.
Mittlerweile hat sie ihr eigenes Orchester, das kohärenterweise auch ihren Namen trägt, gegründet, rein numerisch handelt es sich dabei im Moment (noch) um ein Ensemble; es feiert aber bereits beeindruckende Auftritte auf Tourneen im Osten des Landes. Ein Novum, allerdings als Versailler Zitat verstanden, entdeckt das Publikum übrigens in der Position der Dirigentin: Sie leitet ihr Ensemble mit dem Gesicht zum Zuschauerraum, wodurch das Publikum ihre absolute Energie in deren ganzer Strahlkraft erleben darf.
3. Der Denker
Seine Probengestaltung plant für die Einführung in ein neues Werk jeweils die Hälfte der Morgenprobe ein: Ein Narrativ, bei dem Reflexion und Interpretation sich die Hände reichen, ist unverzichtbarer Teil seines Selbstverständnisses als Dirigent und Mentor. »Die einfachste und prägnanteste Definition, die eine philosophisch-gerichtete ›Anthropologie‹ für den Menschen zu geben vermöchte, wäre daher vielleicht die Bestimmung, dass er der ›Form fähig‹ ist« – mittlerweile werden solche Cassirer-Zitate von seinen Orchestermitgliedern spontan verstanden und die synaptische Umsetzungsarbeit auf die Instrumente manifestiert sich noch während der didaktischen Anrede als Gruppenflow.
Die Tatsache, dass der Denker kein Dirigierstudium absolviert hat, wurde ihm längst verziehen. Das Orchester spürt, dass sich hier auf einer ganz anderen Ebene grosse Bewegungen, Wellen, Formen entfalten, die das blosse Diensthaben früherer Orchestergenerationen in ein Gefühl des Aufgehobenseins verwandeln. Der Denker bietet wahre Möglichkeiten an Bedingungen des postkantischen Seins an und kann sich trotzdem über eine harmonische Wendung in Schumanns Frühlingssinfonie freuen wie ein Kind. Seit seinem Amtsantritt als Chefdirigent beobachten Kenner des Orchesters eine Stärkung der Positionen des Konzertmeisters, der Stimmführenden und des Reinigungspersonals. Musikalisch delegiert der Denker die praktische Umsetzung seiner erdachten Ziele an die erwähnten Sous-Chefs, die Konzeption des Saisonprogramms überlässt er der Orchesterkommission und die Proben finden immer öfters ohne dirigentische Leitung statt, um die Autonomie der suprahierarchisch geprägten Orchesterstruktur auszuhebeln und mit einer liebevollen Neuordnung zu beschenken.
Die neue Selbständigkeit tut dem Orchester gut, allerdings konnten die legitimen Lohnerhöhungsforderungen der Sous-Chefs nicht umgesetzt werden, das Orchester beklagt denn im Moment auch mehrere Ausfälle aufgrund von Burnouts. Der charismatische Denker hat letztens für seine erkrankten Freunde eine sensationell empathische Rede gehalten, bevor er das in reiner Aleatorik gehaltene Konzertprogramm gleichsam bewegungslos wie ein Windrad in der Flaute einem erschütterten Publikum darbot.
4. Der Glänzer
Der vierte Spitzenkandidat ist ein Gesamtkunstwerk: Als Pultmagier vertritt er die Generation der durchdeklinierten Sexyness. Style und Stil, Takt und Groove, Struktur und Lackierung haben ihre frühere dialektische Feindschaft längst begraben und lassen die Klangrendite seines Orchesters flimmern und schimmern. Seine Dirigiergestik ist elegant und geschmeidig, problemlos übertragbar auf sämtliche Werke und Epochen, am adäquatesten wirkt es jedoch in Kompositionen mit Oberstimmenlastigkeit.
Nebst der von einer Sylter Stararchitektin erweiterten Konzerthalle, einer neuen Orchesteruniform des Labels Wunderkind und Gratissekt für das Publikum gibt es auch im Repertoire des Glänzers fancy Konzepte zu entdecken: Seitdem neue Hauptsponsoren aus dem Umfeld der Medienwelt sich für sein Orchester engagieren, werden Programme durchwegs mit spannenden Videoprojekten bereichert, wobei das Pausenbild die neu gewonnenen Geldgeber in Szene setzt.
Verständlich, dass vor allem angelsächsische Musik zur Leibspeise dieses Dirigenten gehört, Elgar’s Pomp and Circumstance etwa oder Filmmusik mit Tom Cruise in der Hauptrolle. Trotzdem klafft seit seinem Stellenantritt ein Millionenloch in seiner Bilanz, die Ursache ist rasch gefunden: Die eben erst von ihm selbst engagierte Intendantin (Abgängerin einer Mc Kinsey-geförderten BWL-Akademie in Dubai) sei restlos überfordert, erläutert er im Pressecommuniqué, ab nun würde er persönlich das Management übernehmen.
Gesagt, getan: Alle sozialen Vermittlungsprojekte, die Auftritte des Orchesters in Spitälern, benachteiligten Stadtzonen und Gefängnissen wurden ersatzlos gestrichen, dafür übernimmt der Glänzer durch einen persönlichen Golfkontakt zum Kulturamtleiter nun auch noch die Fördergelder der freien Szene für seinen Orchesteretat (und die Wartung seiner Klangyacht, wie er sein Partyboot liebevoll nennt). Als die durch den Coup geprellten Kulturschaffenden vor seinem Tesla ein Feuer mit Voodoopuppen legten, meldete der Glänzer sich auf Insta mit einem Reel, in dem er gesenkten Blickes seinen Titan-Dirigierstab küsste.
5. Der Ausharrer
Bruckner ist sein Lieblingskomponist: Die moralische Verkettung zwischen Naturburschenhaftigkeit und metaphysischer Gestaltungskraft, die den oberösterreichische Bauernsohn auszeichnete, beansprucht dieser Dirigent auch für sich selbst. Ihm geht es um fundamentale Dinge an und für sich, nichts wird dem Zufall überlassen und Voraussehbarkeit macht ihn zuversichtlich und froh.
Das Kathedralische nennt er seine Aufgabe als Chef seines Orchesters, das kürzlich um die Beibehaltung des A-Status bangen musste. Durch seine Beziehungen zu Wirtschaft und Industrie vermittelte er seiner Mannschaft zum Glück eine solide Bilanz, der Status konnte bewahrt werden. Das Orchester ist sich einig: Die Stärke des Ausharrers liegt im Strukturieren von Prozessen, Proben und Programmkonzepten, nur im Konzertmoment fehlt es ihm, darf man Kritik und Publikum Glauben schenken, an Charisma und Spontaneität.
Umgehend wurden Werke wie The Typewriter von Leroy Andersen aufs Programm gesetzt, wo der Chef sich locker-lässig gleich selbst ans Tippen machte, oder man erfand witzige Zyklustiteln à la: Die grossen 3 Bs (Börse – Borussia – BASF). Seine Dirigiergestik entspricht solidem Kapellmeisterhandwerk, jede Hand weiss, was sie zu tun und zu lassen hat. Der Taktstock ist gemäss interner Quellen aus dem Ast einer Eiche, die im grosselterlichen Garten den Alliertenangriff von 1945 überstanden hat, geschnitzt worden.
Seine Vorgängerin auf dem Chefposten hat dem Ausharrer kein einfaches Erbe hinterlassen: Jahrelange Verschleppungen der dringlichen Renovationsarbeiten im Keller der Konzerthalle, verrostete Beleuchtungsschienen, baufällige Toiletten… aber auch die sich leerenden Publikumsreihen und eine woke Kulturpolitik machen ihm zu schaffen. Bei aller Strammheit im Umgang mit schweren Herausforderungen, auch mit der Tatsache, dass er als Beta-Mann sich so sehr nach einer Alpha-Aura sehnt – der Ausharrer hat auch rührende Seiten. Von Zeit zu Zeit erzählt er in der Orchesterkantine entzückende Anekdoten aus seiner Jugend für die, die heimlich lauschen.
6. Die Führungskraft
Wer als Orchestermitglied unter dieser Dirigentin arbeitet, kommt perfekt eingespielt zur Probe, wohl wissend, dass der bisherige Arbeitsvertrag auf Lebenszeit mittlerweile aufgelöst wurde und die Wiederanstellung an ein jährliches Prüfungsritual mit Tonleitern, Blattspiel und Marschieren im Takt gebunden ist. Betroffen hiervon (die Dirigentin ist kein Unmensch) sind natürlich nur Musiker und Musikerinnen, die die Ausbildung nicht an einer deutschen Hochschule abgeschlossen haben. Diese Frau verfügt über eine beängstigende Intuition beim Aufspüren von Duckmäusern, Faulenzenden, Markierern und flau Artikulierenden.
Disziplin, perfekt durchgetaktete Probenstruktur, eiserne Präsenzkontrollen und ein strikt deutsches Repertoire haben dem Orchester den Ruf eingebracht, die Wiederbelebung von typisch gemanophonen Orchestertugenden einzuläuten. Endlich hört man wieder Karajansches Klangglühen bei perfekt vereinheitlichtem Vibrato in den Streichern, die Holzbläser haben ihre französischen Instrumente gegen das deutsche System eingetauscht und dunkeln den Sound ab, die Kontrabässe halten die Bögen ausschliesslich in deutscher Manier, die an Fichtensägen gemahnt, und das Blech ist von hymnischer Strahlkraft.
Mehrere Kooperationen mit dem europäischen Ausland wurden als Akt des Self- Empowerments für das Orchester brüsk gestoppt, dadurch kämpft nun aber auch diese Orchesterleiterin gegen Finanzlücken an, die trotz der neuen Sponsoren aus der Schützeninnung nicht zu füllen sind. Ihrem Leitungsstab hat die Kommunikationsabteilung empfohlen, die Neue Einheitlichkeit des Orchesters in einem knackigen Slogan abzubilden.
Hiess es früher noch: 18 Nationen – eine Sprache, prangt nun Eine Nation – 18 Dialekte von den handgemalten Plakaten im Stil der Dreissigerjahre, die die früheren Screens ersetzt haben. Auch im Tonträgerbereich gibt es Bewegung: Die Olympische Hymne von Richard Strauss hat die Chefin auf Schellack-Tonträger verewigt, hergestellt wurde die Platte im südlichen Nachbarland, wo die Dirigentin als Steuermigrantin gemeldet ist.