Einige Gedanken über bildungsbürgerliche Arroganz im Feuilleton, die Angst vor Farbe und eine Verteidigung der populären Klassik-Übertragung. Eine Replik von Thomas Schmidt-Ott.
Dieses ist eine Replik auf Axel Brüggemanns kleinen Wutanfall gegen die ZDF-Übertragung der Neuschwanstein-Konzerte. Nachzulesen hier.
English summary: Thomas Schmidt-Ott defends pop-infused classical events, rejecting elitist divides between “serious” and “popular” music. He celebrates musical diversity, arguing that true culture embraces both Beethoven and Disney.
Ich gebe zu: Ich habe eine Schwäche für Kitsch. Für Helene Fischer, für Florian Silbereisen und für Andrés ganz großes Schmachten im Dreivierteltakt. Ich habe in meinem früheren Leben für Schiffe Events kreiert, – ich war jung und brauchte das Geld -, auf denen Roberto Blanco vor einem begeisterten Partypublikum »Ein bisschen Spaß muss sein« in die Karibik schmetterte und kurz drauf die Wiener Philharmoniker mit Rudolf Buchbinder Beethoven zelebrierten. Und ich habe immer gedacht: Genau! Das ist Musik! Und weißt du was? Ich fühlte mich dabei nicht einmal wie im Bordell.
Ich meine das ernst, denn, lieber Axel, was du da in deiner Philippika »Kunterbunte Klassik-Prostitution« absonderst, ist weniger ein Plädoyer für Qualität und Anspruch als ein Paradebeispiel für das, was ich als brennender Klassik-Fan immer wieder als bildungsbürgerlichen Reflex erlebe: Sobald irgendwo Lichtinstallationen, festliches Smoking-Publikum und gar ein Fernsehmoderator mit aufgedreht-rollendem R auftauchen, wird Kulturverrat gewittert. Adorno und Horkheimer hätten es dir nicht kritischer in den Mund legen können: »Amusement ist die Verlängerung der Arbeit unterm Spätkapitalismus.«
Mit Udo Zimmermann teilte ich mir die Musica Viva beim BR und habe damit wohl die zeitgenössische Klassikkonzertreihe der Nation schlechthin betreut – mit Begeisterung. Mit Kent Nagano, Dieter Rexroth und Pierre Boulez saß ich in der Jury zum Boulez Preis und habe mit höchstem Respekt über junge Komponist*innen diskutiert. Wolfgang Rihm habe ich als DSO-Orchesterdirektor Kompositionsaufträge gegeben, Kaja Saariahu in Salzburg uraufgeführt – und dann als Programmchef von TUI Cruises mit dem Wacken Open Air die Full Metal Cruise veranstaltet: mit, Achtung! Die kennst Du alle nicht: Saltatio Mortis, Powerwolf, HammerFall, Lord of the Lost, Beyond the Black – alles Bands, die unsere Schiffe zum Beben brachten. Wenn also jemand das »Recht« hätte, zwischen »E«, gemäß GEMA: Ernste Musik, und »U«, Unterhaltung, zu unterscheiden – und sich darüber aufzuregen, wenn »E« zu »U« wird oder »U« beansprucht, »E« zu sein – dann vielleicht ich. Und genau das tue ich nicht.
Musikalische Leichenschau
Denn die Wahrheit ist: »E« und »U« sind out. Diese Unterscheidung der 1920er ist tot. Sie war’s immer schon – auch schon vor der Frankfurter Schule. Heute riecht sie nach Mottenkugeln und verschlissenen Cordjacketts, nach lauwarmem Filterkaffee in muffigen Kulturreferaten und nach verstaubten Partituren, die keiner mehr aufschlägt. Nichts illustriert diese Leichenschau schöner als dein Text, Axel. Du echauffierst dich allen Ernstes darüber, dass das ZDF im Hauptprogramm ein Klassik-Event zeigt, das das Zielpublikum dieses ZDF, immerhin laut AGF/GfK solide ca. 0.5 Mio. Zuschauer, tatsächlich sehen will? Dass da – Gott bewahre – Farben im Spiel sind? Dass Licht den Himmel erleuchtet? Dass nicht die grandiose Asmik Grigorian in Verdis Macbeth von den diesjährigen Salzburger Festspielen übertragen wurde, sondern: Bizet und Disney sowie der Fluch der Karibik? Das ist dir zu viel – zu bunt, zu populär, zu lebendig… Really?
Hand aufs Herz: Wann hast du das letzte Mal jemanden im ICE »Ludwig van Beethoven« (Bonn–Berlin / Köln–Leipzig) über „Das Paradies und die Peri« diskutieren hören? Eben! Wenn die Neuschwanstein-Gala mit Garanca, Vogt, Villazón und Hauser auch nur eine*n Zuschauer*in dazu bringt, demnächst z. B. in Trier in die Oper zu gehen, dann hat sie mehr für die „Kultur“ getan als zehn deiner feuilletonistischen Klagelieder über das Ende der Zivilisation. Und wenn nicht – auch egal. Denn genau das war, Gottlob, hoffentlich nie ihr Anspruch. Programme wie dieses richten sich nicht an den Klassik-Bildungsbürger mit Abo für die anspruchsvollsten Reihen. Sie zielen auf ein Publikum, das um 23:15 Uhr mit schönen Bildern und stimmungsvoller Musik einfach einen angenehmen Ausklang des Tages sucht – Wohlfühlen inklusive.
Musikalische Demokratie
Du sprichst von »musikalischer Verblödung«. Ich nenne es musikalische Demokratie. Es gibt Menschen, die lieben Mahler, und andere, die lieben Metallica. Einige lieben sogar beides und gehen auch zu Andrea Berg. Das ist keine Verflachung, das ist Vielfalt. Das Neuschwanstein-Konzert war Ausdruck dieser Vielfalt. Klassik à la Rieux. Bisschen wie der Schlagerboom. Rolando als Florian. So what? In der Klassik tut das nur denen weh, die glauben, sie allein hätten die ästhetische Generalvollmacht.
Lieber Axel, ich weiß, du gehörst nicht zu den ganz verbohrten Hütern des Abendlandes. Dass du ARTE lobst, verstehe ich. Tue ich auch. Aber wir dürfen uns nicht darüber hinwegtäuschen: Dort darf und soll man mit wohligem Gefühl den Glauben pflegen, Kultur beginne erst jenseits der Quote. Das ZDF hingegen ist ein öffentlich-rechtlicher Sender. Es soll – Staatsvertrag hin oder her – nicht nur die Eingeweihten und -gebildeten bedienen, sondern auch die, die noch, oder noch nicht, wissen, dass Klassik mehr ist als Wiener Walzer. Und wenn das heißt, Neuschwanstein bunt zu beleuchten – bitte, dann lass es doch leuchten!
Musik ist kein Museum. Sie ist ein Marktplatz. Wer glaubt, man müsse Klassik vor den Massen und der seichten Inszenierung schützen, der hat sie längst verloren. Bevor du also wieder die »musikalische Verblödung« im ZDF-Kitsch bejammerst, frag dich doch mal ehrlich, ob du nicht vielleicht ein bisschen taub geworden bist, nicht für die Musik, sondern für das Leben da draußen. Ich jedenfalls freue mich aufs nächste Mal, wenn das ZDF wieder »Klassik« in Anführungszeichen sendet. Vielleicht diesmal mit Rrrrrammstein (oh Gott, habe ich das jetzt wirklich geschrieben?), Rrrrrachmaninow und einer Lasershow. Ich bin dabei. Und zwar mit voller Lautstärke. Und beim Opus am 12.10. auch – zusammen mit all den Häppchenjägern, die jedes Jahr kommen, sich sattsehen, sattessen und sich hinterher echauffieren.
Dein
Thomas Schmidt-Ott
(Hochkultureller Orchesterdirektor, niedrigschwelliger Programmchef, Boulez-Juror und bekennender Freund des gepflegten Krawalls.)