Matthias Davids bläst eine kunterbunte Festwiesen-Kuh auf und erhebt die Bayreuther »Meistersinger« zur Rundum-Sorglos-Oper.
English summary: Matthias Davids stages Wagner’s Meistersinger in Bayreuth as colorful escapism, featuring a giant balloon cow and playful burlesque. Unlike previous political productions, his version avoids deeper reflection. Though creatively recycled, it lacks originality. Musically smooth but unspecific, the show pleases the crowd—but dodges real engagement.
Regisseur Barrie Kosky hat Wagners Meistersinger noch zum Tribunal bei den Nürnberger Prozessen verwandelt. Und wenn Nürnbergs Bürgerinnen und Bürger sich nachts in der Prügelfuge gewaltbesoffen die Rübe einschlagen, ließ er einen bühnengroßen, schwarzen Juden-Ballon aufblasen: Pogromnacht statt Johannisnacht. Das saß, das ging unter die Haut. Das war: genial.
Regisseur Matthias Davids lässt am Ende seiner aktuellen Inszenierung bei den Bayreuther Festspielen zur Festwiese ebenfalls einen Giga-Ballon aufblasen: Eine umgedrehte, kunterbunte Hüpfburg-Kuh (»Milch ist Vertrauenssache« heißt es im zweiten Aufzug auf einem Plakat an einer Telefonzelle). Davids Meistersinger sind bewusst Geschichtsvergessen, wollen Burleske statt Bewältigung sein: Jubel, Trubel, Heiterkeit mit allerhand Rockern, einer doppelten, giftgrünen Angela Merkel (gähn!) und ziemlich vielen Zipfelmützen. Das wackelt, das zieht sich, das ist: ziemlich retro.
Eskapismus und bitte kein Problem
Die letzteren beiden Meistersinger-Inszenierungen in Bayreuth waren hochpolitisch. Katharina Wagner hatte das Stück bis in den aktuellen Bundestag (Hans Sachs als Joschka Fischer) und Kosky in die braune Vergangenheit verortet. Nun sollte offensichtlich Schluss mit Unlustig sein. Davids schenkt den Menschen wieder Unterhaltungs-Zucker, erklärt Oper wieder zum Eskapismus und frönt damit einem vermeintlichen Zeitgeist. In einer Gegenwart voller Kriege und Debatten scheint die Botschaft seiner Meistersinger zu sein: Bloß nicht noch ein Problem! Und genau das ist das Problem.

Klar, es gibt gute Ideen: Während Stolzing am Ende verlockt ist, doch ein Meister zu werden, drückt Eva ihrem Vater Pogner die Meisterkette in die Hand und verlässt Nürnberg Hand in Hand mit ihrem Herzblatt. Ganz nach dem Motto: »Macht Euren Chauvie-Meister-Mist in Zukunft ohne mich.« Schön auch, dass Hans Sachs immer wieder das Bild seiner verstorbenen Frau betrachtet, um die Hormone in seiner Midlife-Crisis zu bremsen (leider ist das Bild aus Reihe 10 schon nicht mehr zu erkennen!).
Überhaupt gibt es viele (manchmal viel zu gut versteckte) Kalauer und allerhand Geklautes: Natürlich die nicht ganz unproblematische Verwandlung von Koskys Judenkopf in eine kunterbunte Kuh, aber Davids imitiert auch Koskys Auftritt der Meister, die Ticks der einzelnen Protagonisten, zitiert die T-Shirt-Insider-Gags der Festspiel-Geschichte (Katharina Wagner erfand das Hemd »Beck in Town«, Valentin Schwarz lässt im Ring fragen: »Who the fuck is Grane?«). Und dass Eva wie ein Schlacht-Ochse in Blumen-Korsett auf die Festwiese getragen wird, hat Davids sich im Horror-Schocker Midsommar abgeschaut. Was fehlt: Eine echte eigene Idee.
Dirigat wie Buchstabensuppe
Dennoch, eine derart gut gelaunte, naive und sorglose Inszenierung scheint den Zeitgeist zu treffen. Das Publikum, das ein halbes Vorspiel lang seine Plätze mit angeschalteter Handy-Taschenlampe suchte, war begeistert. Nichts stört. Nichts zwingt zum Denken. Nichts fordert zur Auseinandersetzung. Fünf Stunden Sorglosigkeit!
Auch Daniele Gatti entspannt im Graben: Sein Dirigat hört sich ungefähr so an: Allesvermischtsichmitallem. Es klingt ein bisschen wie eine Buchstabensuppe, man sucht andauernd das passende Wort – aber immer fehlt irgendein ein A oder O. Gerade die Meistersinger, die vom holzschnittartigen Eklektizismus leben und vom Bach-Choral bis zum derben Volkstanz so ziemlich alles parodieren, bleibt bei Gatti ein einziger Fluss ohne Extreme. Problemlos und kraftvoll der Festspielchor unter Leitung des neuen Chordirektors Thomas Eitler-de Lint. Gatti leitet ein Dirigat, das es den Sängerinnen und Sängern nicht immer leicht macht. Umso bemerkenswerter das Stimm-Ensemble des Abends!
Sänger der Champions League
Allen voran spielt und singt sich Matthias Stier mit seinem Strahlemann-Tenor aus der Nebenrolle des David in den Mittelpunkt. Michael Spyres als Stolzing ist ein unbefangener, mutiger, stimmschöner Natur-Sänger, der seine Phrasierungen stets dem Moment anpasst. Ihm zur Seite steht – strahlend, mit herrlicher Selbstverständlichkeit und zuweilen dramatisch emanzipiert (allerdings sprachlich ausbaufähig) – Christina Nilsson als Eva. Michael Nagy gibt den Beckmesser als zuweilen etwas zu Pop-Song gespülten Beckmesser, und Georg Zeppenfeld ist ein (natürlich sicherer und perfekt singender) Hans Sachs, der eher aus der Gurnemanz-Welt nach Nürnberg gestolpert ist. Ein hadernder, in sich zerrissener, mitten im Leben resümierender Meister, dessen Stolzing-Experiment am Ende für allerhand Unheil in Nürnberg sorgt: Beckmesser zieht den Festwiesen-Stecker, die Kuh verliert Luft, Eva haut mit Stolzing ab – und Nürnberg hat ein Problem.
Aber das ist dem Premierenpublikum an diesem Abend egal. Weiter ging‘s zum Staatsempfang: Friedrich Merz hat sich fürs kommende Jahr erneut eingeladen, Wolfram Weimer erklärt Bayreuth zu den »coolsten und besten Festivals der Welt«, und die beste Nachricht für alle echten Bayreuth-Kenner ist: Nachdem es lange nach Schließung aussah, ist das wahre Festspiel-Restaurant Wolffenzacher auch gerettet worden. Bayreuth, was willst Du mehr?
Zur Kritik der Salzburger Inszenierung von Gulio Cesare hier entlang.
Transparenzhinweis: Axel Brüggemann moderiert das Kinoprogramm und die Open Airs der Bayreuther Festspiele.

