Die Sofa-Intendanten vom Gänsemarkt

Oktober 21, 2025
4 mins read
Die Staatsoper als Stadionkurve (Collage BC)

Die Hamburger gehen zwar ungern in die Oper – aber sie haben eine starke Meinung. Eine Glosse über die Kontraproduktivität des Stammtisch-Feuilletons im Netz von Thomas Schmidt-Ott.

English summary: On May 10, 2025, HSV rose “like a phoenix” back to the Bundesliga—thanks, of course, not to players, but to millions of couch coaches whose pub wisdom (“play more forward!”) saved the club. Now similar “experts” plague Hamburg’s opera, where Facebook critics dissect empty seats with grandiose analyses, blaming marketing, architecture, and “lack of Eros.” The author mocks this chorus of amateur geniuses, imagining them running the opera like a football team—drive-in arias included. In Hamburg, everyone’s a maestro, online at least.

Eigentlich müsste der 10. Mai 2025 in Hamburg als Feiertag eingeführt werden. Mit einem 6:1-Kantersieg gegen den Absteiger Ulm sicherte sich der HSV den Einzug ins Oberhaus der Bundesliga. Der Phönix aus der Asche, ein Dino mit neuem Leben! Einige glaubten damals, dieser Erfolg sei den Spielern zu verdanken gewesen. Das ist aber natürlich Quatsch. In Wahrheit war der Aufstieg der Triumph einer ganz anderen, viel mächtigeren Kraft. Er ist einzig und allein den Millionen sogenannten Sofa-Trainerinnen und Trainern zu verdanken, die den HSV seit Jahren mit unfehlbarer Expertise beglückt haben. Ohne die Strategen der Stammtische hätte der HSV womöglich nie erfahren, dass man im Fußball »mehr nach vorne spielen muss«. Man fragt sich, wie der Klub es geschafft hat, so lange trotz so viel Schwarmintelligenz in der Zweiten Liga festzuhängen. Hätten Titz, Walter & Co. einfach mal früher auf die Hobby-Coaches gehört, wären sie schon längst in der Champions-League!

Und was der HSV erlebte, erlebt nun auch die Hamburgische Staatsoper. Sie zieht offensichtlich eine ähnliche Klientel von Ruhestands-Analytikern an wie die Rothosen.

Sätze so schlicht wie Dynamit

Ausgangspunkt dieser Analyse ist ein Facebook-Post. Für die jüngeren Leserinnen und Leser dieser Kolumne: Facebook ist der Ort, an dem die Generation 60 plus glaubt, ein Like bedeute noch gesellschaftliche Teilhabe: das Metaverse von vorgestern – ohne VR-, dafür aber mit Lesebrille. In besagtem Post vom 6. Oktober beklagte Joachim Mischke, Hamburgs kulturelles Gewissen von eigenen Gnaden, dass Asmik Grigorians Salome »nur sehr überschaubar gefüllt« war. Ein Satz, so schlicht wie Dynamit. Intendanten hören das Wort »überschaubar« so ungern wie Makler es gern benutzen, wenn sie eigentlich »winzig« meinen. Als Beweis reichte Mischke noch einige Beweisbilder nach: Eventim-Screenshots mit kunterbunten Sitzreihen, die an ein kulturelles Ödland erinnern. Ich dachte unwillkürlich an Drohnenaufnahmen aus einem Krisengebiet: Kulturkahlschlag durch Desinteresse. 

Mit diesen Bildern liefert Mischke (bewusst oder unbewusst) die Steilvorlage für das große Facebook-Feuilletonisten-Festival des Staatsopernbashings. Man darf sich das, um im Fußballbild zu bleiben, so vorstellen: Mittelfeld-Mischke flankt einen Halbsatz, und aus allen Richtungen stürzen sich die Taktikexpertinnen und … – nein, in diesem Fall waren es in erster Linie Kerle! –  auf den Ball. Keiner trifft, alle meckern, aber jeder weiß natürlich, wie’s richtig gegangen wäre. Ein wunderbares F-Jugend-Gekicke!

Wo Expertise gefragt ist, meldet sich zuverlässig das Netzwerk-Feuilleton, jene digitale Runde, die sich schon morgens beim Scrollen fragt, warum man sie eigentlich noch nicht zum Intendanten ernannt hat. Herr D. kommentiert: »Hamburg sei halt eine Kaufmannsstadt, keine Kulturstadt…« Herr H. hingegen setzt seine Hoffnung voll auf Kühnes neuen Prachtbau. Herr W. liefert sofort eine minutiöse Bestandsaufnahme: »Die Hamburgische Staatsoper ist kein Wohlfühlort. Selbst das Parkett erreicht man nur über Treppen aus dem Keller oder ersten Stock, die Sitze sind eng und unbequem, in den Pausen weiß man vor Enge nicht wohin, und an den Garderoben herrscht maximales Gedränge, da die Zugänge zugleich die Ausgänge sind – und einiges andere mehr.« Herr B. wiederum kommentiert mit einer halben Dissertation über den »fehlenden Eros im Marketing« – inklusive Buzzwords wie »integrierte Sales Force«, »Social Creativity« und »Guerilla-Nullnummer«. 

Kommentar-Gekicke wie in der F-Jugend

»Alles ist so bieder, so gestrig… Ich könnte schreien…« Man spürt deutlich: Da hat jemand nicht nur Opern-, sondern auch PowerPoint-Erfahrung. Für Herrn P. hat sich die Staatsoper über Jahre »leer inszeniert« – ich vermute, er wünscht sich einfach mehr Bühnennebel. Der Poser analysiert das Ganze historisch, mit einer epischen Abhandlung über »die verlorene Ära Lieberman«. Wahrscheinlich trägt Der Poser ein Monokel. Einzig Frau F. adressiert das Grundproblem direkt: »Beratungsresistente und nicht lernfähige Menschen in der Leitung.« Danke, Frau F. Sie kennen die Menschen in der Leitung? 

Herr H. möchte »genießbare« neue Stücke – die Oper als Latte to go. Frau D. diagnostiziert ein Bildungsproblem bei Jugendlichen. Und Herr C. fährt für seinen Opern-Qualitätsurlaub lieber nach Berlin, weil »Hamburg Mittelmaß« sei. Tapfer. Herr A. spricht schließlich den Intendanten direkt an: »Viele haben sich mit den Stücken länger beschäftigt als der Regisseur und möchten sich nicht auf dessen Niveau hinabbegeben. Nahezu alle – und das wird auch Herr Kratzer noch feststellen – halten männliche Kopfbedeckungen sowie Kitsch für inkompatibel mit einem Opernhaus.« Nun ja.

Debatte mit Videobeweis

Ich könnte noch viele weitere Kommentare zitieren, jede Zeile ein Meisterwerk des … äh, »Expertismus«. Man ahnt: Wenn dieses Facebook-Kommentariat jemals das Sagen hätte, stünde die Staatsoper wohl irgendwann als Drive-in am Jungfernstieg. Obwohl – warum eigentlich nicht? Wie wäre es, wenn Tobias Kratzer, besagter Intendant mit männlicher Kopfbedeckung, diese Schwarmkompetenz einmal ernst nähme und stringent ins Handeln ginge? Herr B. bekäme die Ticketkasse, Herr D. das Kultursenatoriat, Herr H. die Programmplanung (endlich »genießbare Opern!«) – und Herrn C. schicken wir nach Berlin, um das Qualitätszertifikat zu holen. 

Gegen eine geringe Gebühr könnte ich ein solches Unterfangen organisieren (bitte PM). Dann klappt das sicher auch mit der »vollen Hütte«. Und wenn am Ende Asmik Grigorian in der Halbzeitpause auf der Südtribüne des Volksparkstadions Salome tanzt, der SalesForce Mann, Herr B., das Ticketing am Mönckebergbrunnen managt und Der Poser im Geiste Liebermans den Videobeweis in der Dramaturgie leitet, dann, ja dann, ist Hamburg wieder ganz oben: Oper und HSV, Hand in Hand, auf dem Weg in die Champions League.

Und diesmal definitiv nicht überschaubar.

P.S.: Am Wochenende hat der HSV 2:1 gegen RB Leipzig verloren.

Thomas Schmidt-Ott

Thomas Schmidt-Ott promovierte über amerikanisches Orchestermarketing, nachdem er in den Marketing- und Development-Abteilungen der Orchester in Boston und Los Angeles tätig gewesen war. Im Anschluss arbeitete er als Leitungsreferent Kultur im Berliner Senat und war Vorstandsvorsitzender der Brandenburgischen Sommerkonzerte. 2003 übernahm er die Position des Chefmanagers für die Orchester und den Chor des Bayerischen Rundfunks. 2007 wechselte er als Programmchef in das Start-up-Team von TUI Cruises. Im Jahr 2020 kehrte er – zum zweiten Mal in seiner Laufbahn – als Direktor zum Deutschen Symphonie-Orchester Berlin zurück. Thomas Schmidt-Ott ist seit September 2025 Mitglied der Direktion und der Künstlerischen Leitung der Komödie am Kurfürstendamm.

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