Das neue Video der Sängerin Rosalía zitiert die Klassik – und begeistert das Netz. Aber so innovativ ist es nun auch wieder nicht. Die Geschichte von Pop und Klassik kennt bessere Ergebnisse.
English summary: Rosalía’s new video Berghain blends pop and classical music with the London Symphony Orchestra and sparks online hype. Though stylish and provocative, it’s far from groundbreaking. Pop’s flirtation with classical—from Mercury to the Beatles—has a long, richer history of true innovation.
Alle reden über die Klassik; nur die Klassik nicht. »Das Netz explodiert«, heißt es. In ihrem neuen Video gibt Popsängerin Rosalía dem London Symphony Orchester eine Hauptrolle. Rosalía ist Spanierin, wurde bekannt, als sie die den Flamenco in den Pop holte und Tanz und elektronische Klänge miteinander vermischte. Ihr neues »Opfer« ist also die Klassik. Oder das, was sie und ihre Fans dafür halten.
Schon der Titel will provozieren: Berghain erinnert an den längst aus der Mode gekommenen Berliner Fetisch-Club. Der Song dient Rosalía als Teaser für ihr Album Lux, das am 7. November erscheinen soll und noch ganz andere Facetten der musikalischen Grenzöffnung zeigen will.
Der Erfolg gibt ihr Recht. Berghain ist in aller Munde. Im Netz und in der Pop-Szene werden die 3:27 Minuten als »Klassik-Hymne« gehyped. Ein Deutschlandfunk-Kommentator schwärmt, die Musik hätte ihn »einfach weggeblasen«, ein anderer schreibt: »Das ist Kunst für die Ewigkeit und gehört ins Museum der Musik!«. Etwas ratloser ist da Klassik-Klatscher Norman Lebrecht, der stänkert: »Der Song fällt schon beim Morgendusch-Test durch«, und am Ende sei es eher »eine Carmina Burana im 1970er Jahre LSO-fuck-Orff-Stil.« Für BR Klassik ist der Song, in dem auch Björk auftritt, indes der endgültige Beweis, dass der aktuelle Pop die Klassik neu entdeckt.
Gut, aber nicht neu
Das Video geht so: Die Sängerin wacht in ihrer Wohnung auf und wird von den Musikerinnen und Musikern des London Symphony Orchestra mit Vivaldi-Vitalität in den Tag gegeigt: Aufstehen, bügeln und U-Bahn mit Barock und Gesang. Dann wird es dramatischer und mystischer: Herzmessung, schwarz-weiß Alptraumszenen, Andeutungen von Misshandlungen, wilde Tiere. Auf Deutsch heißt es: »Seine Angst ist meine Angst / Seine Wut ist meine Wut / Seine Liebe ist meine Liebe / Sein Blut ist mein Blut«, und am Ende auf Englisch: »Ich f…. Dich, bis Du mich liebst«.
Alles das ist perfekt und provokant orchestriert, gut gemacht, es glänzt und verströmt Stimmung. Nur eines ist es nicht: Neu. Was uns Klassik-Leute vom Pop unterscheidet ist vielleicht, dass wir in anderen Zeitdimensionen auf die Musik schauen und Innovationen anders bewerten: Haydn’s Streichquartette waren bahnbrechend, Beethovens Chor in der Symphonie, Wagners Leitmotive, Mahlers Eklektizismus oder Stravinskys Radikalität. Aber dass Popsänger die Mittel der Klassik ausgeborgen, ist nun wirklich ein uralter Hut!
Eine kleine Geschichte der Pop-Klassik
Eines der prominentesten (und besten) Beispiele ist Freddie Mercury. Er hat nicht nur Barcelona mit Montserrat Caballé aufgenommen, sondern ließ sich immer wieder von der Musikgeschichte inspirieren, um – und das ist das Besondere! – seinen eigenen Klang zu revolutionieren: Strauß-Walzer in The Millionaire Waltz, barockes Cembalo in The Fairy Feller‘s Master-Stroke und dramatische Effekte von Donizetti bis Strawinsky in der Bohemian Rhapsody. Ernsthaft war auch die Auseinandersetzung mit der Klassik bei den Beatles, etwa im White Album oder bei A Day in the Life. Legendär ist die Begegnung von John Lennon und Yoko Ono mit John Cage – und auf dem Sgt Pepper-Album ist sogar Karlheinz Stockhausen abgebildet. Und so könne man endlos weitermachen: Barbara Streisands Somewhere wäre ohne ihre Klassik-Begeisterung nicht zu denken, und Rufus Wainwright hat sich von Popsängern sogar zu Opern-Komponisten entwickelt.
Gegen all das wirkt Rosalías Video, mit Verlaub, ein wenig ungelenk. Ein bisschen Rondo Veneziano trifft Rammstein (das hat René Pape übrigens auch schon gemacht). So wird die Klassik zum Mittel des Pomp und Pathos und bläht den Pop auf, während sie selber zur Staffage schrumpft. Das ist in etwa der gleiche Effekt wie die Kerzen-Konzerte, die bei TikTok so angesagt sind.
Zur langen Geschichte der Musik gehört eben auch die Erkenntnis, dass derartige Annexionen der Klassik nur in Ausnahmefällen dazu führen, dass Menschen sich von einem Candlelight-Concert zu den Bremer Philharmonikern verirren. Gleiches gilt für viele Besucherinnen und Besucher von Filmmusik-Konzerten. Handball-Fans kommen ja auch nicht zu einem Dart-Turnier, obwohl beides Sport ist.
Der nächste Hit kommt bestimmt
Vivaldi, Bach, Mozart, Beethoven oder Stockhausen sind Eichen, an denen sich schon viel Borstenvieh gekratzt hat – mal gelang es Pop-Künstlern dabei, einige ihrer Fans für die Klassik zu begeistern, zum Teil war das aber auch nie das Ziel, oder der Transfer funktionierte einfach nicht.
Trotzdem gibt es in der Klassik noch Menschen (und Institutionen), die glauben, dass es hilft, einen TikTok-Star zu engagieren, um die Leute in die eigenen Häuser und zu den eigenen Konzerten zu locken. Doch der Schritt von der virtuellen Klassik-Welt ins Konzerthaus ist alles andere als selbstverständlich. Eine der wenigen Ausnahme ist vielleicht die Organistin Anna Lapwood. Und das liegt wohl auch daran, dass ihr Geheimnis genau andersherum funktioniert: Sie begeistert die Instagram-Gemeinde eher durch die Sperrigkeit ihrer Arbeit. Die Elbphilharmonie engagiert sogar einen »Creator in Residence«, um die Schnittmenge von TikTok und »Takt-Ort« auszuloten. Kommende Saison wird es die Klassik-TikTokerin Daria Challah sein. Ob diese Art der »gekauften« Internetpräsenz am Ende genug credibility auf die Beine bringt, um die Leute zum Konzertbesuch zu animieren? Man darf Zweifel haben.
Das Video von Rosalía ist sicher nicht schlecht, aber es ist – blickt man auf die Geschichte von Pop und Klassik-Symbiosen – eben auch kein Ereignis. Es ist, was es ist: Ein Pop-Phänomen, das schon wieder vergessen sein wird, wenn der nächste Popstar irgendwann erneut mit der Klassik flirtet und alle Rufen, dass dieses nun aber wirklich Musik für das Museum sei.

