
Willkommen in der neuen Klassik-Woche,
heute mit Reaktionen unseres Kulturstaatsministers, einer Frage nach der Moral Otellos, flackernden Projektionen und einer Ode an das Akkordeon.
Weimers Wahnsinn

Wie lange hält der Kanzler noch an seinen Krisen-Kulturchef fest? (Foto: BKM, Henschelmann)
Vor ziemlich genau einem Monat hatte das Büro von Wolfram Weimer mir geschrieben –nach einem kritischen Text über den Kulturstaatsminister. Sie erinnern sich: Ich hätte wohl nur einen Blick »von der Seitenlinie« hieß es damals, und ob ich nicht ein Interview mit Weimer wolle – allerdings nicht persönlich, sondern lediglich als Fragenkatalog für sein Büro. Ich fand das schon damals eine merkwürdige Art, mit Kritik umzugehen. Als Jan Böhmermann für sein ZDF Magazin Royal nun bei Weimer anfragte, ob die frühen Gedichte des Kulturpolitikers echt seien, antwortete ihm offenbar auch Weimers Rechstanwalt Christian Schertz. Zunächst soll Weimers Büro die Authentizität noch bestätigt haben, dann hieß es allerdings: »Nach einigen nun veröffentlichten Gedichten im Internet muss ich Ihnen mitteilen, dass DOCH große Zweifel bestehen, dass diese Gedichte aus der Feder von Herrn Weimer sind«. Was denn jetzt?!? Schließlich soll Weimer dem Fernsehmann auch noch persönlich geschrieben haben: »Lieber Herr Böhmermann, Vorsicht bei den angeblichen Gedichten von mir. Das ist nicht koscher. Anwalt Schertz geht dagegen vor, bitte nicht verwenden. Danke. WW«. Will da jemand die Berichterstattung beeinflussen? Ein Politiker »für Kultur und Medien« mit einem derartigem Medienverständnis ist nur schwer haltbar, und seine Presseabteilung steht inzwischen irgendwie selber ziemlich außerhalb der Seitenlinie.

Heikle Frage der Moral
Die Tat liegt sieben Jahre zurück: 2017 schlug ein Tenor eine Frau in einem Hotelzimmer brutal zusammen – und wurde dafür verurteilt. Nun steht der gleiche Sänger an der Stuttgarter Oper ausgerechnet als Verdis Otello (also in einer Rolle, in der er eine Frau brutal ermordet) auf der Bühne. Die Journalistin Elena Wolf hat sich diesen Fall einmal genau angeschaut – bemüht um vielschichtige Blickwinkel und mit der Möglichkeit, alle Beteiligten zu Wort kommen zu lassen. Ich finde ihren Text eine spannende Suche nach Schuld und Sühne, Moral und Anstand – vor allen Dingen aber ein Gedankenspiel darüber, wie offen Theater und Intendanten mit derartigen Fällen umgehen sollten, um ihr Ensemble zu schützen. Lesen Sie Wolfs ganzen Artikel hier.
Personalien der Woche I
Sechs Prozent Kultureinsparungen in Stuttgart: Dagegen gehen Künstlerinnen, Künstler und ihre Institutionen jetzt auf die Barrikaden. Unter anderem die Oper Stuttgartzeichnet verantwortlich für eine Petition, die hier nachzulesen und zu unterschreiben ist. Übrigens die Renovierungskosten der Oper Stuttgart werden auf über eine Milliarde geschätzt. +++ Kritik am Hamburger Opernhaus: In einer Petition fordern Wissenschaftler eine erneute Prüfung des Neubaus der Hamburger Oper, der von Mäzen Klaus-Michael Kühne unterstützt werden soll. Statt zunächst das »Ob« eines Neubaus zu klären, werde vor allem das »Wie« des Gewinnerentwurfs des Büros Bjarke Ingels Group diskutiert, heißt es in dem Papier. Der Stiftungsbau dürfe die Stadt nicht von einer ordnungsgemäßen Bedarfs- und Machbarkeitsprüfung unter Beteiligung von Zivilgesellschaft und Wissenschaft entbinden (mehr hier). +++ Die Witwe tobt, der Bürgermeister entschuldigt sich: Eine Skulptur von Luciano Pavarotti mitten auf dem Eislaufring in Pesaro sorgt für Zoff. Ich bin sicher: Dem Tenor hätte es gefallen, unter Leuten zu stehen.

Was wir uns zu Weihnachten wünschen
Seit anderthalb Jahren bringt BackstageClassical Ihnen fast täglich Nachrichten aus der Welt der klassischen Musik. Wir haben hinter den Kulissen recherchiert, Missstände aufgedeckt, ungehörte Positionen zu Wort kommen lassen und Debatten ausgefochten. Über 10 Autorinnen und Autoren suchen für Sie regelmäßig nach neuen Themen und spannenden Aspekten der klassischen Musik: in Artikeln, Essays, Kommentaren, Podcasts oder Videos. Unsere Seite ist kostenlos für alle und will die wichtigen Diskurse über die Zukunft der Musik spannend und journalistisch unabhängig präsentieren. Wir finanzieren uns zum Teil durch Werbung, aber auch durch Ihre Spenden. Wir würden uns sehr über ein kleines Weihnachtsgeschenk freuen: Übernehmen Sie die Kosten eines Textes für das kommende Jahr, für einen Podcast oder eine Kolumne – spenden Sie einmalig, oder unterstützen Sie uns regelmäßig. Sie helfen uns auch, wenn Sie bei uns im Shop Ihre Weihnachtsgeschenke kaufen, etwa eine Trinkflasche oder ein Sweatshirt mit der Aufschrift »Wahn, Wahn, überall Wahn!«. So oder so – vielen Dank für Ihre Treue und eine besinnliche Vorweihnachtszeit!

Zu abgehoben?
Nachdem ich letzte Woche gefragt habe, ob wir es in der Klassik nicht mit unserem guten Willen nach politischer Korrektheit übertrieben haben, fragt diese Woche unser Kolumnist Thomas Schmidt-Ott, ob nicht auch die Neue Musik ein wenig populärer sein müsste. Anlass ist die Kritik von Nick Pfefferkorn, dem Leiter des Verlages Beitkopf & Härtel, am Zustand der zeitgenössischen Kompositionen. Schmidt-Otts Credo: »Neue Musik täte gut daran, nicht am Publikum vorbeizukomponieren. (…) Die Kaiserinnen und Kaiser der zeitgenössischen Musik müssen nicht nackt sein. Sie sollten sich – fremde Planeten hin oder her – trauen, etwas anzuziehen, das im Konzert gern gesehen, gern gehört wird.«
Flackern in Kassel
Dieses Mal sind es flackernde Projektionen im neuen Kassler Interim, die für Irritationen zwischen der Intendanz von Florian Lutz und seinem Orchester sorgen. Die Interessenvertretung Unisono will intervenieren, Lutz lässt derweil eine epische Medienmitteilung verschicken, verweist auf Arbeitsmedizin und Betriebsärzte und sucht trotzdem »gemeinsame Lösungen«. Kann es sein, dass das Problem am Haus inzwischen toxisch ist, frage ich in meinem Brief an den Intendanten.
Briefe von Brüggi…
Jeden Morgen von Dienstag bis Freitag um 6:00 veröffentlicht BackstageClassical Briefe von Brüggi. Diese Woche gingen sie an:
- Thilo Mischke gegen die Verflachung der Kunst.
- Elisabeth Leonskaja wegen ihres Auftritts in Russland.
- Florian Lutz wegen neuer Querelen am Theater Kassel.
- Das Musikhaus Doblinger, dem das Ende droht.
Kollabiert die musikalische Bildung?
Nach Berechnungen der neuen »MiKADO«-Studie werden bis 2035 rund 14.700 Lehrkräfte an öffentlichen Musikschulen in den Ruhestand gehen, während nach heutigem Stand lediglich etwa 4.000 Absolventinnen und Absolventen musikpädagogischer Studiengänge nachrücken. Damit könnten in etwa zehn Jahren rund drei Viertel der frei werdenden Stellen unbesetzt bleiben, was bedeutet, dass mindestens 500.000 Kinder und Jugendliche keinen Zugang mehr zu qualifiziertem Musikschulunterricht hätten. Alle Zahlen hier.
Personalien der Woche II
Der demokratische US-Senator Sheldon Whitehouse hat Ermittlungen wegen mutmaßlicher Verfehlungen in der Leitung des Kennedy Centers in Washington eingeleitet. Die Leitung des traditionsreichen Kulturhauses soll unter Präsident Richard Grenell politischen Verbündeten Vergünstigungen bei der Miete von Veranstaltungsräumen gewährt und zehntausende Dollar für Luxusreisen, Essen und Unterkünfte ausgegeben haben. +++ Elisabeth Leonskaja ist aus alter Freundschaft zu Yuri Bashmet in Moskau aufgetreten, ein Fehler, wie ich finde. +++ Das traditionsreiche Musikhaus Doblinger in Wien könnte zum Umzug gezwungen werden. Inzwischen setzt sich eine Petition für den Verbleib des Hauses am alten Standort in der Stadtmitte ein.

Und wo bleibt das Positive, Herr Brüggemann?
Ich finde es – vollkommen ohne Ironie – super, dass das Akkordeon zum Instrument des Jahres gewählt wurde. Mein Nachbar Bernhard war ein Meister des Schifferklaviers: Auf jeder Feier hat er aufgespielt und selbst bei Auftritten im Altersheim dafür gesorgt, dass die Jugend auch im Alter zurückkehren kann. Vor vier Jahren hat meine Schwiegermutter mir tatsächlich ein altes Akkordeon zu Weihnachten geschenkt – ich habe es bislang sträflich vernachlässigt, aber das Feierjahr soll mir Ansporn sein, es noch Mal zu versuchen! Eine gewichtige Nebenrolle (so viel Spoiler darf sein) wird das Instrument auch bei unserer neuen Lesart von Peter und der Wolf auf St Pauli spielen, wenn wir Werner »Mucki« Pinzners Psyche im März gemeinsam mit Omer Meir Wellber im Hamburger Tivoli Theater untersuchen.
In diesem Sinne: Halten Sie die Ohren steif
Ihr
Axel Brüggemann
