Über den Sinn von Musik

März 17, 2025
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György Kurtág und Benjamin Appl (Foto: Alpha Records)

György Kurtág wohnt seit Jahren in einem Apartment im »Budapest Music Center«. Der Bariton Benjamin Appl hat ihn besucht – ein Arbeitsbericht.   

»Gyuri bácsi« (Onkel Georg), wie György Kurtág liebevoll in ganz Ungarn genannt wird, zu begegnen und mit ihm seit Jahren intensiv musikalisch arbeiten zu dürfen, ist für mich ein riesiges Geschenk. Wie kaum eine andere Person prägte er mich als Musiker und Mensch. 

Im Jahr 2018 kontaktierte mich das Konzerthaus Dortmund: Geplant sei ein Festival im Februar 2020 zu Ehren des großen ungarischen Komponisten György Kurtág. Auf seinen persönlichen Wunsch hin sollten die Hölderlin-Gesänge aufgeführt werden. Um den höchsten Ansprüchen Kurtágs an sich selbst und andere gerecht zu werden, wurden ihm monatelang verschiedene Sänger vorgeschlagen. Er entschied sich schließlich für mich. Zuvor war es mir zu Ohren gekommen, dass Kurtágs äußerst detaillierte und intensive Arbeitsweise viele MusikerInnen zur Verzweiflung gebracht habe: nicht selten habe er die Proben beendet. Kurtág fordert von sich und seinen Interpreten immer kritisch und anspruchsvoll seine Musik zu durchdringen und sie unter Einsatz all seiner individuellen Möglichkeiten umzusetzen.

Márta entscheidet

Die Vorbereitungen für die erste Zusammenarbeit waren lang, die Anforderungen hoch: der stimmliche Umfang, die Tonfolgen und nicht zuletzt die schwer verständlichen Texte – voller Nervosität begegnete ich dem Komponisten und seiner Frau Márta am 7. Mai 2019 im Budapest Music Center. Entfernt und abgeschirmt vom heutigen schnelllebigen Musikbetrieb lebt Kurtág dort in einem kleinen Apartment und verlässt das Gebäude seit Jahren kaum noch. 

Ohne weitere Umschweife musste ich die sechs meist unbegleiteten Lieder vortragen. Das anschließende lange, nachdenkliche Schweigen beendete Kurtág‘s Frau mit einer kurzen Bemerkung auf ungarisch. Darauf blickte er mir in die Augen und meinte: »Márta sagt, Sie sind unser Mensch«.

Das Album bei qobuz – weitere Links zum Album hier.

Auch wenn der Weg oft ein harter war und ich existenziell Vieles hinterfragte, entstand über die Jahre hinweg eine wunderbare Freundschaft mit dem knapp sechzig Jahre Älteren. Bis zum heutigen Tag ist die Arbeit an den Hölderlin-Gesängennicht abgeschlossen, sie bleibt für mich eine Lebensaufgabe. Oft arbeiten wir stundenlang an einem Takt, bereits beim Einatmen vor dem Singen der ersten Note unterbricht er häufig. Höchste Anforderungen an die Konzentration und an das eigene Selbstverständnis werden gestellt, teilweise bis zu meiner völligen körperlichen Erschöpfung. Während ich immer wieder Pausen einforden muss, scheint der über neunzigjährige Schöpfer über unendliche Ressourcen und vollen Schaffensdrang zu verfügen.

Neue Welten

Kurtág eröffnete mir neue Welten, er lehrte mich, mich als Musiker und Interpret neu zu definieren, festgefahrene Ansichten über Gott, die Musik und die Welt zu hinterfragen, zu suchen und auf vorschnelle Erkenntnisse zu verzichten: Kurtág gab mir Werkzeuge, mit denen es leichter fällt, Fragen anders zu formulieren oder gar anders zu stellen und das Spektrum möglicher Antworten stets zu erweitern.

Ich hatte das Glück, ihn während des Komponierens zu erleben, wenn er intensiv innere Kämpfe mit sich selbst führte, auch bei den kleinsten Veränderungen in der Partitur. In diesen Prozessen war seine Frau Márta (1927-2019) – selbst eine hervorragende Pianistin – nicht nur seine wichtigste Stütze, sondern auch seine größte und kritischste Autorität. 

Er ist überzeugt, dass sie seine Kompositionen besser verstand als er selbst. Erst nach ihrer Zustimmung erlaubte Kurtág die Veröffentlichung eines neuen Werkes. Ich erinnere mich gut daran, als er – kurz nach ihrem Tod – in Stille am Klavier saß und in sich hineinhörte, um innerlich ihr Urteil zu erspüren. Er wartete auf ihre Stimme…

Sein wichtigstes Wort: »Vielleicht«

Kurtág wurde 1926 in Siebenbürgen geboren. 1946 zog er für sein Studium an der Liszt-Akademie nach Budapest, wo er auch Márta kennenlernte. Nach den grausamen Jahren 1934 bis 1945 suchten gerade junge Menschen – im Glauben die Welt und damit sich selbst zu verändern – nach Alternativen, um den Nationalsozialismus für immer zu überwinden. Zu Beginn der 1950er Jahre fand Kurtág ursprünglich Gefallen an einer kommunistischen Neuordnung in Ungarn, doch die blutige Zerschlagung des Volksaufstands 1956 durch die rote Armee zerstörte sein ganzes Ideal und stürzte ihn in eine tiefe persönliche wie schöpferische Krise.

Auf der Suche nach sich selbst begann er 1957 sein Studium bei Messiaen und Milhaud in Paris. Nur schwer vorstellbar ist seine innere, selbstzerstörerische Zerrissenheit, gegen die er ankämpfen musste. Mit Hilfe der Kunsttherapeutin Marianne Stein, die ihm riet, sich nur auf das Wesentliche zu konzentrieren und radikal zu reduzieren, schöpfte er neue Kräfte. Langsam begann er mit dem Schreiben kleiner, kurzer Stücke. 

Der völlige Rückzug in sich selbst hatte es Kurtág ermöglicht, seine Kräfte ganz nach innen zu konzentrieren. So fand er über die Jahre eine der eigenwilligsten Klangsprachen der Moderne. Durch seine westlichen Kontakte brachte er den Zeitgeist aus Paris in seine Heimat und prägte dadurch das kompositorische Schaffen im sonst isolierten Ungarn wie kein anderer. Erst spät, mit 55 Jahren, gelang ihm 1981 der internationale Durchbruch in Paris. Heute zählt Kurtág zu den herausragendsten Musikern der Gegenwart und den ganz großen klassischen Komponisten.

Kein Smalltalk, bitte

Smalltalk mit dem Meister des beredten Schweigens zu führen, ist unmöglich. Er ist fest der Überzeugung, dass weniger oft mehr ist. In langen Denkpausen sucht er die präzise Wortwahl in größtmöglicher Kürze. Das Gleiche gilt auch für seine intensiven und konzentrierten Kompositionen, die uns in wenigen Tönen ganze Universe öffnen. 

Diese schöpferische Arbeit nennt er Glück. Auch die Zusammenarbeit mit anderen Musikern ist für Kurtág essentiell, da er in diesem Prozess seine Kompositionen nochmals hinterfragt und dadurch immer besser versteht.

»Beginnen wir nochmals von vorne« und »vielleicht« sind die von ihm am häufigsten verwendeten Ausdrücke. In seiner Bescheidenheit glaubt er fest daran, dass eine Komposition ihren eigenen Gesetzen folgt und nur dann Früchte trägt, wenn das geschieht, was die Komposition gebietet und nicht der Komponist wünscht. Musik entsteht nur in den Momenten, in welchen sie selbst aufleben will. Nach dem Tod von Márta entstand der Gedanke, die Hölderlin-Gesänge mit Kunstliedern der deutschen Romantik zu verbinden, die gerade auch für Márta eine wichtige Rolle gespielt hatten. 

1.200 Aufnahme-Takes

Es freut mich außerordentlich, dass wir für diese Aufnahme die beiden wunderbaren Pianisten, den langjährigen Kurtág-Freund Pierre-Laurent Aimard und James Baillieu, gewinnen konnten. In zwölf vollen Tagen mit über 1.200 Aufnahme-Takes haben wir mit unzähligen Wiederholungen das nun vorliegende Album mit vielen Neueinspielungen und Uraufführungen aufgezeichnet. Kurtág war in allen Aufnahmesitzungen anwesend und agierte als Produzent. Dieses Tondokument, einschließlich des deutschen Interviews mit György Kurtág, soll einen Einblick in den unendlichen Kosmos des schüchternen Zauderers, strengen Selbstkritikers, tastenden Suchenden, introvertierten Hinterfragenden, uneitlen Intellektuellen, genialen Tondichter und außergewöhnlichen Menschen György Kurtág geben. Es reflektiert seine Sichtweise auf Werke des 19., 20. und 21. Jahrhunderts. Es ist, wie wenn man als Interpret durch die Lupe des großen zeitgenössischen Komponisten auf unsere Gegenwart blickt.

Bleibe Dir selber treu

Bis heute folgt er dem Ideal eines seiner größten Vorbilder – Béla Bártok: Sich selbst treu bleiben. Nicht im Geringsten schreibt er Musik, um zu gefallen oder gemocht zu werden. Er sucht einzig nach Wahrheit.

In tiefer und großer Dankbarkeit widme ich dieses Album György und Márta Kurtág. Solch einzigartige Menschen trifft man im Leben nur sehr selten. Kurtág hat mir den eigentlichen Sinn des Musikerdaseins aufgezeigt. Durch die tiefste Beschäftigung mit Musik hat er mir ein größeres Verständnis des Menschseins vermittelt: Welch enormes musikalisches, und noch viel mehr menschliches Geschenk!

Auf der aktuellen Einspielung von Benjamin Appl ist auch ein Gespräch mit Kurtág dokumentiert.

Dieser Essay erschien als Booklet-Text zu Appls neuem Album: Lines of life – Schubert & Kurtág

Benjamin Appl

Der Bariton Benjamin Appl gilt als einer der vielversprechendsten Liedsänger seiner Generation. Er wird für seine stimmliche Ausdruckskraft mit einer „fast unendlichen Farbpalette“ (Süddeutsche Zeitung), seine präzise Textgestaltung (New York Times) und seine tief berührende Kunst (The Times) gefeiert. 2016 wurde er als Gramophone Award Young Artist of the Year ausgezeichnet und war zuvor Mitglied des BBC New Generation Artist Programms (2014–2016) sowie Wigmore Hall Emerging Artist und ECHO Rising Star (2015–2016). Er trat in renommierten Konzertsälen wie dem Barbican Centre London, Concertgebouw Amsterdam, Wiener Konzerthaus, der Philharmonie Paris und Köln sowie der Laeiszhalle Hamburg auf. Von 2016 bis 2021 war er exklusiv bei SONY Classical unter Vertrag und arbeitet nun langfristig mit Alpha Classics an mehreren Alben zusammen.

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