Eine neue Mammut-Biographie beleuchtet die zahlreichen Facetten des Dirigenten Karl Böhm: Vom Nationalsozialismus bis zur Nachkriegskarriere. Wir bringen das Kapitel über Böhm und Bayreuth.
Mit der neuen Biographie über Karl Böhm (Karl Böhm – Biografie, Wirken, Rezeption) ist dem Verlag edition text+kritik ein bemerkenswertes Standardwerk gelungen. Der von Thomas Wozonig herausgegebene Band behandelt so ziemlich alle Facetten des vielschichtigen Dirigentenlebens. Mehr als vier Jahrzehnte nach Böhms Tod ordnet das Buch das Leben des Dirigenten neu ein. Es geht um den »Kapellmeister alten Schlags«, um Böhms Haltung und Taten während der NS-Zeit, aber auch um seinen Nachkriegserfolg. Die 23 Beiträge des Bandes leisten eine umfassende kritische Auseinandersetzung mit dem streitbaren Dirigenten, der – obgleich moralisch wie ästhetisch häufig unterschiedlich bewertet – unübersehbare Spuren in der Musikgeschichte hinterlassen hat. BackstageClassical veröffentlicht hier das Kapitel Karl Böhm und die Bayreuther Festspiele von Paula Schlüter (auf die zahlreichen Fußnoten wurde in dieser Online-Version verzichtet)
Karl Böhm und die Bayreuther Festspiele
Von Paula Schlüter
Als Karl Böhm 1962 als Dirigent von Wieland Wagners Neuinszenierung von Tristan und Isolde zum ersten Mal bei den Bayreuther Festspielen auf den Plan trat, blickte der damals 67-jährige Österreicher auf eine (u.a. auch durch sein Mitläufertum während der NS-Zeit begünstigte) internationale Karriere mit zahlreichen Engagements in Europa und auf dem amerikanischen Kontinent zurück.
Während Böhm sich trotz seines umfangreichen Repertoires vor allem einen Namen als Dirigent von Werken der Komponisten Wolfgang Amadeus Mozart und Richard Strauss gemacht hatte, positionierten sich die Bayreuther Festspiele in den 1950er Jahren nach ihrer Wiedereröffnung als Kulturinstitution in zweierlei Hinsicht: Einerseits bedienten sie ein Publikum, das zwar zunehmend internationaler wurde, sich aber gerade zu Beginn der 1950er Jahre nach wie vor größtenteils aus Wagner-Liebhaber:innen einer bürgerlichen Mittel- und Oberschicht zusammensetzte, die auch schon während der NS-Zeit die Festspiele besucht hatten.
Andererseits vollzog man mit der berüchtigten ›Entrümpelung‹ der Bühne in den Inszenierungen Wieland Wagners einen klaren Bruch mit der – nicht zuletzt durch Hitlers Begeisterung für die Festspiele belasteten – neueren Geschichte der Festspiele, um Wagners Werke durch eine neue Inszenierungspraxis aus dem »Dunstkreis der NS-Vereinnahmung« zu befreien.
Unter dem Leitspruch »Hier gilt’s der Kunst« gelang Wieland (1917–1966) und Wolfgang Wagner (1919–2010) auf diese Weise eine – zunächst vermeintlich apolitische – künstlerische Neuausrichtung der Festspiele, die zwar bei Teilen des Publikums auf Ablehnung stieß, zugleich aber auch zunehmend international Anerkennung fand. Wieland Wagners Inszenierungsstil zeichnete sich dabei durch verschiedene Aspekte aus: Statt einer naturalistischen Ausstattung basierten seine Bühnenbilder und Inszenierungen auf radikaler Abstraktion. Die Reduktion der Szene auf Lichtstimmungen und statische Figurenarrangements lenkte wiederum viel Aufmerksamkeit auf die musikalische Gestaltung, das ›Werk selbst‹ – noch verstärkt durch den im Festspielhaus verdeckten Orchertergraben, in dem Orchestermusiker:innen und Dirigent:innen unsichtbar fürs Publikum agieren. Während man sich mit Wieland Wagners Inszenierungen im Bereich der Szene von einer musealen – vermeintlich werktreuen – Schau historischer Bühnenbilder und Inszenierungen verabschiedet hatte, hielt man musikalisch an einer Interpretationskultur fest, die den Bezug zur Bayreuther Aufführungspraxis des 19. Jahrhunderts nicht verloren hatte.
Hans Knappertsbusch, der im Jahr 1951 im Alter von 63 Jahren die Bayreuther Festspiele nach dem Zweiten Weltkrieg mit Parsifal wiedereröffnete, hatte selbst noch Richard Wagners Sohn Siegfried Wagner (1869–1930) und Hans Richter (1843–1916) assistiert. Er verkörperte so das Ideal einer bis ins 19.Jahrhundert zurückreichenden dirigentischen Traditionslinie und damit auch eine Verbindung zu einer Ära der Festspiele vor dem Zweiten Weltkrieg – einer Zeit, die für viele Besucher:innen der Bayreuther Festspiele womöglich einen Sehnsuchtsort darstellte.
Karl Böhm mit dem Bayreuther Festspielorchester (vom Königsbau desFestspielhauses aus aufgenommen (Foto: et+k)
Ähnliche Qualitäten als »Diener der Tradition« oder »Garant der Werktreue« wurden auch Karl Böhm als Interpret sowohl zeitlebens als auch posthum immer wieder zugesprochen.
Erste Projekte mit Wieland Wagner
Mit Wieland Wagner korrespondierte Karl Böhm bereits 1944, als er noch während des Zweiten Weltkrieges als Direktor der Wiener Staatsoper tätig war und eine Inszenierung von Richard Wagners Ring des Nibelungen in die Wege leiten wollte. Obwohl Böhm später das Narrativ pflegte, er habe sich während der NS-Zeit aufgrund ihrer ideologischen Vereinnahmung innerlich von der Musik Wagners distanziert, sprechen nicht zuletzt die künstlerischen Pläne mit Wieland Wagner dafür, dass Böhm sich vor, während und nach der NS-Zeit als Wagner-Interpret begriff – auch wenn er durch sein Engagement bei den Bayreuther Festspielen sein Renommee als solcher nochmals international festigte.
Auf ebenjenes RingProjekt von 1944 bezieht sich auch die erste dokumentierte Kontaktaufnahme zwischen Wieland Wagner und Karl Böhm nach Ende des Zweiten Weltkrieges: Böhm – 1954 als Direktor der Wiener Staatsoper restituiert – lädt Wieland Wagner in einem Brief vom 21.Mai 1954 dazu ein, anlässlich der geplanten Wiedereröffnung der Staatsoper im November 1955 mit ihm eine Inszenierung von Richard Strauss’ Elektra in Wien zu realisieren. Außerdem möchte er unbedingt selbst die neueröffneten Bayreuther Festspiele im Sommer 1954 besuchen.
Wieland Wagner betrachtet diese Einladung nach Wien in seiner Replik als eine »besondere Auszeichnung«, zweifelt aber, ob Elektra das richtige Werk für ihn sei. Böhm fragte daraufhin für eine Vorstellung von Wieland Wagners Inszenierung des Parsifalam 21.August 1954, dirigiert von Knappertsbusch, Karten an.
In den 1950er Jahren lösten Wieland Wagners Inszenierungen von Tannhäuser(1954), den Meistersingern von Nürnberg (1956) oder Tristan und Isolde (1957) regelmäßig Kontroversen aus – die Finanzierung der Festspiele und damit die Fortführung in der Zukunft standen zu dieser Zeit keineswegs auf sicherem Fundament. Auch die Frage nach der zukünftigen künstlerischen (und musikalischen) Ausrichtung der Festspiele war zu dieser Zeit noch völlig offen. Böhm scheint diese künstlerischen Entwicklungen in Bayreuth mit aktivem Interesse verfolgt zu haben. So schrieb er in einer handschriftlichen Karte an Wieland vom 21.August 1956, er hätte »zu gerne […] die vieldiskutierten Meistersinger gehört und gesehen«, berufliche Verpflichtungen in Salzburg und München hätten ihn aber daran gehindert.
Interview mit Karl Böhm
Einige Jahre später versuchte Wieland Wagner ohne Erfolg, Böhm als Dirigent des Lohengrin für die Festspielsaison 1959 zu gewinnen. Eine erste künstlerische Kooperation zwischen den beiden ergab sich erst an der Städtischen (später wieder: Deutschen) Oper in Berlin mit Tristan und Isolde im Jahr 1959. Wieland Wagner, der bereits im Jahr 1957 in einem Brief an seine Mutter Winifred seine »künstlerische Lebensaufgabe« in Bayreuth als »abgeschlossen« bezeichnet hatte, bewarb sich 1960 als Intendant an eben jenem Opernhaus. Obwohl seine Bewerbung nicht erfolgreich war, setzte er die Zusammenarbeit mit Böhm im Rahmen einer Inszenierung von Verdis Aida fort, die 1961 zur Neueröffnung der Deutschen Oper Premiere feierte. Dabei standen Dirigent und Regisseur im Vorfeld durchaus auch über künstlerische Fragen im Austausch. So schrieb Wieland Wagner an Böhm in einem Brief, der vermutlich 1961 verfasst wurde:
Ich habe nun ein paar Fragen rein musikalischer Art, die mich bei der Vorarbeit sehr beschäftigen. Darf ich Ihnen diese schriftlich stellen, da ich in den nächsten Monaten in Stuttgart und Kopenhagen blockiert bin (mündlich ließen sich die kleinen Probleme natürlich viel einfacher lösen!).
Auf die gemeinsame Aida 1961 in Berlin, die Böhm nachhaltig beeindruckt hatte, folgte dann die Anfrage für das Dirigat von Wieland Wagners Neuinszenierung des Tristan bei den Bayreuther Festspielen im Sommer 1962 und damit Karl Böhms erstes Engagement in Bayreuth. Im Vorfeld seines Debüts klang in Pressestimmen immer wieder Böhms Verbundenheit zur Bayreuther Dirigententradition an: Man schrieb über ihn als Schüler Karl Mucks und als ausgewiesenen Experten für Wagners Tristan, den Böhm in einem Interview als seine »Lieblingsoper« bezeichnete.
Die Premierenbesetzung des Tristan bestand größtenteils aus Sänger:innen, die entweder bei der TristanProduktion aus dem Jahr 1957 in Bayreuth oder bei der Inszenierung in Berlin 1959 beteiligt gewesen waren – also entweder mit Böhm, Wieland Wagner oder beiden bereits zusammengearbeitet hatten.
Engagements in Bayreuth
Nach seinem Debüt 1962 war Böhm bis 1971 für insgesamt zehn Festspielsommer in Bayreuth tätig und zeichnete als Dirigent bis zu Wieland Wagners Tod 1966 ausschließlich für dessen Inszenierungen verantwortlich – eine Kontinuität, die in »Neu-Bayreuth« eine Besonderheit darstellte (eine Auflistung der Dirigate findet sich in der Tabelle auf). Ähnlich regelmäßig wie Böhm war seit 1951 nur Hans Knappertsbusch bei den Festspielen engagiert, der seit der Eröffnung der Festspiele jährlich das Dirigat zu Wieland Wagners Inszenierung des Parsifal übernahm und darin erst kurz vor seinem Tod im Jahr 1965 abgelöst wurde.
Die Produktion von Tristan und Isolde, die bis 1970 im Spielplan verblieb, wurde dabei exklusiv von Böhm dirigiert. Auch an der Premierenbesetzung, unter anderem mit Birgit Nilsson als Isolde und Wolfgang Windgassen als Tristan, änderte sich im Laufe der Jahre nur wenig, sodass die Produktion – auch nach Wieland Wagners Tod – beim Publikum in Bayreuth einen gewissen Kultstatus erreichte. Böhms musikalische Interpretationen wurden dabei im öffentlichen Diskurs als ebenbürtige Pendants zu Wielands moderner Inszenierungspraxis empfunden, die besondere Kongruenz zwischen Musik und Szene immer wieder betont:
Karl Böhms musikalische Interpretation stimmte in erstaunlicher Weise mit Wielands moderner Inszenierung überein, obwohl er der älteren Generation angehörte. Der Klang war fließend, schlank, ohne konventionelles Pathos. Böhm ›zelebriert nicht, sondern konzertiert.‹
In den Folgejahren seines Debüts übernahm Böhm zusätzlich zum Tristan weitere Verpflichtungen in Bayreuth. So sprang er 1963 anlässlich des Festakts zum 150. Geburtstag Richard Wagners als Dirigent von Beethovens Neunter Sinfonie für den eigentlich vorgesehenen Otto Klemperer ein und dirigierte in der Saison 1964 zusätzlich zum Tristan zwei Vorstellungen von Wieland Wagners Meistersinger-Inszenierung, die im Jahr 1963 unter Thomas Schippers (1930–1977) Premiere gefeiert hatte, darunter auch die Eröffnungspremiere. Während Schippers’ Interpretation der Premiere im Vorjahr das Publikum nicht unbedingt hatte überzeugen können, erntete Böhm ein Jahr später auch für sein Dirigat der Meistersinger viel Beifall. Die übrigen Meistersinger-Vorstellungen übernahm Robert Heger.
Im Jahr 1965 stand Böhm dann bei Wieland Wagners Neuinszenierung des Ring des Nibelungen erneut mit großem Erfolg am Pult. Die Produktion galt in den 1960er Jahren neben dem Tristan als Bayreuths größter künstlerischer Erfolg der Nachkriegszeit, als »Ring aller Ringe«.
Widmung Böhms auf der Rückseite des Fotos oben.
Wie auch schon bei vorherigen Projekten entschieden Wieland Wagner und Böhm die Besetzung gemeinsam – auch beim Ring setzte man vor allem auf etablierte Künstler:innen mit Vorerfahrung auf der Bayreuther Bühne. Birgit Nilsson hatte 1957 als Isolde, 1960 als Brünnhilde in Bayreuth debütiert und seitdem kontinuierlich diese Partien übernommen, so auch beim neuen Ring im Jahr 1965. Ähnlich verhielt es sich mit Wolfgang Windgassen, der seit 1951 bei den Festspielen den Parsifal sang, seit 1953 die Partie des Siegfried. Nilsson und Windgassen waren auch außerhalb Bayreuths wichtige künstlerische Partner:innen Böhms und trugen mit Sicherheit zum großen Erfolg bei, den die von ihm dirigierten Produktionen in Bayreuth erlangten. Beide verabschiedeten sich im Jahr 1970 mit der Dernière von Wieland Wagners Tristan-Inszenierung von der Bayreuther Bühne.
Eine »durch Mozart geläuterte Wagner-Interpretation«?
Böhm debütierte zu einer Zeit in Bayreuth, in der sich ein Wandel des dirigentischen Personals vollzog. Dirigenten wie André Cluytens, Wolfgang Sawallisch oder Knappertsbusch, die die Neueröffnung und -etablierung der Festspiele in den 1950er Jahren begleitet hatten, beendeten aus unterschiedlichen Gründen ihre Engagements in Bayreuth in der ersten Hälfte der 1960er Jahre, um von Namen wie Böhm, Lorin Maazel, Pierre Boulez oder Silvio Varviso abgelöst zu werden. Wieland Wagner, der sich zu Beginn der 1960er Jahre vollends als Regisseur etabliert hatte, forderte dabei eine musikalische Interpretation jenseits von heroischem Pathos ein. In diesem Zusammenhang beschrieb er in einem Gespräch mit Antoine Goléa im Juni 1966 (eigentlich in Bezug auf Pierre Boulez) sein Ideal des »lateinischen Dirigenten«:
Ziel der heutigen Wagner-Interpretation sollte sein: weniger Pedal, weniger Pathos, kein Schrei, Entfettung und subtile Klangmischung. Das gelingt lateinischen Dirigenten besonders gut. Auch Karl Böhm möchte ich zu dieser Gruppe Dirigenten zählen, die das dunkle Werk Wagners durch mittelmeerische Clarté aufhellen.
Der performative Bruch mit der Tradition, die in den 1950er Jahren zu einem zentralen künstlerischen Motiv der Bayreuther Festspiele geworden war, sollte sich also nun auch auf musikalischer Ebene fortsetzen. Zu diesem Zwecke verpflichtete man in den 1960er Jahren viele Dirigenten, die nicht dezidiert auf Wagner, sondern zum Beispiel auf französisches oder italienisches Repertoire spezialisiert waren – wie Varviso, Alberto Erede oder Schippers.
Entpathetisierung schienen auch Dirigenten zu garantieren, die nicht als Wagner-Dirigenten galten, sondern als Spezialisten für Komponisten ganz anderen Temperaments, ganz anderer Struktur, wie z.B. Mozart. Man stellte sich vor, daß der Mozart-Dirigent Spezifika seiner streng auf Mozart konzentrierten und aus dem Wesen der Mozartschen Musik entwickelten Interpretation in die Bayreuther Wagner-Aufführungen einbringen, Wagner gleichsam aus der Sicht Mozarts darstellen werde. Karl Böhm, einem berühmten Interpreten Mozarts, wurde nach seinen Ring-Aufführungen 1965 nachgesagt, er habe Wagner durch Mozart geläutert. Wie es scheint, beschrieben die Rezensenten damit die Intention, die zum Engagement Böhms geführt hatte.
Der Leitspruch vom »durch Mozart geläuterten Wagner« findet sich dabei nicht nur in verschiedenen Besprechungen von Böhms Dirigaten, sondern stammte ursprünglich von ihm selbst. So notierte Böhm zur Aufführung des Ring im Jahr 1965:
Lange hatte ich es mir überlegt, ob ich diese Titanen-Arbeit in meinem Alter noch wagen sollte; […]. Ich, der ich mit Wagner in die musikalische Welt eingezogen war, mich dann durch die Liebe zu Mozart von ihm etwas entfernt hatte, habe ihn nun plötzlich in einem neuen Licht gesehen. Und siehe da: plötzlich war alles Bombastische weg! […] Ich formulierte: ich hatte einen durch Mozart geläuterten neuen, modernen Wagnerstil gefunden. Wie glücklich ich jetzt rückschauend sagen kann: es ist mir gelungen alle – weltweit gesehen!! – zu überzeugen.
Während Wieland Wagner und viele andere ihn als einen progressiven Dirigenten rezipierten, stand Böhm nichtsdestotrotz zugleich für die Anbindung an dieTradition – auch bedingt durch sein fortgeschrittenes Alter und nicht zuletzt durch seine Freundschaft mit Richard Strauss, der ihn zeitlebens als Dirigenten sehr schätzte und selbst mit der Familie Wagner und den Bayreuther Festspielen in enger Verbindung stand. Einige Pressestimmen stilisierten die Phase des Übergangs zwischen den 1950er zu den 1960er Jahren, in denen die künstlerische Zukunft der Bayreuther Festspiele viel diskutiert wurde, gar zu einer »Bayreuther Dirigentenkrise«. So beschrieb Walter Panofsky in seinem Artikel »Bayreuther Zukunfts-Sorgen. Zum Abschluß der Richard-Wagner-Festspiele 1963« in der Fränkischen Zeitung die Probleme, bei einem auf nur sieben Werke begrenzten Kanon trotzdem fortlaufend für szenische Innovationen zu sorgen. Ebenso besorgt wie kritisch sah er die Fortführung der musikalischen Leitung in der Zukunft:
Wo sind die Gestalter, die einmal das Erbe der großen alten Männer am Pult und der Sängerpersönlichkeiten auf der Bühne antreten können? Wer in diesem Jahr den »Parsifal« von Knappertsbusch, den »Tristan« unter Karl Böhm hörte, dem wurde klar, daß er dergleichen nicht mehr lange erleben würde. Denn wo auf der Welt gibt es heute noch Dirigenten von diesem Format, mit dieser lebenslangen Vertrautheit mit Wagners Werk? Ein Musiker wie der heute fünfundsiebzigjährige Knappertsbusch, der sich fünfzig Jahre seines Lebens immer wieder mit dem »Parsifal« und dem »Ring« auseinandergesetzt hat und der noch als Korrepetitor unter Hans Richter begonnen hatte, ist, im Sinne der Wagner-Tradition, ebensowenig zu »ersetzen« wie Karl Böhm, der fast siebzigjährige, der heute ebenfalls mit der Weisheit des Alters amtiert. Vergleicht man Rudolf Kempe damit, der auf dem internationalen Feld als »Ring«-Dirigent anerkannt wird, so werden die beiden großen alten Männer zu Riesen, die in eine einzige Motiv-Phrase mehr »Wagner« hineinzulegen vermögen als Kempe in einen ganzen Ring-Abend.
Neben dem offensichtlichen Kulturpessimismus, der in Panofskys Ausführungen durchscheint, zeichnet er – im Gegensatz zu Wieland Wagner – ein Bild des Dirigenten Böhm, das ihn bereits im zweiten Jahr seines Engagements bei den Bayreuther Festspielen ähnlich wie Knappertsbusch als ›Gralshüter‹, als Fortführer der musikalischen Tradition und des ›Bayreuther Stils‹ sowie als Vertreter einer musikalischen Ära sieht, die im Jahr 1963 bereits an ihr Ende gekommen zu sein schien.
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Böhms Bayreuther »Ring« bei Qobuz
Dass Böhm damit eine Sonderstellung unter den Dirigenten der Bayreuther Festspiele in den 1960er Jahren einnimmt, vielleicht sogar gerade weil er sowohl den Ansprüchen eines progressiven als auch eines konservativen Publikums gerecht zu werden vermochte, wird anhand verschiedener Aspekte deutlich: Neben der Dauer seines Engagements über zehn Saisons und drei Neuproduktionen auch über Wieland Wagners Tod hinaus, zählt er neben Paul Hindemith, Wilhelm Furtwängler und Richard Strauss zu den wenigen Dirigenten der Bayreuther Festspiele, die zu festlichen Anlässen mit dem Dirigat von Beethovens Neunter Sinfonie betraut wurden.
Darüber hinaus belegen Aktennotizen in der Korrespondenz zwischen Böhm und Wieland Wagner, dass Böhm 1963 als Vertretung für Hans Knappertsbusch als Dirigent des Parsifal bereitgehalten wurde, falls dieser aus gesundheitlichen Gründen spontan ausfallen sollte.
Schallplattenaufnahmen bei den Bayreuther Festspielen
Bereits 1964 planten Wieland Wagner und Böhm eine Schallplattenaufnahme von Tristan und Isolde, die schließlich im Jahr 1966 als Live-Mitschnitt realisiert wurde. Zu Beginn der 1960er Jahre begann der Bayerische Rundfunk, Vorstellungen der Bayreuther Festspiele in Stereo mitzuschneiden, woraus sich die Tradition entwickelte, jede Premiere aufzuzeichnen – obwohl Wieland Wagner sich sehr kritisch gegenüber der Stereo-Aufnahmetechnik äußerte.
Die 1966 entstandene Aufnahme von Tristan und Isolde ist jedoch keiner dieser Premierenmitschnitte des Bayerischen Rundfunks, sondern wurde von der Deutschen Grammophon produziert, bei der Böhm und einige der Solist:innen bereits unter Vertrag standen. Wie Böhm in seiner Autobiografie schildert, organisierte man diese Aufnahme, indem man die einzelnen Aufzüge live an drei aufeinanderfolgenden Probentagen mitschnitt. So sollten die Sänger:innen, allen voran die zwei Hauptpartien, vor stimmlichen Ermüdungserscheinungen geschützt werden.
Auch Böhms Interpretation des Ring wurde 1966/67 auf Schallplatte festgehalten. Wieland Wagner und Karl Böhm hatten darüber hinaus auch eine gemeinsame Filmproduktion des Tannhäuser geplant.
Die Filmaufnahmen sollten als Playback zu einer zuvor realisierten Schallplattenaufnahme entstehen – ein Vorhaben, das nach dem plötzlichen Tod des Regisseurs ad acta gelegt werden musste. Im Jahr 1971 übernahm Böhm von Silvio Varviso das Dirigat zum Fliegenden Holländer in der Inszenierung von August Everding, die 1969 in Bayreuth Premiere gefeiert hatte. Böhm teilte sich das Dirigat mit Hans Wallat und dirigierte nur die zwei ersten Vorstellungen, aus denen erneut eine Schallplatte entstand.
Zwischen Bayreuth und Salzburg
Trotz der Sonderstellung, die Böhm als Dirigent in Bayreuth innehatte, war er während der gesamten 1960er Jahre jeden Sommer parallel bei den Salzburger Festspielen tätig, wo er bereits 1938 debütiert hatte. Diese Doppelbelastung führte während seines Engagements in Bayreuth nahezu jährlich zu dispositionellen Konflikten, die in der Korrespondenz zwischen Böhm und den Bayreuther Festspielen gut dokumentiert sind. Unzählige Briefe zwischen der Direktion der Salzburger Festspiele, vertreten durch Tassilo Nekola, und der Bayreuther Festspielleitung belegen den logistischen Aufwand, der mit einem ›doppelten Engagement‹ Karl Böhms in Bayreuth und Salzburg einherging.
Böhm gab dabei meistens den Salzburger Festspielen den Vorrang, denen er sich künstlerisch stärker verpflichtet fühlte als Bayreuth, korrespondierte aber vertraulicher mit dem befreundeten Wieland Wagner.
Exemplarisch dafür ist eine Aktennotiz, die einen Anruf Karl Böhms bei der Festspielleitung am 17.November 1964 dokumentiert:
Herr Prof. Böhm bat mich, sofort nach Bayreuth weiterzugeben, daß bei Auskünften über seine Gage an Dr.Nekola, Salzburg, eine Summe von DM 5500 genannt werden sollte, die sich aus Gage und Aufenthaltsentschädigung ergäbe. Er hätte Herrn Dr.Nekola diese Summe als Druckmittel für die Erhöhung seiner Salzburger Gage genannt, und Dr.Nekola würde sicher deswegen in Bayreuth anrufen. Ich gebe diese Bitte sofort telefonisch an Herrn Wolfgang Wagner weiter, der über die Höhe der Gage Auskunft verweigern will.
Karl Böhm verstand es also durchaus, die beiden Institutionen zu seinem Vorteil gegeneinander auszuspielen. Einen besonders großen terminlichen Konflikt zwischen Salzburg und Bayreuth lösten die Proben- und Vorstellungstermine für den 1966 anstehenden Ring sowie Tristan in Bayreuth aus, zu denen Böhm parallel in Salzburg eine Neuinszenierung von Die Hochzeit des Figaro proben sollte. Die Salzburger und die Bayreuther Festspielleitung korrespondierten bereits im Frühjahr 1965 direkt miteinander und bemühten sich, ihre Dispositionen aneinander anzupassen. Da allerdings keine der beiden Parteien bereit war, ihre Ansprüche an Böhm zurückzustellen und ihn zugunsten der anderen weniger einzubinden, gestalteten sich die Verhandlungen zäh.
Während Böhm in seinen Briefen aus dem Frühjahr 1965 angesichts der knappen Disposition zwischen Bayreuth und Salzburg mehrfach das ursprünglich geplante Dirigat eines Ring-Zyklus in Bayreuth 1966 abzusagen versuchte und stattdessen lediglich die drei Vorstellungen des Tristan dirigieren wollte, schien man seitens der Bayreuther Festspielleitung unbedingt auf Böhms Ring-Dirigat zu bestehen. Die Verhandlungen mündeten schließlich in einer Absprache zwischen Wieland Wagner und Böhm, in der Böhm versprach, Bayreuth für die kommenden Jahre das Terminprimat einzuräumen. Im Gegenzug sicherte Wieland Wagner zu, ihm alle von ihm inszenierten Neuproduktionen und Wiederaufnahmen in den Folgejahren exklusiv anzubieten.
Der Dirigent Karl Böhm
Allerdings gab es auch nach dieser Einigung weiterhin terminliche Konflikte zwischen Salzburg und Bayreuth. Nachdem der Termin einer Tristan-Vorstellung vom 3. auf den 4.August 1966 verschoben werden musste, obwohl Böhm bereits am 5.August in Salzburg für einen Figaro verpflichtet war, ließ er sich von der Festspielleitung ein privates Flugzeug zur Verfügung stellen, das ihn nach seiner Vorstellung nach Salzburg brachte. Dieses Flugzeug wurde für ihn auf Kosten der Bayreuther Festspiele gemietet, genauso nach der letzten Tristan-Vorstellung der Saison 1966 am 20.August in Bayreuth, als Böhm erneut am darauffolgenden Tag Figaro in Salzburg dirigierte. Offensichtlich sah die Bayreuther Festspielleitung respektive Wieland Wagner sich nicht dazu in der Lage, auf Böhms Dirigat des Ring zu verzichten. Im Frühjahr 1966 schrieb er in Bezug auf die Saison im Folgejahr an Böhm:
Wenn Sie sich wirklich entschließen können, im nächsten Jahr zweimal den Ring und dreimal den Tristan zu dirigieren, würde ich liebend gerne den ganzen Festspielplan so disponieren. Sie wissen, wie traurig ich über die diesjährige Teilung des Ringes in einen Gala- und zwei Provinz-Ringe bin, da unsere Neuinszenierung dadurch moralisch Schäden erleidet. Den ganzen Ring schon im nächsten Jahr in eine neue und fremde Hand zu legen, würde für mich – und ich meine dies ganz ehrlich – eine echte Katastrophe bedeuten. Ihr Ring und Ihr Tristan haben in Bayreuth neue Maßstäbe geschaffen und dürfen einfach nicht so schnell zerstört werden. Ideallösung für 1967 also: 2mal Ring, 3mal Tristan, insgesamt also 11 Aufführungen.
Aus demselben Brief geht hervor, dass Wieland Wagner und Böhm für das Jahr 1968 eine gemeinsame Zusammenarbeit bei der Neuinszenierung der Meistersinger anlässlich des 100-jährigen Jubiläums der Uraufführung sowie eine weitere Schallplattenaufnahme planten. Auch hier gab es allerdings Terminschwierigkeiten mit den Salzburger Festspielen:
1968 werden Sie in Salzburg eine Neueinstudierung des Fidelio dirigieren und damit, soweit ich das beurteilen kann, wohl für den Bayreuther Ring unerreichbar sein. Heißt dieser Fidelio auch, daß Sie im Jubiläumsjahr der Meistersinger für dieses Werk ausfallen? Oder sollen wir für 1968 die Meistersinger unter Ihrer musikalischen Leitung fixieren? Schreiben Sie mir das bitte umgehend, damit ich jetzt schon wegen der Termine mit Herrn Dr.Nekola zu raufen beginne und auch eine Grammophonplatten-Aufnahme der Meistersinger vorbereiten kann.
Und auch während der Probenzeit im Juli 1966 drängte Wieland Wagner Böhm erneut zu einer Zusage der Dirigate des Ring und des Tristan im Jahr 1967 sowie der Meistersinger im Jahr 1968:
Ich bin mir bewußt, daß 2 Ring und 4 Tristan eine starke Zumutung für Sie ist. Aber Sie wissen ja, es gibt außer Ihnen keinen, dem ich den Ring anvertrauen kann, und den Tristan kann ich ohne Sie überhaupt nicht mehr spielen. Vielleicht kann ich Sie dann im Jahre 1968 so entlasten, daß Ihren Salzburger Fidelio-Plänen höchstens 4 Meistersinger und eben das, was Sie sich sonst noch wünschen, im Wege steht. Bitte fassen Sie, noch während Karlheinz [Böhm, Sohn und Agent von Karl Böhm] da ist und die Schallplatten toben, harte Entschlüsse. Ich könnte dann nämlich wenigstens für 1967 soweit möglich Ihre Wünsche mit unseren Notwendigkeiten schon jetzt kombinieren. Auch unser gemeinsamer Freund und Förderer Nekola wird begeistert sein, wenn er schon jetzt harte Tatsachen serviert bekommt.
Die vielfältigen Privilegien, die Wieland Wagner Böhm zuzugestehen wusste, um sein künstlerisches Mitwirken bei den Festspielen zu sichern, machen deutlich, wie wichtig ihm die künstlerische Zusammenarbeit mit dem Dirigentenwar. Neben Böhms Autorität als Wagner-Dirigent und seiner Popularität beim Bayreuther Publikum, das ihn für seinen ›modernen‹ Wagner-Klang feierte, schien Wieland Wagner in dem Dirigenten außerdem einen guten Freund und idealen künstlerischen Partner für seine eigenen Inszenierungen zu sehen, was ihn nicht zuletzt dazu veranlasste, Böhm durch eingeräumte Exklusivrechte langfristig an Bayreuth zu binden. Diese Zugeständnisse an Böhm wurden allerdings nicht unbedingt von Wieland Wagners Bruder Wolfgang mitgetragen.
Bruch mit Bayreuth
Nach Wieland Wagners Tod am 17.Oktober 1966 setzte sich die Korrespondenz zwischen Festspielleitung – nun allein vertreten durch Wolfgang Wagner – und Karl Böhm zunächst betont herzlich fort. Böhm dirigierte im Jahr 1967 aus gesundheitlichen Gründen nicht die von Wieland Wagner ausgehandelten Ring-Zyklen zusätzlich zum Tristan, sondern lediglich zwei Vorstellungen der Walküre und zwei Vorstellungen der Götterdämmerung. Alle restlichen Ring-Termine wurden von Otmar Suitner übernommen, der Tristan wurde vorerst ausgesetzt. Obwohl Karl Böhm nur an diesen insgesamt vier Terminen dirigierte, trat er nach der Premiere der Götterdämmerung vor den Vorhang, um eine Gedenkminute an Wieland Wagner anzuleiten. Die Aufführung des Ring im Jahr 1967 wurde so laut Oswald Georg Bauer zu einer »erschütternden Totenklage für Wieland Wagner«.
Während Böhm 1968 wie verhandelt zwei Vorstellungen der Meistersingerdirigierte – nun neu inszeniert von Wolfgang statt von Wieland Wagner –, außerdem im selben Jahr sowie 1969 und 1970 als Dirigent ›seines‹ Tristan in Erscheinung trat und 1971 den Fliegenden Holländer von Silvio Varviso übernahm, entwickelte sich im Hintergrund zunehmend ein Konflikt bezüglich der musikalischen Leitung der Neuproduktion von Tristanund Isolde im Jahr 1974.
Unmittelbar nach Wieland Wagners Tod war offensichtlich zunächst unklar, ob alle Künstler:innen unter diesen Umständen auch weiterhin in Bayreuth tätig sein würden. Wieland Wagners persönlicher Referent Gerhard Hellwig reiste daher bereits im November 1966 nach New York, um dort Gespräche mit Künstler:innen wie Karl Böhm, Birgit Nilsson und anderen Mitwirkenden zu führen.
Eine Aktennotiz zu dieser Reise dokumentiert, dass diese Gespräche offenbar vor allem einen Verhandlungscharakter hatten. Zu Böhm ist dort vermerkt:
Dr.Böhm hat mir gegenüber den Wunsch geäußert, daß er eine schriftliche Loyalitätserklärung von Herrn Wolfgang Wagner haben möchte. Inhalt etwa, daß er nach dem Tod von Professor Knappertsbusch jetzt Senior unter den Dirigenten wäre und ihm somit bei der Vergabe von Dirigaten ein Vorrecht eingeräumt ist.
Die musikalische Leitung speziell des Tristan möchte er immer behalten, ganz gleich, zu welchem Zeitpunkt die Aufführung in den Spielplan aufgenommen wird. Weiterhin möchte er die Erklärung, daß Karajan nicht nach Bayreuth kommt. Als Gegenleistung erklärte Herr Dr.Böhm mir gegenüber in New York Bereitschaft, weiterhin in Bayreuth zu bleiben.
Böhm stellte also bereits wenige Monate nach Wielands Ableben Bedingungen für sein weiteres Wirken in Bayreuth. Eine entsprechende Antwort auf seine Forderungen verfasste Wolfgang Wagner bereits am 9.Dezember 1966, allerdings ohne das Exklusivrecht am Dirigat des Tristan zu erwähnen, das Böhm im Gespräch mit Hellwig betont hatte:
Daß ich darauf bauen kann, daß Ihr meinem Bruder gegebenes Wort für Ihre so bedeutungsvolle Mitarbeit in Bayreuth sich für den Fortbestand der Festspiele auch unter den jetzigen Gegebenheiten so positiv wird auswirken können, dafür bin ich Ihnen zu besonderem Dank verpflichtet. Durch Ihre Persönlichkeit einen ›Senior‹ unserer Dirigenten zu haben, ist für mich beruhigend, und ich darf Ihnen an dieser Stelle versichern, daß ich meinerseits bemüht sein werde, alles zu tun, was zur Verwirklichung Ihrer künstlerischen und persönlichen Vorstellungen beitragen kann. Denn gerade die Atmosphäre in dieser Richtung ist mit ein Spezifikum Bayreuths und nur durch deren Erhaltung wird auch weiterhin die überdimensionale Aufgabe hier zu bewältigen sein.
Tristan und Isolde 1952, Bayreuther Festspiele (Foto: Bayreuther Festspiele)
Die musikalische Leitung des neuen Tristan schien Böhm dabei sehr am Herzen gelegen zu haben; in einem Schreiben an die Festspielleitung im Dezember 1966 erinnerte er erneut an die Absprache mit Wieland Wagner.
Die Forderung, dass ein Engagement Karajans in Bayreuth ausgeschlossen werden sollte, damit Böhm weiterhin dort dirigiert, lässt wiederum erahnen, dass in den Verhandlungen zwischen Festspielleitung und Dirigenten nicht nur geschäftliche Interessen zur Debatte standen.Allen Vereinbarungen zum Trotz kam es im Jahr 1969 erneut zu terminlichen Konflikten mit Salzburg. Die Salzburger Festspiele hatten Böhm unter anderem als Dirigenten des Rosenkavalier verpflichtet. Böhm war allerdings zur selben Zeit für das Dirigat der Neuinszenierung des Fliegenden Holländer von August Everding vorgesehen, das er schlussendlich zurückgeben musste. Während der Saison 1969 wurden zeitgleich organisatorische Anstrengungen unternommen, Tristan und Isolde im Jahr 1970 vor dem Absetzen der Produktion noch einmal zur Eröffnungspremiere zu machen – dies hing allerdings erneut auch vom Spielplan der Salzburger Festspiele ab.
Ein Erinnerungsvermerk aus dem August 1970 dokumentiert ein Treffen von Wolfgang Wagner und Karl Böhm, in dem Ersterer ihm das Dirigat des Tannhäuser im Jahr 1972 anbot. Im Gespräch erkundigte sich Böhm offenbar erneut nach dem Dirigat der Neuinszenierung des Tristan im Jahr 1974, das Wolfgang Wagner ihm allerdings nicht übertragen wollte.
Im Sommer 1971 kam es dann in den Verhandlungen über das Dirigat des neuen Tristan zum Eklat: Nachdem Böhm das Dirigat des Tannhäuser im Jahr 1972 wieder abgesagt hatte, bot ihm Wolfgang Wagner daraufhin das Dirigat des Parsifal im Jahr 1973 an.
In einem anschließenden Brief vom 13.August 1971 legte Wolfgang Wagner nochmals die Gründe dar, die aus seiner Sicht gegen ein Engagement Böhms als Dirigent des neuen Tristan ab 1974 sprachen. Hauptgrund war dabei Böhms Doppelverpflichtung in Bayreuth und Salzburg. Aus dieser terminlichen Eingeschränktheit heraus begründete Wolfgang Wagner auch das Angebot des Parsifal, bei dem es offenbar leichter realisierbar war, nur drei bis vier Vorstellungen pro Saison zu geben. Zugleich schloss er aus, die musikalische Betreuung einer Produktion in mehrere Hände zu legen – wie in der Vergangenheit das Dirigat des Ring, das sich Karl Böhm und Otmar Suitner im Jahr 1967 geteilt hatten.
Böhm zeigte sich diesbezüglich uneinsichtig – in dem Glauben, ihm wäre durch Wieland Wagners Zusicherung, er könne den Tristan sein Leben lang in Bayreuth dirigieren, auf vertraglicher Basis ein Vorrecht auf das Werk zugesprochen worden.
Seitens der Festspielleitung wurde Böhm allerdings, nachdem er die ihm angebotenen Dirigate des Tannhäuser und des Parsifal abgelehnt hatte, indirekt nahegelegt, seine Tätigkeit für die Bayreuther Festspiele mit der Saison 1971 auslaufen zu lassen.
Dagegen legte Böhm wiederum innerhalb weniger Tage per Brief vehement Einspruch ein. Offensichtlich fühlte er sich als langjähriger Dirigent bei den Bayreuther Festspielen vor den Kopf gestoßen – einerseits durch die Anregung der Festspielleitung, seine fast zehnjährige Tätigkeit in Bayreuth mit seinem Engagement im Jahr 1971 abzuschließen, andererseits durch die Tatsache, dass ihm diese Nachricht nicht von Wolfgang Wagner persönlich mitgeteilt wurde, sondern von dessen Referenten Gerhard Hellwig. Über diese Konfliktlage konnten sich beide Parteien offenbar auch im persönlichen Gespräch nicht mehr einig werden.
In einem sechsseitigen Brief legte Wolfgang Wagner daraufhin nochmals ausführlich die Chronologie des Konflikts aus seiner Perspektive sowie seine Gründe dafür dar, Böhm außer für den Parsifal 1973 künftig nicht mehr engagieren zu wollen. Dabei betonte er, Böhm nach Wieland Wagners Tod explizit kein Vorrecht auf das Dirigat von Neuinszenierungen eingeräumt zu haben. Zugleich wurde von ihm kritisiert, dass Böhm seinerseits die Abmachung mit Wieland Wagner, Bayreuth terminlich gegenüber Salzburg zu bevorzugen, nicht eingehalten habe. Exemplarisch führte er dazu sowohl das Scheitern des geplanten Dirigats der Holländer-Neuproduktion im Jahr 1969 als auch eine spontane Absage Böhms in Bayreuth für die Saison 1970 zugunsten des Dirigats einer Neuinszenierung von Idomeneo in Salzburg an.
Die Praxis und die mir vorliegenden Unterlagen zeigen, daß das von Ihnen, sicher in bester Absicht, meinem Bruder gegebene Terminprimat für Bayreuth (siehe Brief vom 29.7.1965) bei der Spielplangestaltung und Durchführung sich nicht in der vorgesehenen positiven Form hier auswirkte, d.h. daß zwar Sie von der den Festspielen gegenüber bestehenden imaginären Fiktion, wählen zu dürfen, Gebrauch machten, aber irgendwelche Rücksichtigen [sic] bei der Gestaltung und Erfordernissen des Spielplanes Ihrerseits unbeachtet blieben. Wenn z.B. bei acht MEISTERSINGER-Aufführungen einer Neuinszenierung, die Sie einstudierten, nur zwei unter Ihrer Leitung durchgeführt werden konnten, so ist das unserem Festspielpublikum unverständlich und unseren Mitwirkenden gegenüber nicht verantwortbar.
Darüber hinaus schrieb Wolfgang Wagner, dass er Böhm in erster Linie als Dirigenten des Parsifal für die Saison 1973 gewinnen wollte, da er beim Festspielpublikum so populär gewesen sei, und bezeichnete in einer anderen Passage ein Engagement Böhms für den neuen Tristan gleichzeitig als »unnötigen, willkürlichen und von anderen Momenten abhängigen Unsicherheitsfaktor«.
Mit diesem Brief beleidigte der Festspielleiter Karl Böhm offenbar so nachhaltig, dass es zum Bruch zwischen den beiden kam. Lediglich Böhms Sohn Karlheinz schickte einen aufgebrachten Brief nach Bayreuth:
Ansonsten möchte ich mich gegen den Ausdruck »Verhandlungstaktik«, den Sie im Zusammenhang mit meinem Vater zu benutzen belieben, auf das schärfste verwehren. Ich glaube kaum, dass es heute ein Musikinstitut auf der Welt gibt, in dem mein Vater mit »Verhandlungstaktik« seine künstlerischen Wünsche verwirklichen muss. Ihr Brief liess den unersetzlichen und so schmerzlichen Verlust Ihres Herrn Bruders noch einmal wieder in das Bewusstsein rücken.
Nach einem kurzfristigen Austausch per Telegramm im Januar 1972 – Wolfgang Wagner drängte auf eine finale Rückmeldung zum Dirigat des Parsifal, Böhm weigerte sich, den Parsifal ohne ein Angebot für den Tristan zuzusagen – ging man im Streit auseinander.
Obwohl Wieland Wagners Inszenierung des Parsifal, mit dem die Bayreuther Festspiele im Jahr 1951 wiedereröffnet worden waren, erst 1973 zum letzten Mal auf dem Spielplan stand, markiert Böhms letzte Spielzeit im Jahr 1971 somit rückblickend zugleich das Ende der Ära Wieland Wagner bei den Bayreuther Festspielen. Den neuen Tristan im Jahr 1974 sollte schließlich Carlos Kleiber dirigieren.Erst über zwei Jahre später – im September 1974 – ist in der Korrespondenz eine erneute Kontaktaufnahme dokumentiert. Zu Böhms 80. Geburtstag hatte Wolfgang Wagner ihm scheinbar über seine Tochter Eva ein Autograph Richard Wagners zukommen lassen, für das Böhm sich mit einer handschriftlichen Karte bedankte.
Im Jahr 1976 stand Karl Böhm dann zum letzten Mal im Orchestergraben des Bayreuther Festspielhauses – anlässlich des Festakts zum 100-jährigen Jubiläum der Festspiele dirigierte er die »Festwiese« aus dem dritten Aufzug der Meistersinger von Nürnberg.
Paula Schlüter studierte Musikwissenschaft und interkulturelles Musik- und Veranstaltungsmanagement an der Hochschule für Musik Franz Liszt in Weimar, der Friedrich-Schiller-Universität Jena und der Universität Leipzig. Sie ist Alumna der Studienstiftung des Deutschen Volkes und seit 2018 regelmäßig in den Sommermonaten bei den Bayreuther Festspielen als Pressereferentin engagiert. Ihre Dissertation über musikalische Analyse im Kontext der europäischen Nachkriegsavantgarde wird von Prof. Dr. Antje Tumat und Prof. Dr. Nikolaus Urbanek betreut und durch ein Promotionsstipendium der Universität Paderborn gefördert.
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