Der SWR und das Gürzenich Orchester schweigen, während sie den Fall François-Xavier Roth untersuchen. Aber der Betrieb geht weiter. Mit erheblichen Folgen.
Es ist still geworden um François-Xavier Roth. Dem Dirigenten wird vorgeworfen, Musikerinnen und Musikern Sprachnachrichten und Bilder mit erotischen Inhalten geschickt zu haben. Der SWR, der Roth als designierten Chefdirigenten verpflichtet hat, gibt derzeit keine Kommentare ab und will den Hinweisen (die inzwischen auch im eigenen Hause angekommen sind) nachgehen. Auch in Köln, wo Roth noch immer Chefdirigent ist, wird geschwiegen – und gemeinsam aufgearbeitet, was eigentlich passiert ist. Um so lauter wird das Getuschel in der Klassik-Szene.
Während die einen erklären, man habe »das schon immer geahnt«, weil ja »jeder drüber geredet hat«, fallen andere aus allen Wolken und können sich nicht erklären, was da passiert sein soll. Auch, weil die Fallhöhe so hoch ist. Das VAN Magazin, das an den Recherchen beteiligt war, formuliert es so: »Selten ist in der klassischen Musik jemand von so weit oben so schnell so tief gefallen«, und Manuel Brug konstatiert in der Welt: »Nicht nur in Frankreich, aber da ganz besonders, wäre Roth in den nächsten Spielzeiten grandios durchgestartet, kaum ein anderer Dirigent vereint auf solchem Niveau eine solche Varietät der Stile, ist offen für ungewöhnliche Projekte. So wird jetzt vom Festival in Aix-en-Provence bis zum Pariser Théâtre des Champs-Élysées hektisch umgeplant.«
Roth ließ Rechtsanwälte schreiben
Tatsächlich scheinen viele Orchester die Causa Roth sehr ernst zu nehmen und planen hektisch um. Roths eigenes Orchester, Les Siècles, wurde in Japan bereits ausgeladen und aus der Organisation unabhängiger Orchester geworfen. Die Entscheidung sei getroffen worden, schrieb FEVIS-Präsident Jacques Toubon, »um die Musikerinnen und Musiker vor sexistischer und sexueller Gewalt und Belästigung zu schützen.« Auch an der Oper in Köln steht Roth bei aktuellen Produktionen nicht mehr auf dem Programm, sondern wird durch andere Dirigentinnen und Dirigenten ersetzt.
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Offensichtlich waren die Vorfälle schon länger bekannt, und Roth hatte immer wieder versucht, gegen eine Veröffentlichung vorzugehen. Das berichtet jedenfalls das VAN Magazin. »Roth selbst muss klar gewesen sein, dass ihm die Vorwürfe die Karriere kosten könnten«, kommentiert Herausgeber Hartmut Welscher, »das erklärt vielleicht auch, warum er sich von der Kanzlei Ralf Höcker presserechtlich vertreten lässt. Höcker ist ehemaliger Sprecher der WerteUnion und selbsternannter ‚Beschützer vor mieser Presse‘, der unter anderem die AfD und einige ihrer Führungspersonen wie Alice Weidel medienrechtlich vertritt (…). Bereits 2021, als VAN erstmals in Roths Umfeld recherchierte, kündigte die Kanzlei an, dass eine Verletzung ‚journalistischer Sorgfaltspflichten‘ ‚grundsätzlich auch Geldentschädigungsansprüche des Betroffenen‘ auslöse.« Weiter heißt es im VAN Magazin: » Und noch einen Tag vor der Veröffentlichung in Le Canard enchaîné erreichte VAN als Antwort auf eine Anfrage an Roth ein zwölfseitiges Schreiben der Kanzlei mit Hinweisen auf mögliche Folgen einer unzulässigen Verdachtsberichterstattung (‚Ansprüche auf Geldentschädigung, nämlich in beträchtlicher mindestens sechsstelliger EUR-Höhe‘).«
Kein Wunder, dass nun viele Spekulationen darum kreisen, wie lange Roth von den Recherchen wusste. Warum hat er zunächst Rechtsanwälte beauftragt und ist dann, nach Anfragen des französischen Magazins Le Canard enchaîné, doch umgeschwenkt und hat Fehlverhalten eingestanden und sich entschuldigt?
Können die Orchester Aufklärung?
Der SWR schrieb auf seiner Seite, dass auch bei ihm inzwischen Hinweise über Fehlverhalten eingegangen seien, die jetzt geprüft würden. Tatsächlich wird wohl auch das zu einer sorgfältigen Aufarbeitung gehören: Was ist dran an Behauptungen, die im Netz kursieren, dass auch in Roths Zeit beim SWR schon Beschwerden öffentlich wurden? Was wusste die Leitung des Gürzenich Orchesters? Angeblich soll ihr ein Brief vorgelegen haben, in dem Missstände beklagt wurden. In allen Fällen gilt die Unschuldsvermutung.
Es ist jetzt schon zu sagen, dass die Aufklärung auch deshalb problematisch werden könnte, weil sie ausgerechnet von Orchestern betrieben und beauftragt wird, die selber in der Kritik stehen. Wir haben uns bei BackstageClassical bereits in einem früheren Essay Gedanken gemacht, ob Kulturinstitutionen überhaupt in der Lage sind, derartige Dinge aufzuklären und zu ahnden.
Manuel Brug berichtet in der Welt auch über das Label Myrios, dessen Chef Stephan Cahen derzeit nicht weiß, wie er mit den Roth-Aufnahmen (besonders dem Bruckner-Zyklus) umgehen soll. »Cahen ist mitten in der Fabrikation eines sinfonischen Bruckner-Zyklus’«, schreibt Brug, der soll »zu Bruckners 200. Geburtstag am 4. September 2024 als komplette Box inklusive der drei noch ausstehenden Sinfonien erscheinen. ‚Das wird aber nun definitiv später in diesem Jahr sein, weil ich gegenwärtig mit Roth keinen Kontakt habe und er die finalen Masterbänder noch abnehmen muss‘, so Cahen, der auch nicht so recht weiß, wie er weiter verfahren soll.«
Derzeit herrscht öffentliches Schweigen in der Causa Roth. Irgendwann werden die Orchester ihre Ergebnisse präsentieren und hoffentlich Licht in ihre eigenen Reihen bringen. Die Art der Aufklärung und der Kommunikation wird über ihre Glaubwürdigkeit entscheiden.