Ausnahmezustand im Kölner Dom: Anna Lapwood sorgte für kilometerlange Schlangen – und begeisterte auch skeptische Orgel-Freaks.
English summary: British organist Anna Lapwood caused a sensation at Cologne Cathedral, drawing over 13,000 fans to her free summer concert—far more than the venue could hold. Her popularity, fueled by social media, led to chaotic scenes, two impromptu concerts, and praise from even the police.
Wenn es im Sommer heißt »Dienstags im Dom«, ist den Kölnerinnen und Kölnern klar, dass dann die »Orgelfeierstunden« angesagt sind: 12 sommerliche Orgelkonzerte, die seit 1960 bei traditionell freiem Eintritt stattfinden. Da ist die Hütte voll. Was gespielt wird, ist egal, von Samuel Scheidt bis zur Avantgarde ist alles dabei. Fans wie Touristen kommen und hören konzentriert zu. Legendär die Zeiten, als die Leute mit Klapphockern und Campingstühlen in Deutschlandas schönste »Bahnhofskapelle« kamen – direkt an Gleis eins. Hier schlugen sie dann ihr Lager auf und lauschten mucksmäuschenstill dem, was ihnen aufgetischt wurde.
Irre, einfach irre!
Die Zeit der Klapp- und Campingmöbel ist vorbei. Es fing an mit Sicherheitsbedenken, dann kam Corona. Aber was da nun kürzlich in Köln ablief: Irre. Einfach irre! Die Parkhäuser im Zentrum waren voll, die Domplatte war schwarz vor Menschen. Die Schlange reichte kilometerlang durch die Fußgängerzone bis hinter den Neumarkt. Rund 13.000 Menschen sollen laut Medienberichten versucht haben, in den Dom zu kommen. Geschafft haben es laut Domkapitel zwei Mal rund 3.800 – die anderen mussten unverrichteter Dinge wieder abziehen. Ärgerlich dabei: während die meisten sich diszipliniert anstellten, drängelten sich andere einfach vor dem Westportal des Domes dazwischen. Grund für den Ausnahmezustand war die 29jährige Organistin Anna Lapwood.
Die britische Organistin, die bis vor kurzem noch Director of Music am Pembroke College in Cambridge war, ist ein Phänomen. Ihre Social Media-Accounts gehen durch die Decke, ihre Konzerte sind ein Renner. Die Royal Albert Hall etwa – Fassungsvermögen rund 5200 Menschen – war für ein Konzert im Mai innerhalb weniger Tage ausverkauft. Die Dimensionen, die dieser Hype in Köln angenommen hat, sind allerdings neu. Davon waren selbst die Organisatoren überrascht. Klar war: es wird voll. Das war schon anhand der Reaktionen auf den Social Media Kanälen von Lapwood abzusehen. Aber so voll?
Polizisten wurden zu Fans
Noch einen Tag nach dem Auftritt reibt sich Monsignore Markus Bosbach, Domkapitular in Köln, die Augen: »Wenn wir mit einem solchen Andrang gerechnet hätten, dann hätten wir das auch anders organisiert. Es war klar: so viele Menschen können nicht in den Dom. Wir hatten mit 3.000 bis 4.000 Menschen gerechnet. Aber wir waren völlig überwältigt und haben erst kurz vor dem Konzert wirklich realisiert, wie viele Menschen hier in einer Schlange quer durch die Kölner City stehen. Das war völlig irre. In der Form hatte das keiner auf dem Schirm. Und wir sind natürlich auch wirklich traurig, dass so viele Menschen dann am Ende keines der beiden Konzerte hören konnten.« Bosbach war an besagtem Abend vor Ort und koordinierte in Absprache mit dem Sicherheitschef des Domes alle Maßnahmen.
Dabei wurde alles getan, um die Situation zu entschärfen. Lapwood bot an, statt einem langen zwei verkürzte Konzerte zu spielen, Polizei und Malteser wurden verständigt und unterstützten nach Kräften. Am Ende waren sie selbst begeistert: »Die größten Fans waren innen im Dom. Nämlich unsere Polizisten, die uns ja dankenswerterweise geholfen haben. Die wollten noch unbedingt ein Foto mit Anna haben und haben ihr auch ein Ehrenabzeichen verliehen. Das gleiche haben die Malteser gemacht. Die sind noch da geblieben, um Anna auf jeden Fall zu treffen«, so Bosbach.

Es dauerte natürlich nicht lange, bis Kritik an den organisatorischen Zuständen aufkam. Von chaotischen Zuständen war da die Rede und mangelhafter Organisation. Die Kölnische Rundschau berichtete gar, dass man Warnungen Lapwoods in den Wind geschlagen hätte: »Sie hatte vorgeschlagen, eine Ticketreservierung einzuführen, auch wenn der Eintritt frei war. Doch ihr Wunsch wurde nicht gehört.« Das ließ sich in dieser Form nicht bestätigen. Tatsächlich ist der Eintritt zu den Orgelfeierstunden traditionell frei. Und von der gigantischen Dimension des Hypes wurden wirklich alle vollkommen überrollt.
Wer es in den Dom geschafft hatte, konnte sich glücklich schätzen. Die Atmosphäre glich eher einem Happening als einem Orgelkonzert. Lapwood selbst wirkte völlig aus dem Häuschen. Die Polizei bei einem Orgelkonzert, das hatte sie auch noch nicht erlebt. Es gab ein Geburtstagsständchen für eine Konzertbesucherin und insgesamt ein wirklich außergewöhnliches Konzerterlebnis.
Was ist dran am Hype?
Und die Quintessenz? Was ist dran am Hype? Musikalisch war der Abend allererste Sahne, das kann man nicht anders sagen. Alles war tiptop gespielt. Man hörte wirklich, dass Lapwood sich zwei Nächte mit Einregistrieren um die Ohren geschlagen hatte. Von Müdigkeit allerdings keine Spur! Selten hat man die Domorgeln so differenziert registriert gehört. Das Programm bestand nur aus Filmmusik. Vor die Wahl gestellt (per »Applausometer«), ob sie Einaudi oder ein modernes Stück spielen soll, wählte das Publikum Einaudi. Da war die Suppe zwar verdammt dünn und Einaudis musikalische Einfältigkeiten klangen zudem noch wie aus dem Interstellar-Soundtrack abgekupfert – den Lapwood ausgerechnet direkt hinterher spielte….. Aber auch das war musikalisch perfekt inszeniert.
Es ist in der Tat bemerkenswert, wie souverän und authentisch Lapwood ihr Publikum im Griff hat. Da wirkt nichts, aber auch gar nichts gekünstelt oder inszeniert. Sie ist einfach so: nahbar, sympathisch, authentisch. Und das macht sie – abgesehen von ihren unzweifelhaften musikalischen Qualitäten – auch so glaubwürdig. Egal ob nun Tom Cruise am Orgelspieltisch der RAH vorbeischaut oder Fans sie nach ihren Konzerten ansprechen, Lapwood widmet sich allen mit der gleichen Freundlichkeit und Offenheit.
Alles hat ein Ende
Sie begeistert die Menschen und kann es selbst kaum fassen, dass so viele begeistert sind. Wie lange sie diese Welle reiten kann: keine Ahnung. Es besteht durchaus die Gefahr, dass sich der Hype vom musikalischen Gehalt entkoppelt und sich somit eine Art Inflation entwickelt. Irgendwann stehen ein Hype und seine Auswüchse ebenso wie bei manchen Megastars in keinem ausgewogenen und nachvollziehbaren Verhältnis mehr zum Anlass. Das kann man über Social Media zum Teil steuern, aber manchmal erreicht es eben einen Punkt, ab dem es brenzlig wird – und dann kippt das Ganze. Allerdings gilt hier wie auch sonst im Leben: alles hat ein Ende. Nur die Wurst hat bekanntlich zwei.
Hier geht es zum Insta-Real von Lapwood – mit bewegenden Bildern aus dem Kölner Dom.

