Die Klassik als Medienunternehmen

Juli 11, 2025
7 mins read
Das »Opern Au-Pair« auf Staatsoper.tv

Ob Gewandhausradio oder Staatsoper.tv – immer mehr Klassik-Institutionen gründen eigene Medien. Kann das gut gehen?

English summary: Classical music institutions are launching their own media platforms, like Gewandhaus Radio and Staatsoper.TV, to reach audiences directly. While some succeed with exclusive content, many face challenges in audience engagement and financial sustainability, signaling a changing media landscape.

Immer mehr Opernhäuser und Orchester erkennen, dass sie die Kampfzonen ihrer Bühnen in die multimediale Welt erweitern müssen. Erst vor wenigen Monaten hat das Gewandhausorchester mit dem Gewandhaus Radio einen eigenen Radiosender gegründet, und die Bayerische Staatsoper setzt zukünftig einen Großteil ihrer Medien-Strategie auf das eigene Staatsoper.TV. Zwei Neugründungen, die sich von den klassischen Medien emanzipieren und Kulturinstitutionen selber als Medien der Zukunft positionieren wollen. Und das mit gutem Grund, denn die publizistische Situation der klassischen Musik ist verheerend.

Die Feuilletons – besonders der regionalen Zeitungen – schrumpfen seit Jahren, und selbst die festen Säulen des »Kulturauftrags« bei den öffentlich-rechtlichen Anstalten bröckeln bedrohlich. Opern oder Konzerte in den Hauptprogrammen sind selten geworden, und wenn sie in ARD oder ZDF ausgestrahlt werden, bedienen sie oft einen vermeintlichen Mainstream, der mit dem, was klassische Musik ausmacht, nur wenig zu tun hat. Selbst in den Nischen von arte und 3sat und in den Sendern der Kulturradios (hier werden die regionalen Anstalten ebenfalls radikal fusioniert) werden die Flächen für Klassik immer enger.

Wenn Orchester zu Medienunternehmen werden

Umso spannender sind die Anstrengungen von Kulturunternehmen, selber zu Medien zu werden. In der Vergangenheit hatten es derartige Projekte allerdings schwer: Die Metropolitan Opera in New York setzte einst mit ihren weltweiten Live-Kino-Übertragungen neue Maßstäbe, hat seit der Pandemie aber die Hälfte des Publikums verloren, wie Intendant Peter Gelb gegenüber BackstageClassical erklärte. Und auch Versuche wie der (kostenpflichtige) Streaming-Service der Wiener Staatsoper blieben bislang eher in sehr kleinen Nischen stecken. Andere private Unternehmungen wie der Streaming-Service Fidelio mussten ihre Ambitionen aufgeben, nachdem die Kooperation mit öffentlich-rechtlichen Sendern wie dem ORF scheiterten, und Plattformen wie das von der EU geförderte Online-Programm Opera Vision sind aufgrund ihrer Beliebigkeit und der oft unverständlichen Auswahl ihrer Programme keine wirklichen medialen Alternativen (zumal es hier auch an redaktioneller Einordnung fehlt).

Es fällt auf, dass von den zahlreichen Streaming-Ideen zur Corona-Zeit nur noch wenig übrig ist. Auch, weil die meisten Häuser gelernt haben: Die eigenen Veranstaltungen einfach nur abzubilden und ins Netz zu übertragen, reicht nicht, um das Publikum zu binden. Inzwischen ist klar: Ein echtes Klassik-Medium braucht neue mediale Formate, die das eigentliche Ereignis nicht nur abbilden, sondern auf ganz unterschiedlichen Ebenen einordnen, kuratieren und erklären. Hinzu kommt, dass Klassik-Hörerinnen und -Hörer inzwischen fast unbegrenzten Zugang zu Musik haben, per Stream innerhalb von Apple- oder Spotify-Abonnements oder auf YouTube. Aber vielleicht sind inzwischen die Zeit, die Technik und das Publikum auch gerade deshalb reif für mehr Klassik in neuen Medien? 

Pionier in Sachen Streaming: die Berliner Philharmoniker (Foto: Berliner Philharmonie, Schindl)

Einer der größten Pioniere auf diesem Gebiet waren die Berliner Philharmoniker mit der Digital Concert Hall. 2008 wurde die Plattform mit sehr großzügiger Förderung der Deutschen Bank gestartet (inzwischen wird sie von der Würth Gruppe und der Internet Initiative Japan unterstützt). Das Konzept ist simpel: Fans des Orchesters finden in der App, auf der Seite und sogar (und das ist ein Gamechanger!) auf den Smart-TV und amazon-Plattformen so ziemlich alles, von historischen Aufnahmen über aktuelle Konzert-Mitschnitte bis zu Interviews und Hintergrundberichten mit Musikerinnen und Musikern des Orchesters.

Die Idee der Verwertungsgesellschaft

Dabei sind die Berliner Philharmoniker durchaus selbstbewusst, verlangen für einen 7-Tage-Zugang 9,90 Euro, für einen Monat 16,90 Euro oder für ein Jahr 169,00 Euro (für BackstageClassical-LeserInnen gibt es derzeit ein vergünstigtes Angebot). Bis heute gilt die Plattform als »Mutter aller Orchester-Streaming-Dienste«, wohl auch deshalb, weil es nur wenige Orchester gibt, die eine derart große Geschichte und Außenwirkung haben, um ausschließlich und exklusiv ihren eigenen Content anzubieten. 

Das tut inzwischen auch das Gewandhausorchester aus Leipzig, allerdings unter ganz anderen Vorzeichen. Das neue Gewandhaus Radio sendet 24 Stunden lang ununterbrochen Musik auf DAB+ und per online-Stream. Doch während die Digital Concert Hall als eine Art mediale Verwertungsgesellschaft des Orchesters antritt (und damit die Umwege von Labels und Streamingdiensten umgeht), scheint das Leipziger Radio-Projekt eher eine sehr kostspielige (und für den Kunden kostenlose) Werbeplattform für das Ensemble zu sein. Das Programm ist sehr ambitioniert und alles andere als Klassik-Radio-Hintergrund-Schonkost. Der Orchester-Sender wird dem eigenen Slogan »kompromisslos klassisch« durchaus gerecht, was aber auch durchaus problematisch werden könnte, wenn es um Reichweite geht. Gibt es da draußen wirklich so viele Menschen, die täglich Hard-Core-Klassik hören wollen – interpretiert von einem einzigen Orchester? 

Andris Nelsons beim Gewandhaus (Foto: Gerber)

Auch der journalistische Aspekt, den das Gewandhaus bei der Gründung des Radios ausgerufen hat, ist allein auf Grund des Eigeninteresses fraglich. Derzeit sind die einzelnen Formate eher schamlose Werbeflächen. So spricht der Gewandhaus-Dramaturg Tobias Niederschlag in einem 10-minütigen Interview über den Vorverkaufsstart für die kommende Saison, und es mutet ein wenig merkwürdig an, wenn ausgerechnet mdr-Mann Claus Fischer vom Gewandhaus Radio als »unser Autor« eingeführt wird und eine einstündige Sendung über die Sommerfestivals in Sachsen moderiert. Es ist wahrscheinlich nur eine Frage der Zeit, wie lange sich die so genannte Stiftung Zukunft Gewandhaus zu Leipzig Projekte gGmbH dieses aufwändige Projekt leisten kann. Zumal gerade bekannt wurde, dass die nächste Sparrunde in Leipzig wohl auch das Gewandhaus empfindlich treffen wird. 

Eigener Fernsehsender für die Oper

Ganz anders geht die Staatsoper München ihre neue, digitale Plattform Staatsoper.TV an. Hier scheint man verstanden zu haben, dass ein neues Medium auch eigene und neue Formate braucht, die sich vom derzeitigen Medien-Mainstream absetzen. Tatsächlich ist die Oper auf manchen Ebenen wesentlich mutiger als alteingesessene öffentlich-rechtliche Medienplattformen. Staatsoper.TV bietet neben historischen Aufführungen im Video-Stream und zahlreichen Audio-Mitschnitten von Konzerten und Opern auch einen eigenen Kinderpodcast an. In Gustl und die Spürnasen löst ein Dackel mit seinen zwei mutigen Gehilfen spannende Opern-Krimis. 

Highlight der neuen Seite ist derzeit eine Mini-Serie (drei Mal 15 Minuten), in der sich die Aktivistin und Moderatorin Avi Jakobs als Opern Au-Pair in den Gängen der Staatsoper verläuft und staunend in alle Bereiche des Hauses schnuppert. Mit ihren laienhaften Fragen gelingt es ihr dabei tatsächlich neue Blickwinkel zu öffnen. Themen wie Diversität und LGBTQ werden unverkrampft vorgestellt, und im Gegensatz zu anderen Opern-Einführungs-Formaten besticht dieses, indem es vollkommen ohne moralischen Zeigefinger daherkommt. Stattdessen setzt das Opern Au-Pair Begeisterung glaubwürdig in Szene. 

Das »Opern Au-Pair« auf Staatsoper.tv

Derzeit ist für Staatsoper.TV lediglich eine kostenlose Anmeldung nötig, in absehbarer Zeit soll aber auch dieser Dienst kostenpflichtig, und damit zu einer Art Verwertungsorganisation der eigenen Arbeit werden. Der Kurs scheint zu stimmen, denn die Oper in München bietet  eine Medien-Plattform, die mehr kann als nur Opernaufführungen abzufilmen.

Es herrscht Pioniergeist

Egal, welches neue Medienformat von Orchestern oder Opernhäusern man sich anschaut, sie alle leben von medialem Pioniergeist und streben eine Emanzipation von der kriselnden Kultur-Medienlandschaft an. Wie gestrig wirkt plötzlich etwa der Insta-Kanal des mdr, auf dem immer noch irgendwie verklemmt und gezwungen in jedem Post eine die der Klassik so gar nicht vorhandene Emanzipation gefeiert wird, wie aufgesetzt der Versuch des NDR, durch Tarik Tesfu einen Klassik-Knigge zu etablieren. Der Glaube an das Genre der klassischen Musik, das vielen etablierten Medien abhanden gekommen ist, scheint bei Orchestern und Opernhäusern plötzlich wieder zu entflammen. Sie können besser, woran öffentlich-rechtliche Sender inzwischen oft scheitern: authentische Begeisterung transportieren und mutig sein. Um so tragischer ist es, dass so viele Sender und Medien ihre eigentliche Kernkompetenz schon lange verlassen haben: den ernsthaften Kulturjournalismus. Der droht durch die Expansion der Eigenwerbungsmedien immer weiter an den Rand gedrängt zu werden. 

Offen ist auch, ob es mittelfristig effizient ist, wenn jede Oper und jedes Orchester eigene Medienkanäle betreibt, für die das Publikum zahlen soll. Denn nicht jedes Haus ist die Berliner Philharmoniker. Der Markt für deren Digital Concert Hall ist der Weltmarkt von Japan bis in die USA. Ob das Interesse an den Produktionen der Staatsopern in Berlin oder München ebenso groß sein wird, darf bezweifelt werden. Aber vielleicht ist das, was wir derzeit beobachten auch nur der Anfang einer neuen Positionierung. Eine Vorstufe für ein vollkommen neues Medien-Netzwerk, das unterschiedliche Angebote verschiedener Orchester und Opernhäuser bündeln wird. 

Die Zukunft steht vor der Tür

Das wäre auch für die Konsumentinnen und Konsumenten attraktiv: Eine internationale Plattform, auf der sich die einzelnen Institutionen kreativ in verschiedenen medialen Formen präsentieren und exklusive Inhalte in ganz unterschiedlichen Formaten produzieren. Dazu müssten allerdings noch die Egoismen der einzelnen Häuser aufgegeben werden. Aber dann könnten die neuen Angebote auch Streamingdienste wie Stage+ von der Deutschen Grammophon links liegen lassen.

Denn moderne Orchester und Opernhäuser brauchen längst keine zwischengeschaltete Institution, die an ihren Marken mitverdienen und ihre Inhalte mitbestimmen. Im Aufnahmemarkt haben die großen Orchester die großen Labels längst hinter sich gelassen. Plattformen wie die Digital Concert Hall, Staatsopern.TV oder das Gewandhaus Radio sind Möglichkeiten, nun auch bestehenden Medien wie das öffentlich-rechtliche Fernsehen hinter sich zu lassen.

Wie öffentlich-rechtliche Orchester auf die Bremse treten

Umso absurder ist es, dass die alten Medien den Klassik-Veranstaltern dennoch Steine in den Weg legen. An dieser Stelle haben wir schon einmal kritisch berichtet, dass die ARD-Anstalten und -Orchester ihre Klassik-Inhalte neuerdings kostenlos auf YouTube zur Verfügung stellen. Dabei verzichten sie sogar auf die ihnen zustehenden Umsätze. Mit anderen Worten: Die öffentlich-rechtlichen Anstalten unterstützen über Umwege einen Privatbetrieb wie YouTube durch ihre Rundfunkgebühren. Und mehr noch: Damit torpedieren sie die Versuche anderer Orchester und Opernhäuser, eigene Streaming-Angebote profitabel zu gestalten. Dass die ARD-Klassik-Angebote auch auf YouTube zu sehen sind, macht es für jedes Orchester schwer, das nicht durch Gebühren finanziert wird, seine eigenen Inhalte im Netz monetär zu verwerten.

Tatsächlich scheinen wir uns derzeit gerade in einer medialen Zeitenwende zu befinden. Orchester wie in Cleveland oder die Berliner Philharmoniker kommen längst ohne eigene Labels aus, und nun zeigen sie und andere Klassik-Veranstalter, dass sie auch dabei sind, die etablierten audiovisuellen Medien hinter sich zu lassen.   

Axel Brüggemann

Axel Brüggemann arbeitet als Autor, Regisseur und Moderator. Er war als Kulturredakteur und Textchef bei der Welt am Sonntag tätig und schrieb danach für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. Heute veröffentlicht er u.a. im Tagesspiegel, im Freitag, der Jüdischen Allgemeinen oder in der Luzerner Zeitung. Er arbeitet für Radiosender wie den Deutschlandfunk, den WDR oder den HR. Seine Fernsehsendungen und Dokumentationen (für ARD, ZDF, arte oder SKY) wurden für den Grimmepreis nominiert und mit dem Bayerischen Fernsehpreis ausgezeichnet. Brüggemann schrieb zahlreiche Bücher u.a. für Bärenreiter, Rowohlt, Beltz & Gelberg oder FAZ Buch.

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