Der Geiger Michael Barenboim will Israel boykottieren. Sägt er damit an den idealistischen Grundwerten seines Vaters?
English summary: Violinist Michael Barenboim, son of Daniel Barenboim, has taken a radical pro-Palestinian stance, calling Israel’s actions “genocide” and demanding international sanctions. His one-sided narrative ignores Hamas terror and Israeli civilian trauma. Critics argue he undermines his father’s ideals of dialogue and reconciliation, central to the Barenboim-Said Academy and West-Eastern Divan Orchestra. His boycott stance contradicts the Academy’s mission and risks alienating Jewish students, while fostering division instead of fostering peace through mutual understanding.
Der Geiger Michael Barenboim schlägt sich im Nahost-Konflikt in den letzten Jahren immer lauter und unversöhnlicher auf die palästinensische Seite. Michael Barenboim, der Sohn von Daniel Barenboim, war Dekan der Barenboim-Said-Akademie und hat dort noch immer eine Professur für Violine und Kammermusik, außerdem ist er Konzertmeister des West-Eastern Divan Orchestra. Seine Kritik an Israel ist vehement. In einem aktuellen Gespräch mit dem VAN Magazin redet er von »Völkermord« und fordert internationale Sanktionen gegen Israel. Ein Gespräch, das auf ganz unterschiedlichen Ebenen befremdet.
Natürlich ist es – gerade in der aktuellen Situation – legitim (und wahrscheinlich sogar notwendig), Kritik an der israelischen Kriegs-Politik zu äußern. Und damit wäre Michael Barenboim auch nicht der einzige Jude. Im Gegenteil: Viele Israelis gehen regelmäßig gegen Benjamin Netanjahus Bombardements des Gazastreifens auf die Straße, verurteilen die brutalen Angriffe auf die Zivilbevölkerung, das Töten unschuldiger Kinder und das Aushungern der Zivilbevölkerung.
Kultur und Kulturkampf
Aber Barenboims Blick ist radikaler, bei ihm schwingt eine moralische Überheblichkeit mit, vor allen Dingen ist seine Argumentation von einseitigen Schuldzuweisungen geprägt. Barenboim verschweigt im VAN-Interview die ebenfalls berechtigte und traumatische Angst vieler Israelis im Angesicht von Nachbarstaaten, die nichts anderes als die Auslöschung ihres Staates wollen. Er verschweigt die brutalen Angriffe auf das zivile Leben Israels am 7. Oktober 2023: das Abschlachten von Menschen, den zur Gewaltorgie ausufernden Überfall auf ein Musikfestival mit blutigsten Vergewaltigungen, Verschleppungen und entmenschlichenden Brutalitäten.
Wir beobachten derzeit allerorten, dass die Kultur zum Schauplatz von Kulturkämpfen wird. Und zuweilen scheint es so, dass dabei im Zentrum nicht mehr der humanistische und humanitäre Gedanke, sondern die politische Ideologie gerückt ist. Wäre es nicht gerade Aufgabe von Kulturschaffenden in einer sich radikalisierenden Welt, die Verletzung menschlicher Würde auf allen Seiten gleichermaßen zu thematisieren? Was ist so schwer an der Bestandsaufnahme, dass sowohl Israel der Bevölkerung in Gaza unmenschliche Gewalt antut als auch es die Hamas in ihren Attacken auf Israels Zivilgesellschaft und an ihren eigenen Leuten? Gibt es so etwas wie ein »böseres Böse«? Und würde dieses »sehr böse Böse« das »weniger Böse« bereits als »das Gute« legitimieren? Natürlich nicht!
Nähe zur Hamas
Die Barenboim-Said-Akademie behauptet immer wieder, in Anlehnung an ihren Gründer Daniel Barenboim, die Kultur als Möglichkeit des Diskurses im Nahostkonflikt zu begreifen. Gleichzeitig scheinen sich in der vom Bund mitfinanzierten Institution seit längerem propalästinensische Tendenzen zu etablieren. Schon in den Tagen nach dem 7. Oktober sorgten Posts von Alumni der Akademie für Aufsehen, in denen eine Studierende alle in Deutschland lebenden Ausländer aufforderte, deutsche Geschäfte zu boykottieren: »Aus Solidarität mit Palästina«. Ein anderer Post zeigte das Bild eines kämpfenden Palästinensers mit den Worten: »Seht, wie man das Fleisch von Menschen, aber nicht ihren Geist brechen kann.« In einem weiteren Facebook-Post eines Alumnus wurde gar der Terror der Hamas gerechtfertigt: »Hamas bekämpft seine Besetzer, seine Kolonialisten, seine Unterdrücker, die seit fast 100 Jahren Straftaten an Palästinensern begehen, die 100-mal schlimmer sind als die Taten vom 7. Oktober.«
Und was sagte der damalige Kanzler der Akademie, Carsten Siebert, auf Anfrage von BackstageClassical? All diese Äußerungen seien vom demokratischen Diskurs gedeckt, »alle Menschen in diesem Land haben zum Glück das Recht, sich frei zu äußern. Wir sind als Hochschule sogar in besonderer Weise zum Schutz und zur Pflege dieser Rechte verpflichtet.« Dieser weite Begriff der Meinungsfreiheit galt übrigens auch für einen Professor der Akademie, der Deutschland auf seinen Social-Media-Kanälen als »neue DDR« oder als »einen vom Ministerium für Staatssicherheit geführten Menschenzoo« interpretierte.
Der Charismatiker
Michael Barenboim ist ein Charismatiker, ein selbsterklärter Aktivist mit radikaler Botschaft. Dem VAN Magazin erklärte er, dass er in seinem Handeln unersetzbar sei: »Wenn ich es nicht mache, ist es nicht so, dass jemand anderes einspringt und es macht.« Manche Journalisten haben keine Hemmungen (oder keine Distanz), ihn – trotz seiner einseitigen und unvermittelten Sicht der Dinge – als Friedensbringer zu stilisieren. Die Süddeutsche Zeitung hat Konzerte des Akademie-Orchesters nach dem 7. Oktober zum Wunder erklärt und Michael Barenboim zu einer Art Messias erhoben: »Wie er die Augen schließt, die Geige in der einen Hand, wie er schwer in diese geladene Luft ausatmet, wie er sich mit der anderen Hand über das junge, traurige Gesicht streicht. Dann zieht er die Brauen hoch und mit einem Blick dirigiert er wortlos die Runde.« Das ist selbst für Kriegszeiten sehr viel Pathos.
Der Journalist, der nun für das VAN-Magazin mit ihm sprach, Jeffrey Arlo Brown, scheint aus Barenboims eigenem politischen Umfeld zu stammen und hegt unverhohlen Sympathien für seinen Interviewpartner, wenn er schreibt: »Er diskutiert und argumentiert präzise – ganz im Gegensatz zu vielen Musiker:innen, die bei Äußerungen zum politischen Geschehen Sachverhalte oft vereinfachen«. Brown selber thematisiert das Massaker von 7. Oktober auch in seinen Fragen nicht, und sein Nachhaken wirkt eher rhetorisch. Brown hat nach dem 7. Oktober einen offenen Brief von jüdischen Künstlerinnen und Künstlern unterzeichnet, in dem sie die Unterdrückung von Kritik an Israel innerhalb Deutschlands anklagen und die deutschen Demonstrationsverbote und Polizeigewalt für willkürlich erklärten. Unter anderem heißt es in dem Aufruf: »In Berlin ist der Bezirk Neukölln, in dem große türkische und arabische Gemeinschaften leben, heute ein von der Polizei besetztes Viertel. Kinder werden rücksichtslos angegriffen und verhaftet.«
Wie undemokratisch sind unsere Demokratien?
In der propalästinensischen Szene scheint sich aus vielen unterschiedlichen Richtungen ein merkwürdiges Opfer-Narrativ zu entwickeln. Demnach besteht in Deutschland keine Meinungsfreiheit mehr, die grundsätzliche Positionierung der BRD an der Seite Israels aus historischer Schuld wird in Frage gestellt. Dabei verurteilt selbst Kanzler Friedrich Merz Israels Vorgehen im Gazastreifen inzwischen energisch, Sendungen wie das heute Journal berichten durchaus kritisch über die Situation in Nahost, zeigen das Elend in den Krankenhäusern und die fatalen Konsequenzen der Lebensmittel-Restriktionen. Auch in Israel selber protestieren viele Menschen gegen die aktuelle Politik.

Warum also die Verunglimpfung demokratischer Staaten, in denen auch Michael Barenboim täglich ungestört seine Meinung sagen darf? Was hilft es, demokratische Strukturen wie sie in Deutschland (aber zum großen Teil auch noch in Israel) herrschen, grundlegend zu demontieren? Warum bleibt die aktive Brutalität von Seiten der Hamas in diesem Konstrukt weitgehend unerwähnt? Und warum wird kaum über das menschenverachtende und grundlegend antisemitische System der Hisbollah gesprochen? Darüber, dass inzwischen selbst Menschen in Gaza kritisieren, dass die Terroristen sich in ihren zivilen Einrichtungen verschanzen und damit Angriffe auf Krankenhäuser nur provozieren? Gerät hier nicht die Kritik an grundsätzlich demokratischen Staaten in eine argumentative Schieflage?
Gibt es das gute Böse und das schlechte Böse?
Barenboims Forderung nach Boykott und Sanktionen gegen Israel folgt einer Logik, die Israel isolieren und delegitimieren soll. Dabei erweist er seinem berechtigten Anliegen (Ende des völkerrechtswidrigen Handelns) aber eher einen Bärendienst. Das Vorgehen Israels, das man wohl auch »kriminell« nennen kann, darf kein Grund sein, eine grundsätzlich funktionierende Demokratie gegen terroristische Machenschaften auszuspielen. Israel ist kein monolithischer Staat, sondern eine lebendige Demokratie mit kontroversen Debatten, auch über die eigene Politik. Und es gibt zahlreiche jüdische Musikerinnen und Musiker, die Netanjahus Kurs scharf kritisieren – so wie etwa der Dirigent Omer Meir Wellber. Die Gleichsetzung von Israels Handeln mit Apartheid oder gar Völkermord ist indes eine gefährliche Verzerrung, die nicht nur die Komplexität des Konflikts, sondern auch die Verantwortung der Hamas und anderer Akteure ausblendet. Ganz abgesehen von Barenboims Position als Professor an der mit deutschen Geldern geförderten Barenboim-Said Akademie: Wie ist es für einen jüdischen Studenten in Deutschland, der an der Barenboim-Said Akademie studiert, wenn er weiß, dass sein möglicher Professor sein Heimatland sanktioniert, wenn er keine Differenzierung innerhalb der heterogenen Gruppe der Israelis mehr zulässt?
Wer im Gleichschritt mit Gruppen kämpft, die Israel das Existenzrecht absprechen oder mit BDS-Maßnahmen belegt, trägt nicht zu Frieden und Verständigung bei, sondern vertieft die Gräben. Barenboims Kritik an der deutschen Solidarität mit Israel verkennt die historische Verantwortung Deutschlands, jüdisches Leben und den jüdischen Staat zu schützen.
Was wird aus Daniel Barenboims Ideen?
Die größte Frage aber ist, was nun aus den Idealen Daniel Barenboims wird. Der hat damals bewusst die Werke Richard Wagners in Israel dirigiert, er ist bewusst nach Ramallah gefahren, um auf Missstände aufmerksam zu machen. Sein Sohn erklärt nun, dass er jede Einladung nach Israel ablehnen würde. Und damit entfernt er sich vor einer Grundkonstante des West-Eastern Divan Orchestra und der Barenboim-Said Akademie: der andauernden Dialogbereitschaft.
Daniel Barenboim hat ein Leben lang davor gewarnt, die Harmonie als Zustand des Gleichklangs misszuverstehen. Harmonie beinhaltet für ihn stets die Dissonanz als selbstverständliches Spannungsfeld. Erst die Allgegenwart der Reibung erhebe Musik in Zeiten von Konflikten zur Basis eines konstruktiven Dialoges. Und Reibung als Möglichkeit, die Perspektive von Juden, Christen und Muslimen im Dialog zu verschieben, war auch die Grundidee sowohl des West-Eastern Divan Orchestra als auch der Barenboim-Said Akademie. Doch harmonische Dissonanz verlangt das Zuhören und das gemeinsame Ringen – sie schließt den Boykott per se aus.