Was der Pop von uns lernen kann

November 6, 2025
4 mins read
Rosalìa in ihrem neuen Viedo Berghain

Das neue Video der Sängerin Rosalía zitiert die Klassik – und begeistert das Netz. Aber so innovativ ist es nun auch wieder nicht. Die Geschichte von Pop und Klassik kennt bessere Ergebnisse.

English summary: Rosalía’s new video Berghain blends pop and classical music with the London Symphony Orchestra and sparks online hype. Though stylish and provocative, it’s far from groundbreaking. Pop’s flirtation with classical—from Mercury to the Beatles—has a long, richer history of true innovation.

Alle reden über die Klassik; nur die Klassik nicht. »Das Netz explodiert«, heißt es. In ihrem neuen Video gibt Popsängerin Rosalía dem London Symphony Orchester eine Hauptrolle. Rosalía ist Spanierin, wurde bekannt, als sie die den Flamenco in den Pop holte und Tanz und elektronische Klänge miteinander vermischte. Ihr neues »Opfer« ist also die Klassik. Oder das, was sie und ihre Fans dafür halten. 

Schon der Titel will provozieren: Berghain erinnert an den längst aus der Mode gekommenen Berliner Fetisch-Club. Der Song dient Rosalía als Teaser für ihr Album Lux, das am 7. November erscheinen soll und noch ganz andere Facetten der musikalischen Grenzöffnung zeigen will. 

Der Erfolg gibt ihr Recht. Berghain ist in aller Munde. Im Netz und in der  Pop-Szene werden die 3:27 Minuten als »Klassik-Hymne« gehyped. Ein Deutschlandfunk-Kommentator schwärmt, die Musik hätte ihn »einfach weggeblasen«, ein anderer schreibt: »Das ist Kunst für die Ewigkeit und gehört ins Museum der Musik!«. Etwas ratloser ist da Klassik-Klatscher Norman Lebrecht, der stänkert: »Der Song fällt schon beim Morgendusch-Test durch«, und am Ende sei es eher »eine Carmina Burana im 1970er Jahre LSO-fuck-Orff-Stil.« Für BR Klassik ist der  Song, in dem auch Björk auftritt, indes der endgültige Beweis, dass der aktuelle Pop die Klassik neu entdeckt

Gut, aber nicht neu

Das Video geht so: Die Sängerin wacht in ihrer Wohnung auf und wird von den Musikerinnen und Musikern des London Symphony Orchestra mit Vivaldi-Vitalität in den Tag gegeigt: Aufstehen, bügeln und U-Bahn mit Barock und Gesang. Dann wird es dramatischer und mystischer: Herzmessung,  schwarz-weiß Alptraumszenen, Andeutungen von Misshandlungen, wilde Tiere. Auf Deutsch heißt es: »Seine Angst ist meine Angst / Seine Wut ist meine Wut / Seine Liebe ist meine Liebe / Sein Blut ist mein Blut«, und am Ende auf Englisch: »Ich f…. Dich, bis Du mich liebst«.

Alles das ist perfekt und provokant orchestriert, gut gemacht, es glänzt und verströmt Stimmung. Nur eines ist es nicht: Neu. Was uns Klassik-Leute vom Pop unterscheidet ist vielleicht, dass wir in anderen Zeitdimensionen auf die Musik schauen und Innovationen anders bewerten: Haydn’s Streichquartette waren bahnbrechend, Beethovens Chor in der Symphonie, Wagners Leitmotive, Mahlers Eklektizismus oder Stravinskys Radikalität. Aber dass Popsänger die Mittel der Klassik ausgeborgen, ist nun wirklich ein uralter Hut! 

Eine kleine Geschichte der Pop-Klassik

Eines der prominentesten (und besten) Beispiele ist Freddie Mercury. Er hat nicht nur Barcelona mit Montserrat Caballé aufgenommen, sondern ließ sich immer wieder von der Musikgeschichte inspirieren, um – und das ist das Besondere! – seinen eigenen Klang zu revolutionieren: Strauß-Walzer in The Millionaire Waltz, barockes Cembalo in The Fairy Feller‘s Master-Stroke und dramatische Effekte von Donizetti bis Strawinsky in der Bohemian Rhapsody. Ernsthaft war auch die Auseinandersetzung mit der Klassik bei den Beatles, etwa im White Album oder bei A Day in the Life. Legendär ist die Begegnung von John Lennon und Yoko Ono mit John Cage   und auf dem Sgt Pepper-Album ist sogar Karlheinz Stockhausen abgebildet. Und so könne man endlos weitermachen: Barbara Streisands Somewhere wäre ohne ihre Klassik-Begeisterung nicht zu denken, und Rufus Wainwright hat sich von Popsängern sogar zu Opern-Komponisten entwickelt.

Gegen all das wirkt Rosalías Video, mit Verlaub, ein wenig ungelenk. Ein bisschen Rondo Veneziano trifft Rammstein (das hat René Pape übrigens auch schon gemacht). So wird die Klassik zum Mittel des Pomp und Pathos und bläht den Pop auf, während sie selber zur Staffage schrumpft. Das ist in etwa der gleiche Effekt wie die Kerzen-Konzerte, die bei TikTok so angesagt sind. 

Zur langen Geschichte der Musik gehört eben auch die Erkenntnis, dass derartige Annexionen der Klassik nur in Ausnahmefällen dazu führen, dass Menschen sich von einem Candlelight-Concert zu den Bremer Philharmonikern verirren. Gleiches gilt für viele Besucherinnen und Besucher von Filmmusik-Konzerten. Handball-Fans kommen ja auch nicht zu einem Dart-Turnier, obwohl beides Sport ist. 

Der nächste Hit kommt bestimmt

Vivaldi, Bach, Mozart, Beethoven oder Stockhausen sind Eichen, an denen sich schon viel Borstenvieh gekratzt hat – mal gelang es Pop-Künstlern dabei, einige ihrer Fans für die Klassik zu begeistern, zum Teil war das aber auch nie das Ziel, oder der Transfer funktionierte einfach nicht. 

Trotzdem gibt es in der Klassik noch Menschen (und Institutionen), die glauben, dass es hilft, einen TikTok-Star zu engagieren, um die Leute in die eigenen Häuser und zu den eigenen Konzerten zu locken. Doch der Schritt von der virtuellen Klassik-Welt ins Konzerthaus ist alles andere als selbstverständlich. Eine der wenigen Ausnahme ist vielleicht die Organistin Anna Lapwood. Und das liegt wohl auch daran, dass ihr Geheimnis genau andersherum funktioniert: Sie begeistert die Instagram-Gemeinde eher durch die Sperrigkeit ihrer Arbeit. Die Elbphilharmonie engagiert sogar einen »Creator in Residence«, um die Schnittmenge von TikTok und »Takt-Ort«  auszuloten. Kommende Saison wird es die Klassik-TikTokerin Daria Challah sein. Ob diese Art der »gekauften« Internetpräsenz am Ende genug credibility auf die Beine bringt, um die Leute zum Konzertbesuch zu animieren? Man darf Zweifel haben. 

Das Video von Rosalía ist sicher nicht schlecht, aber es ist – blickt man auf die Geschichte von Pop und Klassik-Symbiosen – eben auch kein Ereignis. Es ist, was es ist: Ein Pop-Phänomen, das schon wieder vergessen sein wird, wenn der nächste Popstar irgendwann erneut mit der Klassik flirtet und alle Rufen, dass dieses nun aber wirklich Musik für das Museum sei. 

Axel Brüggemann

Axel Brüggemann arbeitet als Autor, Regisseur und Moderator. Er war als Kulturredakteur und Textchef bei der Welt am Sonntag tätig und schrieb danach für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. Heute veröffentlicht er u.a. im Tagesspiegel, im Freitag, der Jüdischen Allgemeinen oder in der Luzerner Zeitung. Er arbeitet für Radiosender wie den Deutschlandfunk, den WDR oder den HR. Seine Fernsehsendungen und Dokumentationen (für ARD, ZDF, arte oder SKY) wurden für den Grimmepreis nominiert und mit dem Bayerischen Fernsehpreis ausgezeichnet. Brüggemann schrieb zahlreiche Bücher u.a. für Bärenreiter, Rowohlt, Beltz & Gelberg oder FAZ Buch.

Fördern

Artikel auf BackstageClassical sind kostenlos. Wir freuen uns, wenn Sie unabhängigen Klassik-Journalismus fördern.

Mehr aktuelle Artikel

Liebe Mirga Gražinytė-Tyla,

Sie haben Ihren Namen selber erfunden: Tyla – das bedeutet auf Litauisch »Stille«. Ihr Name ist ein Aufschrei gegen den Krach unseres Marktes! Sie machen nicht mehr mit im Sternschnuppen-Business. Dirigentinnen sind begehrt.

Lieber Justus Frantz,

Justus Frantz bekam einen Orden von Vladimir Putin. Axel Brüggemann hat ihm einen Brief geschrieben.

Stürmt die Vereinten Nationen!

Die Regie wollte zu viel und konnte zu wenig, aber musikalisch war Verdis »La Forza del Destino« in Zürich ein Erfolg – auch dank Anna Netrebko.

Liebe Karoline Edtstadler,

Sie sind Landeshauptfrau von Salzburg. Sie stecken in einer Koalition mit der FPÖ und sind Mitglied im Kuratorium der Salzburger Festspiele. Sie tun mir leid. Sie regieren ein Königinnenreich voller Tretminen.  Diesen

Kassels Schauspielchefin rehabilitiert

Die Entlassung der Kassler Schauspieldirektorin Patricia Nickel-Dönicke ist »gegenstandslos«. Anlass waren Meinungsverschiedenheiten zwischen Intendant Florian Lutz und ihr.

Von Wahnsinn, Wirren und Wuffis

Heute mit ein bisschen Kultur-»Wuff-Wuff« aus dem Kanzleramt, einer neuen Ausrichtung des Musikrats und einer Hymne an die so genannte »Provinz«!  

Diese Schiffsfahrt war nicht lustig

Kassel feiert sich und sein opulente neue Ersatzspielstätte. Die Eröffnungspremiere »Aida« geriet allerdings zu einem unsortierten Wirrwarr, wie Johannes Mundry berichtet.

Überspannt der Artenschutz den Bogen?

Geigenbauer und Musiker schlagen Alarm: Der geplante Hochschutz für brasilianisches Fernambukholz könnte das Handwerk und den Handel mit historischen Bögen dramatisch verändern. 

Verpassen Sie nicht ...