
Willkommen in der neuen Klassik-Woche,
heute mit ein bisschen Zukunftsmusik, dem Ende des Vibratos, einer Orgel-Sensation und einem glücklichen Gewinner.
Das Konzert der Zukunft

Die Gewichte auf dem Klassikmarkt haben sich verschoben: Der Aufnahmemarkt dümpelt dahin, und viele Künstlerinnen und Künstler investieren eher in ihre Alben als dass sie mit ihnen Geld verdienen – währenddessen boomt die Veranstaltungsbranche. Egal, ob konventionelle Konzerte in intimer Konzentration oder immersive Events. Über diesen Wandel habe ich mich mit der Agenten-Legende Sonia Simmenauer und dem Chef des BDKV, Johannes Everke, im BackstageClassical-Podcast unterhalten: Es geht um neue Wege des Klassik-Konzertes. Anlass ist der neue Preis BOLA des BDKV.
Auch hier findet eine Debatte statt, die derzeit überraschend oft in der Klassik geführt wird: Sollen wir uns von der staatlichen Förderung verabschieden? Erst vor kurzer Zeit warnte Peter Gelb, dass man in der Ära Trump sehe, dass zu viel staatlicher Einfluss auf Kulturveranstalter auch Gefahren birgt und regte Europas Kulturschaffende an, sich von staatlichen Abhängigkeiten zu lösen. Joe Chialo hatte immer wieder weniger Staat und mehr Wirtschaft gefordert, und auch Wolfram Weimer fordert mehr Eigenverantwortung. Everke und Simmenauer debattieren dieses Thema differenzierter: Der Rückzug der öffentlichen Hand aus der Kulturförderung birgt Chancen und Risiken. Der Staat sollte nicht in Konkurrenz mit privaten Veranstaltern treten, gleichzeitig ist es im deutschen Kultursystem unentbehrlich, dass der Staat den universellen Rahmen der kulturellen Grundversorgung sichert.

Problem nicht gelöst!
Ja, es hat sich viel getan an unseren Musikhochschulen, was sexuelle Übergriffe und Machtmissbrauch betrifft. Aber zu sagen, dass die meisten Probleme gelöst seien, ist vielleicht etwas übertrieben. BackstageClassical versteht sich als Debattenmagazin. Vor einigen Wochen hatten wir einen Text der ehemaligen Präsidentin der Musikhochschule Hannover, Susanne Rode-Breymann veröffentlicht, in dem sie den neuen Umgang der Hochschulen mit #metoo beschrieben hat. Nun bringen wir eine Replik der Pianistin Shoko Kuroe: Ja, es sei viel passiert, argumentiert sie – aber der Diskurs verflache zusehends, und die Arbeit an den Hochschulen sei längst nicht abgeschlossen. Außerdem kursierten zu viele gefährliche Narrative – etwa, dass der Einzelunterricht Schuld an Übergriffen sei. Nein, sagt Kurore: Schuld seien die Täter! Wie gut Debatte tut, zeigt, dass beide Autorinnen im gleichen neuen Sammelband vertreten sind, im Jahrbuch Musik und Gender unter dem Titel Genie–Gewalt–Geschlecht.
Ignoriert Ioan!
So viele Leute haben mir in der letzten Woche das Porträt von Ioan Holender aus der österreichischen Zeitung Die Presse geschickt. Darin erklärt der ehemalige Direktor der Wiener Staatsoper den Wienern, denen er seine Karriere verdankt: »Sie sind ein zutiefst unsympathisches Volk, diese Wiener. Ohne jede künstlerische Neugier, geizig, uninteressiert und zutiefst antisemitisch.« Außerdem sagt der Mann, der die Krim für »russischer als russisch« hält, dass er wieder russisch lerne, während die Autorin nahelegt, dass Holender Trump für gefährlicher halte als den Krieg führenden Autokraten Putin. Ich hatte mir fest vorgenommen, Holender in Zukunft genüsslich zu ignorieren. Wir kennen ihn ja, seine Mails, in denen er zuweilen mitleiderregend um Öffentlichkeit buhlt oder wütend »rumpelstilzt«. Ioan Holender hat sein eigenes Lebenswerk längst mit seinem populistischen Hintern eingerissen, seine Provokationen interessieren jenseits von Wien kaum noch jemanden, und die positiven Erinnerung an ihn verlischen mit jedem seiner Zwischenrufe weiter. Aber meine Freunde argumentierten, dass seine Provokationen, gerade in Sachen Russland, dennoch einen Nährboden fänden, dass es noch immer Menschen gäbe, die ihm zuhörten, ja sogar ernst nehmen würden – und dass man all das nicht ignorieren könne. Und so ist dieses warnende Stück Aufmerksamkeit mein nachträgliches Geschenk zu Holenders 90. Geburtstag – einen Nachruf gibt es dafür dann nicht mehr.
Das Apolitische im politischen Wahnsinn?

Wie politisch kann die Kunst sein, wenn die Politik so verrückt spielt in diesen Tagen? Darüber spricht der Bayreuther Meistersinger-Regisseur Matthias Davids im BackstageClassical-Podcast. So viel sei verraten: Sein Zugang zielt weniger auf die politischen Aspekte der Oper als viel mehr auf die Komödie. Davids begründet seine Entscheidung damit, dass die Weltgeschichte aktuell so schrecklich und komplex sei, dass man auf der Bühne nicht dagegen aninszenieren könne. Politik habe heutzutage die Mittel der Bühne für sich entdeckt: Inszenierung, Schein und »alternative Wirklichkeiten«. Eine Antwort darauf sei die Rückkehr zur »inneren Wahrheit menschlicher Vorgänge«. Hier geht es zum Podcast und zum Text.
And the Winner is… Franz
Letze Woche haben wir über diesen Newsletter gemeinsam mit der Privatsektkellerei Geldermann zwei Karten für die Bayreuther Festspiele (»Meistersinger«) verlost. Die Auswahl haben wir dem Los überlassen. Gewinner der Karten ist Franz G. Mich persönlich freut die Wahl, da Franz sich bei uns mit einer wunderbaren Nachricht gemeldet hat: »Warum ich nach Bayreuth will? Erstens: Weil man als junger Dirigierstudent einmal im Leben auf diesem grünen Hügel gestanden haben muss – idealerweise nicht nur mit Picknickdecke, sondern mit Ticket. Zweitens: Weil ich heimlich hoffe, dass die Meistersinger mir endlich erklären, wie man große Kunst schafft, ohne daran zu verzweifeln. Drittens: Weil ich Musik nicht einfach ‚genieße‘, sondern viel zu ernst nehme, um sie nicht auch lieben zu können. Bayreuth ist für mich so etwas wie Hogwarts für Musiknerds: ein bisschen elitär, ein bisschen verrückt – und genau deshalb faszinierend.« Apropos: die beiden Gewinner der Geldermann Festspiel-Cuvées werden per Instagram benachrichtigt. Ich danke allen, die mitgemacht haben (es kamen mehrere Hundert Meldungen) und hoffe, wir sehen uns auch so in Bayreuth oder einem anderen Festspielort.

Personalien der Woche I
Es kommt Bewegung in das geplante Konzert von Valery Gergiev in Italien. Italiens Kulturminister Alessandro Giuli warnte, das Konzert sende »das falsche Signal«, betonte aber auch, dass Kunst nicht zensiert werden dürfe. Er sieht durch die Veranstaltung das Risiko einer Propagandaaktion für das russische Regime. Die endgültige Entscheidung, ob das Konzert am 27. Juli stattfinden wird, liegt beim Veranstalter und dem Präsidenten der Region Campania. Ich setze meine Hoffnung auf die EU-Parlamentarier (unter ihnen auch die deutsche Vizepräsidentin Sabine Verheyen), die auf BackstageClassical-Nachfrage auch eine Anfrage an die Kommission gestellt haben. Europa muss weiterhin Druck ausüben. +++ Der ungarisch-britische Pianist Sir András Schiff wird mit dem renommierten Kunstpreis Praemium Imperiale ausgezeichnet. Das teilte die Japan Art Association am Dienstag in Tokio mit. Schiff erhält die Auszeichnung in der Kategorie Musik und reiht sich damit in die Liste weltweit anerkannter Künstler ein. +++ Die Bayreuther Festspiele sollen künftig einen eigenen General Manager erhalten. Nach Abschluss des Findungsverfahrens empfiehlt der Verwaltungsrat einstimmig, Matthias Rädel als General Manager zu berufen. Das teilten Bayerns Kunstminister Markus Blume und Kulturstaatsminister Wolfram Weimer am Freitag mit. Rädel ist derzeit stellvertretender geschäftsführender Direktor und leitender Controller an der Deutschen Oper Berlin und soll die betriebswirtschaftliche Leitung der Festspiele übernehmen.
Verpassen Sie keine Nachricht aus der Welt der Klassik
Dies ist der vorletzte Newsletter vor der Sommerpause – nächste Woche melde ich mich nochmal aus Salzburg und Bayreuth. Damit sie keine Nachricht aus der Welt der Klassik verpassen, folgen Sie uns bei Facebook, Bluesky oder Instagram. Abonnieren Sie unsere Podcasts bei Spotify oder apple. Und natürlich können Sie uns auch unterstützen –einmalig oder regelmäßig.
Schwerer Aufbruch in Bregenz

Die Bregenzer Festspiele haben begonnen: Mit dem eher nervigen Freischütz und einer unterschiedlich aufgenommenen Inszenierung von George Enescus Oper Œdipe. Georg Rudiger hat die neue Intendantin, Lilli Paasikivi für BackstageClassical getroffen und mit ihr auch über die geplanten Etat-Kürzungen von rund einem Drittel gesprochen. »Wir wollten das Soundsystem auf der Seebühne weiter verbessern, aber das haben wir jetzt verschoben. Ab nächstes Jahr müssen wir jede einzelne Produktion anschauen, weil wir lange im Voraus planen«, erklärte sie. Außerdem musste die frisch vereinbarte, fünfjährige Zusammenarbeit mit dem Wiener Burgtheater für die nächsten zwei Jahre abgesagt werden. Aber jetzt will Paasikivi trotzdem erstmal feiern: »Ich schwimme im Bodensee, fahre täglich mit dem Fahrrad zur Arbeit und wandere auf dem Pfänder. Neben der großartigen Natur gibt es viel Kultur zu erleben in den Städten am Bodensee. Die Menschen hier sind ähnlich bodenständig wie in Finnland, aber noch ein bisschen lustiger als die Finnen. Ich fühle mich wirklich wohl hier.«

Personalien der Woche II
Claus Peymann ist tot. Er war ein anstrengender Künstler. Und ein anstrengender Gast. Ich persönlich verbinde mit ihm einen meiner schlechtesten Moderations-Abende. Peymann war zu Gast bei mir in Bremen, ich wollte mit ihm über seine Bremer Vergangenheit reden. Er wollte darüber sprechen, wie geil er ist! Es wurde ein einstündiges Missverständnis! Und dennoch, Peymann war selber ein Klassiker, und jetzt, da er nicht mehr da ist, fehlt er doch irgendwie ein bisschen. +++ Und auch »Mr. No Vibrato« ist tot – der britische Dirigent Roger Norrington ist im Alter von 91 Jahren gestorben. Norrington galt als einer der wichtigsten Pioniere der historisch informierten Aufführungspraxis. Über Jahrzehnte hinweg prägte er mit seinen Interpretationen von Barock bis Romantik das Musikleben international und setzte neue Maßstäbe insbesondere mit seiner Ablehnung des romantischen Streicher-Vibratos bei Beethoven, Berlioz oder Brahms.
Und wo bleibt das Positive, Herr Brüggemann?

Ja, wo zum Teufel bleibt es nur? Vielleicht ja hier. »Irre, einfach nur irre!« – so heißt es irgendwo im BackstageClassical-Text von Guido Krawinkel. Er war live dabei, als sich Köln im Ausnahmezustand befand: 13.000 Menschen in einer kilometerlangen Schlange vor dem Dom – der Grund: Ein Orgelkonzert. Ich muss gestehen, dass mir der Name Anna Lapwood überhaupt nichts gesagt hat, als Guido mir seinen Text geschickt hat. Inzwischen weiß ich, dass ich damit offenbar zu einer Minderheit gehöre. Über eine Million Follower hat Lapwood auf Instagram, sie spielt am liebsten Filmmusik, und selbst Orgel-Freaks wie Guido erkennen an, dass ihre Auftritte »allererste Sahne« sind. Ich habe mir inzwischen einiges von ihr angeschaut, auch Ausschnitte aus dem Köln-Konzert mit Tausenden junger Menschen als Zuhörern – und ich kann mit diesem Hype durchaus etwas anfangen. Alle Details dazu hier.
In diesem Sinne: Halten Sie die Ohren steif!
Ihr
Axel Brüggemann

