Mauerfall, Moral und die Musik 

September 29, 2025
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Willkommen in der neuen Klassik-Woche,

das, was man in Pausengesprächen hinter vorgehaltenen Händen so hört, wird immer erschreckender: In Berlin ist weiterhin vollkommen unklar, wie die Sparvorgaben des Senats in der Kultur eingehalten werden können. Und auch in Wien wird es eng: Es gibt Opernhäuser wie das Theater an der Wien, die noch nicht einmal das Budget für die kommende Saison garantiert bekommen haben. Über der Stadt kreist der Sparhammer, und Kulturstadträtin Veronoica Kaup-Hasler rückt (noch) nicht mit konkreten Zahlen raus. Es herrscht Unsicherheit – und das ist, was die Häuser, die langfristig planen müssen, überhaupt nicht gebrauchen können. Außerdem geht es heute mit erhobenem Zeigefinger um eine spektakuläre Musikgeschichte aus Dresden, um politische Eskalationen in Nahost und um eine Giga-Party in Hamburg.  

Der moralische Zeigefinger ist nicht zum Popeln da! 

So stellt sich Perplexity einen Streit zwischen Bertolt Brecht, Friedrich Schiller und Donald Trump über die Moral vor.

Die Welt dreht gerade ziemlich aus den Fugen, und es fällt schwer, die Dinge zu ordnen. Selbst an jenen Orten, die dafür eigentlich gemacht sind, etwa an unseren Theatern. Tobias Kratzer stellte im BackstageClassical-Podcast vor einiger Zeit die Frage, ob der Wahnsinn der Bühne eine bessere Möglichkeit sei, den Wahnsinn eines Politikers wie Donald Trump zu fassen, als eine Zeitungskolumne. Regisseur Valentin Schwarz ist der Auffassung, dass sein Theater in Weimar sich innerhalb der demokratischen Ordnung für Freiheit und Demokratie positionieren müsse, und Semperopern-Intendantin Nora Schmid erklärte letzte Woche, dass sie unter keinen Umständen moralisches Theater machen wolle – sie hält Oper eher für eine »Schule der Komplexität«. Ich habe mir in einem längeren Aufsatz Gedanken über all das gemacht. Sind die »moralische Anstalt« von Schiller und Brechts »episches Theater« noch zeitgemäß? Mein Credo: Bitte, liebe Theater, wagt wieder mehr Moral! Wir sollten aufhören, mit dem moralischen Zeigefinger in der Nase zu bohren.  

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Zwischen Mauerfall und Putins Kulturpropaganda

Mehr als vier Jahre lang habe ich gemeinsam mit meiner Kollegin Jeanny Wasielewski an einer sechsteiligen Podcast-Serie für ARD-Kultur gearbeitet, die morgen endlich erscheint! Klang der Macht – Dresdens Freiheitskampf & Putins Kulturagenda erzählt auf zwei historischen Ebenen: Auf der einen Seite geht es um den Mauerfall 1989 in Dresden, wo Putin als KGB-Agent operierte und Christine Mielitz ihren provokanten Fidelio inszenierte. Auf der anderen Seite geht es um den Semperopernball 2009, als Hans-Joachim Frey und Stanislaw Tillich Vladimir Putin 20 Jahre später den Georgsorden verliehen. Mit dabei der Cellist Sergeij Roldugin. In sechs Episoden fragen Jeanny und ich, wie Kultur zur Bühne weltpolitischer Entwicklungen werden kann und verfolgen die Geschehnisse bis in unsere Gegenwart. Dafür haben wir uns unter anderen mit SED-Mann Hans Modrow, mit dem Kopf der damaligen Bürgerbewegung, »Kaplan« Frank Richter, und Dresdens ehemaligen Bürgermeister Wolfgang Berghofer unterhalten, mit Christine Mielitz und Beteiligten der Fidelio-Produktion, wir haben über 10.000 Seiten Stasi-Unterlagen gelesen, um zu sehen, wie die Semperoper damals ausspioniert wurde. Herausgekommen ist ein historischer Krimi, der bis in unsere Gegenwart führt. Zu hören ab Dienstag bei ARD Kultur und bei allen gängigen Podcastanbietern – hier reden Jeanny und ich schon einmal über unsere Recherche. 

Michael Barenboims Nahost-Eskalation

Ich glaube Michael Barenboim, dass er Frieden in Nahost will. Aber warum klingen die Interviews, die er gibt oft eher spaltend als versöhnend? In einem großen Rundumschlag in der taz holt er nun gegen Lahav Shani aus und legitimiert dessen Ausladung in Gent. Barenboim vergleicht dabei den Fall Valery Gergiev leichtfertig mit dem Shanis. Eine sehr komplexe Situation wird hier durch Simplifizierung nur vermeintlich entschärft. Herrscht nicht ein breiter Konsenz, dass die Aktionen der Hamas menschenverachtend sind und Israels Krieg in Gaza unnötiges Leid in der Zivilbevölkerung schafft? Ist das nicht der eigentliche Ausgangspunkt, von dem aus weitere Schritte der Verständigung gegangen werden könntenß Doch Barenboim scheint es schon seit einiger Zeit darum zu gehen, weiter zu eskalieren statt zu versöhnen.

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Es geht wieder los: Takt & taktlos

Wir sind zurück aus der Sommerpause: In der neuen Folge von Takt&taktlos sprechen Klassik-Expertin (und Kite-Lehrerin) Hannah Schmidt und ich (der im Sommer einen Kite-Kurs gemacht hat!) wieder über die aktuellen Themen der Klassik. In der neuesten Folge geht es unter anderem um Alternativen zu Spotify und um die Frage: Was ist eigentlich modern? Und natürlich um viele weitere Themen der Musik. Am besten gleich kostenlos abonnieren (hier bei apple Podcast oder bei Spotify). Und, um keine Nachricht aus der Welt der Klassik zu verpassen, folgen Sie uns gern auf Instagram, Facebook oder BlueSky.

Veni, Vidi, Venezi?

Wenn die Politik künstlerische Posten nach Parteibuch besetzt, kann das für allerhand Krach sorgen. Es ist beruhigend, dass es derzeit lauten Protest am La Fenice in Venedig gibt. Giorgia Melonis Lieblingsdirigentin, Beatrice Venezi, wurde hier als neue Musikdirektorin eingesetzt. Seither tobt das Haus. »Es ist inakzeptabel, dass eine kulturelle Institution von solcher Bedeutung nach politischen und kommunikativen Logiken geführt wird, die nichts mit dem wirklichen Leben des Theaters zu tun haben«, heißt es in einem Protestbrief der Gewerkschaft RSU. Intendanz und Politik wollen beschwichtigen – aber die Stimmung am Haus kocht. Ob Venezi sich trotzdem durchsetzen wird? Zweifelhaft. 

»Der Plan ist das erste Opfer der Schlacht«

So sagt Regisseur und Label-Gründer Eric Fraad im BackstageClassical-Podcast. Sein Musiklabel Heresy will die Kampfzone der Musik ausweiten: »Ich wollte etwas Subversives innerhalb der konservativen Klassikwelt auf die Beine stellen. Eine Idee, die im Laufe der Zeit bereit ist, den eigenen Plan über den Haufen zu werfen.« Das Label versteht sich als Fundgrube neuer Ideen und deckt dabei ein breites Spektrum ab. Ein Schwerpunkt ist die irische Musiktraditionen (wie die Wexford Carols) – ein Bogen von Alter Musik bis zu zeitgenössischen Komponisten wie Philip Glass. Musik von Bach, so Fraad, könne die Polykrise unserer Welt vielleicht heilen: Im Video Partita geht es um zwei Magier, die in einem spektakulären irischen Herrenhaus in einer 24-stündigen Zeremonie, durch besondere Darbietungen klassischer Musik, die Welt heilen wollen.

Personalien der Woche

Den künstlerischen Zustand der Wiener Philharmoniker haben wir ja ausführlich im Text »Altes Gold« besprochen – spannend, wie viele Reaktionen es da gab! Nachdem bereits FAZ-Mann Jan Brachmann Kritik am Orchester aus Wien übte, meldete sich nun auch Kollege Wolfram Goertz zu Wort und konstatierte in einem lesenswerten Text: »So darf man wohl sagen, dass die Arroganz der Wiener Philharmoniker nicht jederzeit durch Qualität legitimiert scheint.« +++ Kein GMD für die Deutsche Oper in Berlin: Michele Spotti, Maxime Pascal und Titus Engel sollen die Deutsche Oper Berlin gemeinsam in die musikalische Zukunft führen. Ob der designierte Intendant Aviel Cahn sich damit einen Gefallen tut? Oder bereiter er eh nur die Fusion von Deutscher Oper und Staatsoper unter einer Intendanz, mit einem GMD vor? +++ Die Opernwelt hat die OpernkünstlerInnen des Jahres gewählt, unter ihnen Tobias Kratzer, Kirill Petrenko und Eleonora Buratto – Opernhaus des Jahres ist Zürich. Alle Preisträger hier. +++ Letzte Woche hatten wir den Fall François-Xavier Roth ausführlich kommentiert und den Nachtrag einer musikalischen Kritik von Georg Rudiger versprochen – hier ist sie. +++ Elias Grandi wird neuer Chefdirigent in Prag und tritt damit die Nachfolge von Petr Popelka an.

Und wo bleibt das Positive, Herr Brüggemann?

HouswarmingConcert mit Tobias Kratzer und Ina Müller in Hamburg (Foto: BC)

Ja, wo zum Teufel bleibt es denn? Vielleicht ja hier! Ich war am Wochenende in Hamburg: Housewarming und Opernpremiere zum Beginn der Ära Tobias Kratzer / Omer Meir Wellber. Und, was soll ich sagen: Ich glaube Hamburg könnte ein spannendes Experimentierfeld sein, wie die Oper unserer Zeit aussehen – und vor allen Dingen – Spaß machen könnte. Lesen Sie den Bericht zur Eröffnungs-Orgie und die Kritik zum Paradies und die Peri hier.   

In diesem Sinne: Halten Sie die Ohren steif

Ihr

Axel Brüggemann

Axel Brüggemann

Axel Brüggemann arbeitet als Autor, Regisseur und Moderator. Er war als Kulturredakteur und Textchef bei der Welt am Sonntag tätig und schrieb danach für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. Heute veröffentlicht er u.a. im Tagesspiegel, im Freitag, der Jüdischen Allgemeinen oder in der Luzerner Zeitung. Er arbeitet für Radiosender wie den Deutschlandfunk, den WDR oder den HR. Seine Fernsehsendungen und Dokumentationen (für ARD, ZDF, arte oder SKY) wurden für den Grimmepreis nominiert und mit dem Bayerischen Fernsehpreis ausgezeichnet. Brüggemann schrieb zahlreiche Bücher u.a. für Bärenreiter, Rowohlt, Beltz & Gelberg oder FAZ Buch.

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