Tobias Kratzer und Omer Meir Wellber eröffnen ihre erste Saison an der Hamburgischen Staatsoper – mit Schumanns »Das Paradies und die Peri« und mit einem Abend der Selbstfindung.
English summary: Tobias Kratzer and Omer Meir Wellber open their first season at Hamburg State Opera with Schumann’s Das Paradies und die Peri and a bold housewarming. Kratzer blends kitsch, tragedy, and pop culture—children die under a glass dome, a “Kiss-Cam” turns the audience into actors, and the Peri rejects paradise itself. It’s manipulative, moving, and daring, signaling a new era of risk, empathy, and reinvention.
Verdammt, ja, die Emotionsmaschine Oper funktioniert an diesem Abend reibungslos: Kinder spielen unter einer Glaskuppel in einer Miniaturstadt, wenn die Schornsteine zu qualmen beginnen – mehr und mehr. Irgendwann sinken die Kinder zu Boden, streben, verrecken. Die »Kiss-Cam« filmt derweil die Gesichter des Publikums, bleibt auf einem älteren Herren stehen, dem beim Anblick des Endes der Welt die Tränen aus den Augen rinnen. Die Kinder sind tot. Die Peri steht im blutüberströmten Kleid vor der Glaskuppel. Das Kind eines gefallenen Engels und einer Sterblichen sucht den weinenden Mann im Publikum, steigt singend über die Stuhllehnen des Parketts. Verschiedene Hände helfen der Hilflosen auf ihrem Parcours, bis sie die Tränen des Alten einsammelt und weiter singt – betörend schön.
Mehr Kitsch geht nicht. Mehr Schönheit geht nicht. Mehr Empathie geht nicht. Mehr Mit-LEID geht nicht.
Regisseur Tobias Kratzer umarmt für einen Augenblick die Welt, sein Hamburg, den Saal, das Publikum – und mich. Klar, all das ist kalkulierte, höchst professionelle Massen-Manipulation. Aber es ist eben leider auch genial. Denn der Kitsch findet schnell ein jähes Ende.
Peri, der das Paradies bereits zwei Mal verschlossen blieb, kehrt mit den Tränen des Alten zurück in den Himmel, wo die Engel mit ihr über das Ende der Welt weinen und sich am Tod der Unschuld laben. Sie beginnen die Perversion der Trauer zu inszenieren, und Peri erhält Einlass in den Chor der Ewigkeit. Sie reiht sich ein in die schwarz gekleideten Sängerinnen und Sänger der Hamburgischen Staatsoper und ist- endlich! – angekommen! Doch auch sie hat die »Kiss-Cam« nun im Gesicht, und ihr wird bewusst, dass auch die Ewigkeit nur eine Inszenierung ist. Peri schmeißt ihre Noten zu Boden, verlässt den Himmel und das Opernhaus. Das Oratorium ist zu Ende. Hamburg erhebt sich. Applaudiert. Und feiert die Eröffnungspremiere seiner neuen Intendanz.

Es ist mutig von Tobias Kratzer, eine neue Ära ausgerechnet mit Robert Schumanns Oratorium Das Paradies und die Peri zu beginnen. Zumal die Hamburgische Staatsoper ihr Publikum in den letzten Jahren im wahrsten Sinne des Wortes zu großen Teilen »verspielt« hat. Plötzlich ruft der neue Intendant wieder »Willkommen« in die Stadt, buhlt um ein neues Publikum und gleichsam um die Rückkehr des alten und setzt dabei auf ein Stück, das – gelinde gesagt – ein Ausbund überfrachteter Komplexität ist.
Aber Tobias Kratzer weiß natürlich sehr genau, was er tut. Er enttäuscht Erwartungen (»Wir wollen seinen Bayreuth-Tannhäuser in Hamburg!«) und verwandelt sie in ein neues Engagement mit seiner Kunst. Er mischt Moderne mit Konvention, die Tiefe des Oratoriums mit der Popkultur der »Kiss-Cam«, Schubert mit »Schubiduuu« und die christliche Erlösung mit nicht weniger als dem Ende aller Illusion von Kunst. Das Publikum wird bei ihm zum Protagonisten, die Handlung zur Farce, die Wahrhaftigkeit zur Inszenierung – und wir alle für einen Augenblick zum Kollektiv.
Der Schumann-Plot ist simpel: Drei Mal muss die Peri das Geschehen auf der Welt beobachten, bevor sie mit einer Geschichte in den Himmel zurückkehrt, die ihr die Tore der Ewigkeit öffnet. Kratzer zeigt, wie ein Tyrann von einem Märtyrer getötet wird. Aber in der »Kiss Cam« verlässt eine buhende Zuschauerin den Saal. Kratzer zeigt, wie eine Frau ihren infizierten Mann während der Pest-Pandemie trotz seiner Krankheit küsst – und stirbt. Aber die »Kiss-Cam« zeigt lediglich einen schlafenden Zuschauer, der auch dann kein Interesse für die Bühne hegt, wenn seine Frau ihn unsanft weckt. Erst als Kratzer einige Kinder vergast, fließen die Tränen, und seine Peri kommt in den Himmel. Doch der Preis ist zu hoch. Peri flieht, und das Publikum jubelt.

Tobias Kratzer weiß genau, wie weit er gehen kann. Er kenn die Psychologie der Emotion. Er ist ein Meister der Verführung. Und er hat einen genialen Cast um sich geschart. Das Ensemble der Oper, Ivan Borodulin als Engel, Christoph Pohl als »Mann«, Lunga Eric Hallam als »Jüngling«, Annika Schlicht als Alt, Kady Evanyshyn als Mezzo, der Tenor-Gast Kai Kluge und allen voran Vera-Lotte Boecker als Peri bilden eine homogene Einheit, die Töne wie Blut, Atem wie gestockte Panik und Arien wie Mikrokosmen fließen lässt. Omer Meir Wellber dirigiert all das von Nummer zu Nummer und entfaltet jeden Teil zu einer ganzen Welt.
Am Ende bleibt die Frage: Wenn Kunst nur ein Illusion ist, was ist dann die Wirklichkeit? Und wenn wir alle in einer verrückten Welt leben – wollen wir dann nicht in der Oper ein Stückchen zusammenrücken?
Das Housewarming
Wie bleiern erscheinen nach dem ersten Wochenende der Intendanz Kratzer die Jahre unter Georges Delnon und Kent Nagano. Tobias Kratzers Saison-Motto »Alles, was Oper kann«, könnte man in Hamburg auch verstehen als »Alles, was Oper bisher verpasst hat«.
Beim Housewarming Concert am Tag zuvor schien das Motto eher zu lauten: »Alles, was ein OpernHAUS kann«. Denn – und auch das ist erfrischend – um Oper im klassischen Sinne ging es kaum. Regisseur Nikolaus Habjan trat in seiner Rolle als Kunstpfeifer auf und schmetterte die Arie der Königin der Nacht, Kratzers kongenialer Kompagnon aus dem Bayreuther Tannhäuser, der Sänger Le Gateau Chocolat stimmte I wanna Dance with Somebody und Spirituals an, die einst von Grace Bumbry und Jessye Norman gesungen wurden. Eine Art sneak preview der Saison gab es, als zu den Sphärenklängen von Charles Ives The Unanswered Question neben einem (fast schwerelosen) Astronauten auch ein Pferd (aus der Kinderoper Die Gänsemagd) über die Bühne trabte und ein Dinosaurier (als Vorbote des Gorgonzilla aus der anstehenden Jelinek-Uraufführung Monster’s Paradise) durch die Gegend schnaubte. Typisch liebenswürdiges Kratzer-Personal!
Und ja, Jelinek las sowohl in einer Videobotschaft eine Begrüßung als auch in Form einer wirklich lustigen Habjan-Puppe, die am Ende profan im Orkus entsorgt wurde.
Gemeinsam mit seinem neuen Generalmusikdirektor Omer Meir Wellber scheint die Hamburger Oper eine zwar verrückte, aber eben auch pragmatisch denkende, neue Spitze zu haben. Alles Handeln in Hamburg geht nicht mehr von den bleiernen Unmöglichkeiten in angespannten Zeiten aus, sondern von flammenden Inhalten, die man in einer komplexen Welt unbedingt positionieren will. Egal, mit wem man hinter den Kulissen spricht: Es herrscht Aufbruchsstimmung an der Elbe. Und Oper wird nicht nur im Rampenlicht neu gedacht, sondern auch in den Büros. Tobias Kratzer ist als Intendant ein Workoholic, aber vor allen Dingen ein Problemlöser, einer der sich nicht festbeißt, sondern immer einfach weiter geht und Probleme notfalls einfach links liegen lässt, statt sich von ihnen auffressen zu lassen.

Dass weder das Orchester noch sein Chefdirigent wissen, was im anstehenden, großen Mozartabend auf dem Programm steht, ist symptomatisch: »Wir müssen erst lernen mit dieser Ungewissheit und der Spontanität umzugehen«, sagt Wellber und freut sich, wenn er die Unsicherheit und Neugier zum Stilmittel erhebt.
Für das Housewarming Concert hat der GMD sich ein Programm ausgesucht, das einige alt eingesessene Opern-Groupies wohl ratlos zurückgelassen hat: Olga Neuwirths Dreydl neben John Adams Short Ride in a Fast Machine und eine Uraufführung von Marko Nikodiejevic, mit der er die Freiheit des Menschen in Hölderlins Hyperion-Fragment feiert (gesungen von Elbernita Kajtazi) – auch eine Art Credo der neuen Hamburgischen Staatsoper. Vera-Lotte Boecker sang (begleitet von Omer Meir Wellber am Akkordeon) Pur di miro von Monteverdi. Und Wellber erklärte am Synthesizer die Perdono-Arie des Grafen aus Mozarts Hochzeit des Figaro und stimmte sie danach mit dem Publikum an. Oper intim!
Schließlich trällerte Lokalmatadorin Ina Müller den Udo-Jürgens-Hit Bis ans Ende meiner Lieder. Ihre vorherige Moderation kratzte mit einer aufgesetzt gespielten »blonden Naivität« zuweilen hart an der Fremdschämgrenze (»Du, sach Mal, ein Oratorium ist doch eine Liedersammlung, oder?«) Aber: Geschenkt und als Lokalkolorit verbucht.
Der zauberhaft verblüffende Abend wirft am Ende dann doch eine nicht ganz unwesentliche Frage auf: Um welches Publikum buhlen Kratzer und Wellber eigentlich? Beim Housewarming machten sie klar, dass sie einfach ALLES in ihr neues Haus integrieren wollen. Aber zu welchem Zweck? In seinen Regiearbeiten gelingt es Kratzer meist perfekt, alle moderne Popularität aus dem tiefen Wissen aus der Oper heraus zu entwickeln. Das betörende Entertainment als Sirene für die Tiefe der Kunst. Das Housewarming surfte noch – wenn auch gekonnt – ein bisschen an der Oberfläche, vielleicht im Vertrauen auf das, was in Hamburg noch kommen wird. Denn schon jetzt ist klar: An keinem Haus ist derzeit mehr Aufbruch, mehr Gaudi und mehr Risiko zu Hause als an der Hamburgischen Staatsoper.

Die Peri verschmäht das Paradies. Wird sie an der Hamburgischen Staatsoper glücklicher? Wellber erklärte Mozarts Perdono-Arie als andauernde Frage: »Soll ich verzeihen oder nicht? Soll ich springen oder nicht?« Eine Frage, vor der auch Hamburg zu stehen scheint: »Sollen wir den Neuen vertrauen oder nicht?«
Bei der Premierenfeier erzählte Tobias Kratzer die Geschichte, dass einer seiner Freunde ihn kurz vor der Vertragsunterzeichnung angerufen habe: »Unterscheibe nicht – Hamburg wird Dich nicht verstehen.« Nach dem Eröffnungswochenende glaube ich das nicht und rufe: »Spring, Hamburg! Spring!«
Transparenzhinweis: Axel Brüggemann hat eine neue Fassung von »Peter und der Wolf« für die Hamburgische Staatsoper geschrieben, die am 1. Mai Premiere haben wird.