Kassel feiert sich und sein opulente neue Ersatzspielstätte. Die Eröffnungspremiere »Aida« geriet allerdings zu einem unsortierten Wirrwarr, wie Johannes Mundry berichtet.
English summary: Kassel celebrates its lavish temporary opera house “Das Interim,” built in just sixteen months for €21 million. The premiere of Verdi’s Aida, staged as a cruise on the ship AIDA, turned into chaotic overload. Director Florian Lutz mixed politics, celebrities, and AI videos into a confusing spectacle that buried Verdi’s message, though singers and orchestra earned deserved applause.
Kassel hat ein neues Opernhaus – auf Zeit. Da das angestammte Gebäude am Friedrichsplatz für sechs Jahre oder länger renoviert werden muss, haben Stadt und Land Hessen in der Südstadt, unweit des Stadions auf einem ehemaligen Militärgelände einen Neubau errichtet. Nur sechzehn Monate hat das gedauert, Hut ab! »Das Interim« soll man ihn nennen. Am 31. Oktober wurde es mit großem Pomp und berechtigtem Schulterklopfen allerseits eröffnet. Für die Stadt an der Fulda war dies ein Premiumereignis. 21 Millionen hat das Interim gekostet, 850 Besucher finden Platz, und für die Theatermacher bietet es vielfältige Umbaumöglichkeiten. Die Akustik ist gewöhnungsbedürftig. Zum Glück können sich gesunde Ohren adaptieren. Die Technik funktionierte, auch die Haupttribüne drehte sich geräuschlos mal mehr oder weniger sinnvoll und konnte sogar starken Seegang imitieren.
Die Aida auf der AIDA
Im Inneren des Kubus mit seinem gewaltigen Volumen kann man sich wie in einem Hangar fühlen. Oder auf einem Kreuzfahrschiff. Womit wir bei Aida wären, Verdis Oper, mit der die neue Spielstätte eröffnet wurde. Alles auf einer AIDA spielen zu lassen, einem der Riesenpötte für All-inclusive-Reisen ohne Kontaktrisiko zum Fremden, war die recht schlichte Idee des Regieteams unter Leitung von Hausherr Florian Lutz. Dort sitzen alle im selben Boot: Publikum, die Ägypter und Äthiopier, die Chöre der Lustreisenden. Das Tableau (Bühne: Sebastian Hannak, Mechthild Feuerstein) ist gleichwohl spektakulär. Die Spielfläche ist riesig, die Galerien, von der die Zimmer abgehen, schauen authentisch aus, ebenso das ganze Treiben auf dem Deck.

Wohin nun geht die Reise, ist diese Schifffahrt wirklich lustig?
Wie auf den Bildschirmen zu sehen, fährt das Schiff von Deutschland über Gibraltar zum östlichen Mittelmeer, dann durch den Suezkanal zum Horn von Afrika (ohne in Ägypten anzulegen), wo es (Video!) von Piraten überfallen wird, lässt Ägypten auf dem Rückweg diesmal links liegen, um über Istanbul ins Schwarze Meer Richtung Ukraine einzubiegen. Man konnte es sich denken: Dort ist endgültig Schluss mit lustig. Krieg!
Im Programmhefttext des Dramaturgen Kornelius Paede klingt alles noch ganz stringent. Man wolle Verdis Friedensbotschaft aufgreifen, die Oper in den Kontext der Entstehungszeit von 1870 positionieren. Ausgangspunkt sei Fellinis Film E la nave va. Auch wenn man das vorher gelesen hat, ist davon auf der Spielfläche nichts mehr zu erkennen. Offenbar sprudelten die Ideen bei der Konzeption üppig, und alles ging so demokratisch zu, dass man sich von keiner trennen konnte.
Weltreise als Krisentourismus
Eine kleine Auswahl. An Bord der Aida erkennen wir Wolodymyr Selenskij als Radamès, Bundespräsident Steinmeier als den König Ägyptens (Ian Sidden), die Priesterin (Daniela Vega) als Ursula von der Leyen, die einem Nebenjob als Animateurin nachgeht. Damit nicht genug: Oberpriester Ramfis (Sebastian Pilgrim) mutiert am Ende zu Donald Trump, der wiederum in einer Imitation der legendären Szene im Oval Office Radamès/Selenskij zum Tode verurteilt, weil er keinen Anzug trägt. Aida ist anfangs eine einfache Kellnerin, zieht sich aber heimlich das schöne rote Kleid von früher an und trauert (mit Textänderung) dem Verlust von Bühnenengagements nach. Später lernen wir, dass sie Anna Netrebko ist, die mangels Verpflichtungen als Primadonna nun auf der AIDA arbeiten muss. Amonasro, ihr Vater (Filippo Betoschi), den man eben noch bedauern musste, mutiert plötzlich zu Wladimir Putin – Anna Netrebko als Putins Tochter, darauf muss man auch erst mal kommen.
Ein wahre Flut an echten und KI-generierten Videos flackert überall. Wieder nur eine Auswahl: Elon Musk im Europaparlament, Björn Höcke im Triumphzug in Paris, der Europagedanke (»Europa: auch in Zukunft auf der Sonnenseite«), eine Demo mit Gegendemo taucht auf der Spielfläche auf, ganz aktuell natürlich: »Stadtbild säubern«, »Nazis raus« …
Und die Musik? Egal.
Fehlte etwas? Ja, überraschenderweise der Gaza-Konflikt, obwohl das Schiff ja in der Gegend navigierte. Oder die Seltenen Erde. Warum nicht noch ein Abstecher nach China? Eine völlig wirre optische Überforderung ergab sich daraus, die, wie bei Florian Lutz‘ durch den Fleischwolf gedrehten Opernabenden schon gewohnt, die Aufmerksamkeit kolossal von der Musik ablenkte.
Gesungen und musiziert wird nämlich auch. Alle vier Hauptrollen sind Gäste. Ilaria Alida Quilico als Aida ist berechtigterweise die Siegerin in der Publikumsgunst. Sie hat sich bald freigesungen und entwickelt im dritten Akt eine berührende Präsenz. Gabriele Mangione als ihr Geliebter Radamès hat eine stahlharte Tenorstimme, was nicht schlecht für den Riesenraum ist. Etwas mehr an Differenzierung wäre wünschenswert gewesen. Auch Emanuela Pascu als Porsche fahrende Amneris hat Durchsetzungskraft, aber auch Möglichkeiten zu vokalen Emotionen. Die Chöre leisten durchweg Hörenswertes. Das Orchester schließlich und sein neuer Chef Ainārs Rubiķis wurden am Ende berechtigterweise gefeiert. Sie boten unter erschwerten Umständen einen sehr hörenswerten Soundtrack zum wirren Geschehen vor, hinter und über ihnen.

Am Ende sitzen alle in Schwimmwesten auf dem Schiff, der Strom ist schon weg, Aida und Radamès suchen einen Ausweg, aber das Schiff wird untergehen und mit ihm Europa und sein Vergnügungsgesellschaft. Untergegangen auch die Hoffnung auf eine wirkliche Deutung von Verdis Oper, die durch ein wirres Spektakel schnell zunichte gemacht wurde.
Einige Buhs für das Regieteam, viel Beifall für Sänger und Orchester. Man schritt in gehobener Garderobe zu Gratisgetränken und Häppchen.

