Eine gute Idee bleibt umstritten: In Aix-en-Provence lässt Regisseur Robert Icke Don Giovanni sein älteres Ich töten. Eine Feuilletonrundschau.
English summary: At the Aix-en-Provence Festival, Robert Icke’s Don Giovanni debut is controversial: Don Giovanni kills his older self, the Commendatore. Critics are divided—some call it daring but failed, others praise its textual faithfulness. Vocally, the cast impresses, especially Kožená and Schultz. Simon Rattle’s conducting is praised for its clarity and color, though some miss dramatic momentum.
Die Stimmung beim Festival in Aix-en-Provence ist gedrückt, verstarb Intendant Pierre Audi dieses Jahr doch überraschend. Nun haben seine Festspiele, die er in den letzten Jahren zu einem innovativeren Salzburg entwickelt hat, mit einer Inszenierung von Mozarts Don Giovanni: Der Frauenjäger ist in der neuen Produktion gleichzeitig sein Mordopfer, der Komtur, und macht auch von sehr jungen Mädchen nicht Halt.
Marie-Aude Roux schreibt in Le Monde über die Inszenierung »Ein Wagnis, das sich Pierre Audi, der am 3. Mai plötzlich verstorben ist, vorgenommen hatte, indem er dem britischen Theaterregisseur Robert Icke, einem in seinem Land als Genie gefeierten Vierzigjährigen, sein Operndebüt anvertraute (…). Gewagt, aber gescheitert.« Und Roux führt aus: »Wer ist gestorben? Niemand. Oder vielmehr beide, wie während der Ouvertüre zu sehen ist: ein alter Komtur im Anzug, der Mozart auf einem alten Plattenspieler hört, Opfer eines Herzinfarkts, dessen Sterben das Leben des Don Giovanni Revue passieren lässt, der er einmal war.« Auch Manuel Brug von der Welt ist eher gelangweilt: »Eine während der ganzen letzten Nacht sterbenden Verführer gab es schon in Claus Guths von Salzburg weit gereister Produktion. Ebenso stellte schon Martin Kušej in seiner weitgereisten Version Frauen permanent als Objekte, Schaufensterpuppen oder Miss-Wahl-Statistinnen aus.« Anja-Rosa Thöming in der FAZ nimmt die Regie indes in Schutz: »Der britische Theaterregisseur Robert Icke nimmt vieles im Text wörtlich und ignoriert lieb gewordene Traditionen der „Opernklamotte“. Dafür wurde er von einem Teil des Publikums ausgebuht, der keine Lust hatte, mit überraschenden Einsichten mitzugehen. Die ewig dämliche Frage Leporellos etwa, der nach dem Duell Don Giovanni fragt: ‚Seid Ihr tot oder der Alte?‘, wurde hier ganz ernst genommen. Don Giovanni kauert schockiert neben der Leiche des erstochenen Komturs auf der Erde, und es ist nicht klar, wie viel Leben noch in ihm ist.«
Fest der Stimmen
Was die Stimmen betrifft heißt es in der Welt: »Andrè Schuen singt den am Ende abgefuckten, Blut spuckenden Don Giovanni elegant kraftvoll mit immer noch schönen Kastanienfarben, aber auch mit aufwühlend dunklen Vokalschattierungen.« Charles Arden ergänzt bei Olyrix: »Golda Schultz (Donna Anna) beeindruckt durch die Kraft und Brillanz ihres Timbres, während Magdalena Kožená (Donna Elvira) die ganze Komplexität ihrer Figur mit großer dramatischer Intensität ausdrückt.« Und Joachim Lange findet in der NMZ: »Bei den Frauen gewinnt Magdalena Kožená zunehmend die vokale Verve einer gereiften verlassenen Geliebten. Golda Schultz ist als traumatisierte Donna Anna hochpräsent, Madison Nonoa fällt mit ihrer bezaubernden Zartheit als Zerlina etwas aus dem Rahmen dieses Powerteams.«
Le Monde feiert vor allen Dingen den Dirigenten Simon Rattle für seine »leuchtende Leitung«, Brug fasst zusammen: »Einzelne Arien sind zwar wunderbar ausziseliert, aber ein wirklich dramatischer Klangfluss mag sich erst in Richtung Höllenfahrt einstellen.“ Die FAZ findet: »Dirigent Simon Rattle arbeitet mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks wunderbare Klangfarben heraus und gibt der opera buffa, die das Wunder „Don Giovanni“ bei allem Drama ist, die nötige Leichtigkeit.« Charles Arden subsumiert: »Sir Simon Rattle dirigiert das Orchester mit gebändigter Energie, bevorzugt Klarheit der Linien und rhythmische Präzision, aber einige Tempowahlen bremsen die dramatische Spannung.«

