Johann Strauss ordnete die Wirren der Zeit im schwankenden Dreiviertel Takt. Am Ende seines 200. Geburtstagsjahres wird er auf arte noch einmal gefeiert.
English summary: At the bottom of the champagne glass lies a world — the piece reflects on how Johann Strauss turned classical music into mass entertainment. Once a 19th-century superstar, his waltzes still shape our culture: from grand concerts to modern popular reinterpretations, his music helps us dance through chaos and remember to enjoy life.
Die Popkultur ist in Wahrheit auch nur eine Fortsetzung der Klassik mit anderen Mitteln. Und wenn wir ehrlich sind, ist am Ende eh alles Walzer! Der österreichische Komponist und »Walzerkönig« Johann Strauss kannte den Lebensstil eines Superstars: Als er 1872 gemeinsam mit seinem Orchester über den Atlantik in die USA gereist war, gab er ein Gastspiel in Boston, im gerade neu errichteten Coliseum. Ein gigantischer Holzbau, 168 Meter lang, 107 Meter breit mit himmelblauer Decke und roter Seide an den Wänden. 8.000 Gaslampen sorgen für die Beleuchtung. 60.000 Menschen waren gekommen, um den Musiker aus Österreich zu hören, über 200 Journalistinnen und Journalisten berichteten und 350 Polizisten sicherten die Lage und hielten die Groupies in Schach. Dennoch schlichen hunderte Besucherinnen und Besucher heimlich in das Konzert.
Das Coliseum war dreißig Mal so groß wie der zwei Jahre zuvor eröffnete goldene Saal des Wiener Musikvereins, in dem Strauss’ Walzer bis heute zu Neujahr erklingen, und zehn Mal so groß wie die ein Jahr später eröffnete Royal Albert Hall in London. Das Coliseum war eine Art Sphere wie es heute in Las Vegas steht, und Johann Strauss war mit seiner Geige, seinem Frack, seinen dunklen Locken und seinem Koteletten-Bart einer der weltweit größten Pop-Star des 19.Jahrhunderts.
Tanz auf dem Vulkan
An diesem Image hat sich bis heute, zu seinem 200. Geburtstag, nur wenig geändert: Die Walzer von Johann Strauss ordnen unsere wankende Welt noch immer mit ihrem flexiblen Gerüst aus Dreiviertel-Takten, Tanzveranstaltungen und Bälle sind en vogue wie schon lange nicht mehr, und Operetten wie die Fledermaus inspirieren Regisseurinnen und Regisseure noch immer, um über das Chaos unserer Welt nachzudenken. Über die Verführbarkeit des Menschen, über unserem Tanz auf dem Vulkan und darüber, ob am Ende nicht allein der Champagner Schuld an unserer Misere ist: »Glücklich ist, wer vergisst, was nun mal nicht zu ändern ist!« Die Fledermaus, inspiriert von Jacques Offenbach, gilt längst als »Mutter aller Operetten«. Dass die Strauss-Walzer ebenfalls noch immer ein kunterbuntes und zirkushaftes Massenspektakel sind, zeigt unter anderem die arte-Übertragung »Manege frei für Johann Strauss! Cagliostro aus dem Circus-Theater Roncalli«.

Am Anfang des 200. Jubiläumsjahres hatten die Wiener Symphoniker eine ganz besondere Idee: Sie schickten Johann Strauss‘ wohl bekanntesten Walzer, den Donauwalzer, ins Weltall. Zum einen, weil das Orchester überzeugt ist, dass dieses Werk 1977 auf der »Goldenen Schallplatte« vergessen wurde, die mit der Voyager-Sonde in die Stratosphäre geschossen wurde, zum anderen, weil es wohl keine bessere Musik gibt, um Außerirdischen zu erklären, dass wir Menschen eigentlich eine ganz umgängliche Spezies sind. Die Wiener Symphoniker sind im arte-Program mit ihrem Strauss-Konzert im Teatro Rossetti in Triest zu hören.
Dass Johan Strauss Sohn überhaupt Musiker wurde, geschah gegen den Wunsch seines ebenfalls komponierenden Vaters. Der hatte seiner Familie den Rücken gekehrt und die Mutter mit Sohnemann »Schani« sitzenlassen. Es war eher eine Art Racheakt der Mutter, dass sie ihrem Kind ebenfalls eine musikalische Ausbildung ermöglichte. Mit Erfolg: Schon froh bewies Johann-Sohn im Casino Dommayer, einem Unterhaltungslokal in Wien-Hietzing, dass er den musikalischen Nerv seiner Zeit traf. Schnell überholte er die Popularität seines Vaters und übernahm nach dem Tod des Seniors auch dessen Orchester. Johann Junior verwandelte die Walzermusik nun zum Geschäftsmodell und wurde zum Vorbild aller kommerziellen Musiker, von Michael Jackson über Madonna bis zu Taylor Swift.
Globales Geschäft
Strauss betrieb die Musik als globales Unterhaltungsgeschäft, organisierte Tourneen, große Open-Air-Konzerte und entwickelte eine professionelle Vermarktung. Er reiste mit der Russischen Eisenbahngesellschaft auf regelmäßige Gastspiele nach St. Petersburg und begeisterte die USA in Giga-Veranstaltungen wie in Boston. Er revolutionierte den Notendruck und expandierte seine Orchester bis zum Maximum. Strauss war ein Weltbürger der Musik, ein globales Massenphänomen und der charismatische Frontmann einer vollkommen neuen Musikkultur.
Modern und damals unzeitgemäß war auch der Lebenswandel des Klassik-Pop-Stars. Johann Strauss war drei Mal verheiratet. Zunächst mit der Sängerin Jetty Treffz und der Schauspielerin Angelika Dittrich. Für seine dritte Frau, Adele Deutsch, fand er eine unkonventionelle Möglichkeit, sich – trotz der katholischen Gesetze in Österreich – einvernehmlich scheiden zu lassen.
Strauss trat nicht nur aus der katholischen Kirche aus, sondern wechselte auch seine Staatsbürgerschaft. Aus dem verheirateten Österreicher wurde so ein geschiedener Bürger von Sachsen-Coburg. Gemeinsam mit seiner dritten Frau trat Johann Strauss der evangelisch lutherischen Kirche bei. arte zeigt zu diesem Thema die Doku »Johann Strauss und die Frauen«.
Tanzen und marschieren
Also alles Walzer? Nicht nur! Strauss tanzte mitten in den Wirren seiner Zeit. Der Wiener Kongress hatte Österreich bereits gelehrt, dass Musik durchaus auch hohe Diplomatie sein kann. Dieses Wissen hatten auch Strauss Vater und Sohn im Blut. Während der alte Strauss 1848 den Radetzky-Marsch komponierte, um den Sieg des 82jährigen Feldmarschalls über die Italiener zu feiern, widmete sein Sohn seine Musik der Demokratiebewegung und verwandelte den Dreivierteltakt in einen Revolutionsmarsch, was die Aufmerksamkeit der Zensurbehörden auf sich zog.

Vor allen Dingen aber zeigt Johann Strauss, dass die Unterhaltungskultur, die er erfand, nicht nur an der Oberfläche stattfinden muss. Das eigentliche Genie des Komponisten liegt darin, dass er populäre Trends bediente, ohne die Kunst dabei zu verflachen. Es ist nicht überraschend, dass viele Komponisten-Kollegen in Strauss weit mehr sahen als den bloßen »Walzerkönig«. Johannes Brahms schwärmte »er ist der Einzige, den ich beneide – er trieft vor Musik, ihm fällt immer etwas ein«. Giuseppe Verdi verehrte Strauss als »genialsten Kollegen«, und selbst Richard Wagner nannte ihn den »musikalischsten Schädel der Gegenwart«.
Bis heute feiern Flugzeuge der Austrian Airlines ihre Landungen mit seiner Musik, der Donauwalzer läutet traditionell das neue Jahr ein, und Künstler wie André Rieu touren mit seiner Musik noch immer als Klassik-Popstar durch die Welt.
Und was ist das Geheimnis seiner Klänge? Strauss‘ Musik ist beschwingt melodisch, rhythmisch raffiniert und vielfältig und überraschend in ihren Klangfarben. Sie beginnt zu schweben, wenn man die zweite Achtel im Dreivierteltakt leicht verzögert. Johann Strauss ist nie eindimensional. Seine Werke sehnen sich, lächeln, tanzen und weinen – und wenn man genau hinhört, zwinkert der Komponist uns auch 200 Jahre nach seiner Geburt ironisch zu und bittet uns, mit ihm auf den Boden eines Champagnerglases zu blicken, um die Welt nicht ganz so schwer zu nehmen.
arte sendet und streamt im Dezember:
- Die Doku: Johann Strauss und die Frauen
- Den Mitschnitt: Manege frei – Johann Strauss im Zirkuszelt
- Das Konzert: Die Wiener Symphoniker feiern Johann Strauss im Teatro Rossetti
Dieser Text erschien zuerst im arte Magazin

