Ist Aix das bessere Salzburg?

Juli 9, 2024
3 mins read
Eight Songs for a Mad King“ mit einem grandiosen Johannes Martin Kränzle (Foto: Rittershaus)

Der Sommer in Aix en Provence hat begonnen: Unpolitisch, aber nicht umspannend. Ist die Stadt in Frankreich das neue Salzburg? Eine Feuilleton-Rundschau.

Seit einiger Zeit sind die Festspiele in Aix en Provence für so manchen Opern-Pilger die besseren Salzburger Festspiele geworden: Intendant Pierre Audi hat in den letzten Jahren mehr Mut zu Entdeckungen bewiesen, mehr Vielfalt in der Ästhetik, mehr Kreativität in der Programmierung. Eine kleine Feuilleton-Rundschau zeigt, dass auch dieser Sommer in Frankreich allerhand unterschiedliche Opern-Ansätze und ein Panorama der Vielfältigkeit gezeigt werden. Reinhard J. Brembeck beobachtet in der Süddeutschen Zeitung einen neuen Trend: Gerade in einer politisch aufgeladenen Wirklichkeit scheinen Regisseurinnen und Regisseure das konkret Politische zu meiden.  

Brembeck schreibt, Aix en Provenve »bietet mehr als Bayreuth und Salzburg die Möglichkeit zu Analyse, Vermessung und Auslotung der kleinen Welt der Oper. Weil da zu Beginn täglich eine Neuproduktion zu erleben ist, von Barock bis zur Moderne, mit einem Schwerpunkt dieses Jahr, natürlich, auf der französischen Klassik (Gluck, Rameau, Debussy).« 

Dmitri Tcherniakov Inszenierte gleich beide „Iphigenie“-Vertonungen (Foto: Rittershaus)

Auch Anja-Rosa Thöming schreibt in der FAZ, dass selbst Regisseur Dmitri Tschernjakow in seiner Gluck-Produktion »auf der Suche nach ‚wahrer‘ Humanität« sei. Er bringt Iphigénie en Aulide und Iphigénie en Tauride im Grand Théâtre de Provence nacheinander mit anderthalbstündiger Pause. Jörn Florian Fuchs ist für BR Klassik skeptischer: Tcherniakov »hat sich wie immer seine eigene Bühne gebaut, wir sehen viele Streben, dahinter zwei Schlafzimmer, Sitzgelegenheiten, beim Umzug von Aulis nach Tauris fehlen dann die meisten Möbel, dafür werden die Streben mit Licht immer neu und anders beleuchtet.« Tschernjakow erzählt eine Familiengeschichte in einem »ungemein langatmigen, uninspirierten Abend, der sich ebenso plakativ wie unsinnlich dahinschleppt.« Begeistert ist Fuchs vom Orchester und Emmanuelle Haïm. Sie  »dirigert ihr Ensemble Le Concert d’Astrée nebst Chor und lässt dem Graben des Aixer Grand Théâtre de Provence manch schönen, griffigen, auch lauten Klang entströmen. Gelegentlich hapert es jedoch mit der Koordination zwischen Bühne und Orchester.« Auch Thöming berichtet von einem  »stringenten« Dirigat.  

Eine weitere Produktion ist die Oper Samson von Jean-Philippe Rameau. »Auf der Bühne hat Etienne Pluss für diese Gemetzel ein von Bomben ramponiertes Hotel hingestellt, der Ukraine- wie der Palästina-Krieg sind Vorbild«, schreibt Brembeck in der Süddeutschen, bemängelt aber, dass Regisseur Claus Guth nicht so weit wie sein Bühnenbildner auf das Politische eingeht: »Er verweigert sich der heutigen Aktualität, die sich bei diesem Stoff aufdrängt, er liefert nur das Porträt eines nicht sozialisierbaren Außenseiters, den Jarrett Ott hemdsärmelig singt, die Abgründe dieses Psychos bleiben ein unerklärtes Rätsel.«

Thöming schreibt in der FAZ: » Raphaël Pichon und Claus Guth haben eine Montage gefertigt, die sowohl vom alttestamentlichen Simson-Stoff inspiriert ist als auch von dem Operntext Samson von Voltaire (1732).« Pichon und Guth erzählen dabei »eine Geschichte der menschlichen Leidenschaften«.

Joachim Lange hat sich für die NMZ zwei kleinere Neuproduktionen angeschaut. Unter dem Titel The Great Yes, The Great No erzählt der der südafrikanische Allroundkünstler William Kentridge von einer Schiffspassage im Jahre 1941 von Marseille auf die Insel Martinique. Der Surrealist André Breton, der Anthropologe Claude Lévi-Strauss, der kubanische Künstler Wifredo Lam, der kommunistische Romanautor Victor Serge und die Autorin Anna Seghers befinden sich auf der Flucht vor den Nazis. 

Intim wird es auch in den acht Liedern For a mad King von Peter Maxwell Davis. Hier besticht besonders der Sänger Johannes Martin Kränzle. »Der wagt sich so weit in den Wahnsinn, den er verkörpert, hinein«, schreibt Lange, »dass man sich beinahe Sorgen zu machen beginnt. Wenn er am Ende des achten Liedes wie ein Popstar auf Speed eine Geige zerdrischt, die Bühne verlässt, aber zum Beifall wohlbehalten wiederkommt, weiß man, dass er unbeschadet aus diesem Exzess hervorgegangen ist.« Lange lobt, wie Kränzle sich von Regisseur Barrie Kosky entfesseln lässt. 

Die „Kafka Fragmente“ mit Anna Prohaska und Patricia Kopatschinskaja (Foto: Rittershaus)

Im zweiten Teil dieses Abends, in den Kafka Fragmenten sind Anna Prohaska und Patricia Kopatschinskaja im Duett von Stimme und Instrument zu erleben. »Auch hier geht es um Grenzerfahrungen, die sich auf Worte von Kafka beziehen. In der Zersplitterung der Gedanken in nur knappen Sentenzen  geht es, mehr oder weniger wörtlich, existenziell und metaphysisch ums Gehen. Allein schon in dieser Form liegt eine kafkaeske Anmutung.«

Brembeck fasst in der Süddeutschen den Trend zum Apolitischen in Aix en Provence so zusammen: »In der Regie meiden Claus Guth wie Dmitri Tcherniakov in den Gluck-Iphigénien, Andrea Breth in Giacomo Puccinis Sextourismusoper Madama Butterfly mit der wundervoll Offenheit mit Sehnsucht und Leidenschaft kurzschließenden Ermonela Jaho als auch Barrie Kosky in dem Liederabend Songs and Fragments mit  Kränzle und der unprätentiös artistischen Anna Prohaska alle drängende Tagesaktualität, alle Neudeutung, alle Visionen.« Vielleicht ist aber genau das, was unsere brennende Welt gerade benötigt – Kunst um der Kunst Willen. 

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