
Willkommen in der neuen Klassik-Woche,
heute mit einem Besuch in Donaueschingen, der Debatte um Anna Netrebko, mit dem Ende von CDs und Klassik-Papier und mit jungen Dirigenten-Hoffnungen. Außerdem reisen wir ins stimmgewaltige Norwegen.
Buhs für Roth

Am Wochenende waren gleich drei Autorinnen und Autoren von BackstageClassical in Donaueschingen: Alexander Strauch berichtet vom Eröffnungskonzert und von Buhs für François-Xavier Roth: »Der SWR feierte sich selbst, Roth kämpfte mit seinem Schatten, und die Musik versuchte, sich dazwischen einen Raum zu schaffen. Ein Auftakt, der alles enthielt – nur keinen Aufbruch von Festival und Chefdirigent.« Shoko Kuroe nahm (neben Lydia Grün und Anke Mai) an einer Podiumsdiskussion über Machtstrukturen im Musikbetrieb teil (nachzuhören hier), und Georg Rudiger schreibt einen Überblick über die ersten Festivaltage: »Was dieser wohltemperierten Festivalausgabe fehlt, ist der Stachel, das Verstörende, die Provokation.« Das erstes Fazit ist also ernüchternd: Der SWR wird den Schatten in der Causa Roth einfach nicht los. Die Vergangenheit verdrängt das Eigentliche, das Verhalten die Musik.

Zwischentöne für Netrebko
Anna Netrebko wird im November an der Oper in Zürich auftreten. Intendant Matthias Schulz verteidigt ihr Engagement in der NZZ als »rein künstlerische Entscheidung«. Netrebko sei eine Ausnahmesängerin und habe sich glaubwürdig vom Krieg distanziert. »Für mich ist entscheidend, dass man Künstler nicht als Sündenböcke benutzt, weil man an die eigentlichen Kriegstreiber nicht herankommt«, sagt Schulz. Ich habe Anna Netrebko einen Brief geschrieben, in dem ich erkläre, warum ich persönlich noch kein Interesse an ihren Auftritten habe, es aber auch falsch finde, sie zu canceln. Vielleicht ist es an der Zeit, ein wenig abzurüsten.
Brüggis Briefe der Woche (täglich um 6:00 auf BackstageClassical.com)
- Brief an Igor Levit – den Forrest Gump der Klassik.
- Brief an Milo Rau – den Polit-Proleten unter den Künstlern.
- Brief an Anu Tali – die Opus-Dirigent.
- Brief an Kristin Okerlund – die nun aus dem Himmel begleitet.
Voll digital
Der BR schafft Platz im Archiv: 175.000 CDs wurden digitalisiert und sollten verschrottet werden. Die FAZ hat es als Heldentum gefeiert, dass eine ehemalige Mitarbeiterin die Silberscheiben nun retten will. Dabei verliert eine CD (anders als eine analoge Langspielplatte) beim Digitalisieren nicht an Klangqualität, und das Archivieren auf Festplatte ist nur konsequent. Trotzdem sorgte kaum ein Text der letzten Monate für so viel Debatte wie mein Plädoyer für das Ende der CD. Aber vielleicht ist die Sehnsucht, eine Technik zu bewahren, die von der Zeit überlebt wurde, ja auch typisch für unseren Klassik-Markt? Übrigens: Von meinen LP würde ich mich niemals trennen!
Nur noch digital
Nicht nur die taz, auch das Klassik-Magazin Rondo stellt seine Print-Ausgabe (und damit auch die beigelegte CD des Monats) ein. Das teilten Geschäftsführerin Verena von der Goltz und Chefredakteur Carsten Hinrichs ihren Leserinnen und Lesern in einem Brief mit – damit ist das Heft nach dem Crescendo das nächste Klassik-Magazin, das auf Papier verzichtet. Willkommen in der digitalen Abenteuerwelt!

Druck am Pult
Heute endet der German Conducting Award in Köln mit dem Finalkonzert. Zu den Finalisten gehörten: Henri Christofer Aavik (Estland), Luis Toro Araya (Chile) und Friedrich Praetorius (Deutschland). Der Dirigent Patrick Lange sitzt in der Jury und berichtet im BackstageClassical-Podcast live vom Wettbewerb. Unter anderem beleuchtet er die neuen Herausforderungen im Beruf des Dirigierens, den steigenden Druck, die Suche nach Bedeutung und der Musik – und den Wandel des Berufsbildes. Ist ein GMD-Posten überhaupt noch erstrebenswert? Und helfen Wettbewerbe einer Karriere? (Podcast bei applePodcast oder für alle Player) Das Finalkonzert wird heute um 19:00 live in ARD Klassik übertragen.
Zoff um Milo Rau
Der Zoff um den Wiener Festwochen-Intendanten Milo Rau spitzt sich zu: Sein Aufruf zur Parteinahme für Palästina im Israel-Hamas-Konflikt forderte einen Protest-Brief zahlreicher Intellektueller (unter ihnen Elfriede Jelinek) heraus. Dass die rechtsnationale FPÖ protestiert, gehört zum elenden Ritual. Aber hier geht es um etwas Anderes: Raus »künstlerische« Mittel sind aus der Zeit gefallen. Wiens Kulturstadträtin Veronica Kaup-Hasler wird zu langes Zögern und mangelnde Verantwortung vorgeworfen. Sie ist nicht nur Hauptunterstützerin von Raus Festspielen, sondern immer auch seine öffentliche Fürsprecherin. (Hier noch mal ein älterer Text, in dem ich Rau für seine Festwochen abgesagt habe.)
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Personalien der Woche
Alle reden über ihn als »der neue junge Star«: Tarmo Peltokoski ist der nächste junge, finnische Dirigent! Jeder scheint das Narrativ seiner Agentur nachzuplappern. Tarmo, 25 Jahre jung, ist Musikdirektor in Hongkong, Chefdirigent des Lettischen Nationalen Symphonierochesters und erster Gast in Rotterdam. Aber nun ist er erst einmal außer Gefecht und muss seine anstehenden Konzerte krankheitsbedingt absagen. Ist das schon der Mäkelä-Effekt? +++ Mit einem Proteststreik hat die Belegschaft des venezianischen Opernhauses La Fenice die Premiere von Alban Bergs Wozzeck verhindert. Der Protest richtete sich gegen die Ernennung der 35-jährigen Dirigentin Beatrice Venezi zur neuen Musikdirektorin. Die Kulturkampf unter der Meloni-Regierung ist in vollem Gange. +++ War das der Friede von Paris? Daniel Barenboim ist zu seinem alten Orchester zurückgekehrt, bei dem er seit 1989 nicht mehr gastierte: Mit einem sehr entschleunigten Beethoven. Kann er es einfach nicht lassen? Oder ist das Teil eines würdigen Abschieds? Ich habe Barenboim einen Brief geschrieben. +++ Die Pianistin und Korrepetitorin der Wiener Staatsoper, Kristin Okerlund, ist überraschend gestorben, viele Sängerinnen und Sänger brachten ihre Anteilnahme zum Ausdruck. Hier ein kleiner Abschied.

Und wo bleibt das Positive, Herr Brüggemann?
Ja, wo zum Teufel bleibt es denn? Vielleicht ja hier: Stephan Knies zieht für BackstageClassical regelmäßig in den Norden, in Kulturwelten, in denen die klassische Musik erstaunlich mittendrin in den Städten steht. Dieses Mal begeistert er sich für einen Chor, der als Laienensemble begonnen hat und der heute – so schreibt es Knies – einer der besten Profi-Ensembles Europas ist: Der Edward Grieg Kor aus Bergen. Wie sein Gründer Håkon Matti das Ensemble an die Spitze brachte, lesen Sie in diesem Reisebericht.
In diesem Sinne: Halten Sie die Ohren steif
Ihr
Axel Brüggemann