Regisseurin Anne Fontaine zu ihrem Kinofilm »Bolero« und zum 150. Jubiläum des Komponisten Maurice Ravel.
English summary: Director Anne Fontaine discusses her film Bolero, focusing on composer Maurice Ravel and his iconic work. The film explores Ravel’s complex inner world, his sensitivity, and his reliance on sound for inspiration. Fontaine avoids explaining his personal life, instead highlighting his mysterious character, relationships, and creative process. She emphasizes Ravel’s fragile existence, his attachment to women, and his pursuit of love through music, especially after losing his mother. The film portrays Ravel’s struggle with interpretations of his music, showcasing his desire for control over his compositions.
Alle 15 Minuten ist irgendwo auf der Welt der Bolero zu hören. Mit seinem gleichbleibenden, geradezu hypnotischen Rhythmus zählt das Werk zu den meistgespielten Orchesterstücken der Musikgeschichte. Doch wer war der Mann, der dieses zeitlose Meisterwerk erschaffen hat und was ist die Geschichte hinter der eingängigen Melodie, die bis heute Menschen auf der ganzen Welt fasziniert? Davon erzählt der Kinofilm Bolero, der heute in die Kinos kommt. Ein Gespräch mit Regisseurin Anne Fontaine.
Madame Fontaine, ein Film über Musik ist ein schwieriges Unterfangen. In ihrem Bolero spielt der Klang eine Hauptrolle: Alltagsgeräusche sind omnipräsent, sie inspirieren Ravel zum Musikmachen. Ist das Ohr bei Ihrem Film wichtiger als das Auge?
Fontaine: Ein interessanter Gedanke. Diese mysteriöse Musik von Ravel wird ja tatsächlich zum einen von außen inspiriert, von ratternden Maschinen, vom Klappern des Geschirrs, aber zum anderen läuft bei Ravel andauernd ein innerer Soundtrack ab. Mir ging es in erster Linie darum, dieses Innenleben darzustellen, das Ravel so mysteriös macht. Es ist diese klingende Leere in ihm, die mich fasziniert.
Sie verzichten darauf, die Brüchigkeit des Komponisten zu erklären, etwa durch seine Kriegeserlebnissse, den Tod der Mutter oder seine Sexualität. Alles bleibt offen.
Fontaine: Ich fand es wichtig, Ravels komplexes Innenleben darzustellen, nicht es zu interpretieren. Vielleicht geht es genau darum in meinem Blick auf Ravel: Wir versuchen immer, alles im Griff zu haben, wir versuchen – gerade Charaktere wie ihn – stets in Schubladen zu stecken, wenn wir sie erklären wollen. Da gibt es Biographen, die sagen: »Oh ja, da war der Weltkrieg, der ihn irgendwie desillusioniert!«. Andere sagen, »Oh, vielleicht war er schwul, deshalb hat es mit den Frauen nicht funktioniert!« Ich wollte derartige Positionen einfach nicht einnehmen.

Wir sehen, dass sein mysteriöser Charakter Ravel zum Außenseiter gemacht hat: Er ist beim Prix de Rome ausgeschieden, tat sich schwer mit Freunden und in der Liebe …
Fontaine: Ja, sein Leben funktionierte nicht wirklich so, wie es bei anderen Menschen funktioniert. Das liegt aber auch daran, dass er stets völlig konzentriert auf das war, was er geschaffen hat. Er schwebte stets etwas über dem Boden, schuf seinen eigenen Raum der Imagination. Ich sehe Ravel wie einen Jungen, der aber schon ein Mann ist. Er ist sensibel, unsicher und fragil. Er fantasiert andauernd – die Musik ist dabei sein stärkstes Ausdrucksmittel. Er braucht sie, auch um Worte wie »Ich liebe dich« zu sagen. Mich fasziniert diese indirekte Art. Ich liebe, dass Ravel so gar nicht »normal« ist – denn was ist schon »normal«?
Sie lassen den Zuschauer damit auch allein.
Fontaine: Bewusst, denn was hilft es, wenn wir behaupten, dass Ravel schwul war? Reicht es nicht zu sagen, dass er wohl keinen Sex hatte? Auch hier geht es doch eher um das Gefühl. Ein Pianist sagte mir einmal, dass er, wenn er ein Werk von Ravel spielt, bereits in den Fingerspitzen spürt, dass er schwul gewesen sein muss. Puh, wenn er meint! Ich finde derartige Behauptungen zu schematisch. Sie lenken vom eigentlichen Innenleben des Künstlers ab. Ich ziehe es vor, mich nah an dem zu bewegen, wie sein Geist Schrift für Schritt weiter in die neurologische Krankheit abgedriftet ist, wie er der Welt abhanden gekommen ist.
Das hat sich besonders auch in der eigenen Auseinandersetzung mit seiner Musik ausgedrückt…
Fontaine: … das finde ich sehr bewegend. Als er den Beginn des Bolero hörte, war er mit einer Pianistin zusammen und sagte angeblich: »Wer hat das gemacht?« Sie war völlig schockiert und antwortete: »Sie sind es.« Darauf erwiderte Ravel: »Es war nicht schlecht.« Mir kommt es vor, als erkannte er in seiner Musik etwas, das ihn leiden ließ. Sie war sein eigentliches Bewusstsein, sein wahres Empfinden.
Ravel erscheint in ihrem Film nicht überlebensfähig. Ohne die Menschen – besonders die Frauen – um ihn herum wäre er aufgeschmissen.
Fontaine: Natürlich spielt zunächst einmal sein Verhältnis zur Mutter eine entscheidende Rolle. Das erzähle ich ja auch in den ersten Szenen. Als er seine Mutter verlor, blieb er drei Jahre lang untätig, war völlig am Boden zerstört. Er ist wirklich jemand, der in seiner Arbeit sehr stark und in seinem Leben sehr fragil ist. Und, ja, nach ihrem Tod war es sicherlich wichtig für ihn, geliebt zu werden – meist in einer Art Liebe ohne Sex. Er hat für Frauen komponiert, aber wurde wohl nicht körperlich. Er hat sich die Freiheit genommen, in seiner inneren Traurigkeit allein zu bleiben.
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Gleichzeitig zeigen Sie, dass er großen Wert auf Äußerlichkeiten gelegt hat…
Fontaine: Oh ja, wir haben ja im original Haus gedreht, in dem er gelebt hat: Die Wände, die Gemälde, all die kleinen Dinge, chinesische Puppen – schon zu seinen Lebzeiten war das Haus das Museum eines 12 jährigen Jungen. Wenn man es heute betritt, versteht man, wer Ravel wirklich war. Das ist sehr persönlich und sehr bizarr.
Ihr Film kreist um die Entstehung des Bolero: Es sollte ein Ballet im spanischen Stil für die Tänzerin Rubinstein werden…
Fontaine: Mir ging es dabei aber in erster Linie auch um die »innere Entstehung«. Wie Ravel Geräusche hörte, eine Uhr, eine Kirchenglocke. Klänge waren seine Nahrung. Er verdaut sie in seinen Kompositionen.
Sie zeigen eine Szene, in der Ravel dirigiert und sehr wütend auf das Orchester wird, weil es versucht, zu interpretieren. Er mahnt: »Nein, es muss im Takt so sein, wie ich es komponiert habe, und bitte ändern Sie es nicht.« Es sind auch heftige Auseinandersetzungen zwischen Ravel und Toscanini überliefert…
Fontaine: Er hasste, dass es andere Interpretationen als seine gab. Ich glaube, dass Ravel Angst hatte, dass seine Modernität durch die Interpretation unter die Räder kommen könnte. Auch die erotischen Tänze der Rubinstein haben ihn völlig niedergeschlagen. Es ist für mich interessant, dass die Premiere des Bolero in einem Rahmen stattfand, den Ravel eigentlich verabscheute: in dieser aufgeplusterten, erotisierten Ballett-Gesellschaft.

Wir wollen das Ende des Films nicht verraten, aber in den letzten 15 Minuten inszenieren Sie dann ihren eigenen Bolero – als Wahnvorstellung Ravels.
Fontaine: Dieser letzte Teil ist so etwas wie ein Traum, oder eine Transposition der Modernität. Mich hat die Idee getrieben, dass der Körper und die Musik, dass der Rhythmus die Schwerelosigkeit aufhebt: Man ist nicht auf dem Boden, man ist andauernd in der Luft und kann fliegen.

Bolero
Mit: Raphaël Personnaz, Doria Tillier, Jeanne Balibarab
6.3. im Kino